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Leben mit Marcel Proust

An wesentliche Dinge, sollte man sich detail- und bildreich erinnern können. Meint man. Dabei ist einem zumeist im Moment des Geschehens die Bedeutung eines Ereignisses gänzlich unklar. 1995 kaufte ich mir auf jeden Fall zwei Bücher. Vermutlich und wie ich mich kenne erstand ich 1995 ein Vielfaches davon, doch hier soll von jenen beiden die Rede sein. Also? Nicht unwesentlich ist wohl, dass ich zu jener Zeit in Paris lebte. Jeden Morgen ging ich von meiner winzigen Wohnung auf der Île de la Cité zur Bäckerei, die seit Stunden schon die Luft mit ihrem Duft füllte; Pain au Chocolat, Tartelettes au Citron, Baguette, Pain aux Raisins – und wie all die andren Köstlichkeiten heißen mögen, die einen mit ihrem Geruch aus dem Bett treiben, frühmorgens, lange bevor sich Türen zu diesen Verkaufsräumen der Leckereien öffnen würden – in meiner Erinnerung ist ihr Eingangsrahmen Weinrot gestrichen. Vielleicht auch Honigbraun mit einem Stich ins Rote, hier könnte das Gedächtnis trügen. Von der Bäckerei spazierte ich zu jenem Café, in dem ich die Zeitungen durchblättern würde, während ich in Gedanken bereits das nächste Kapitel des Romans ordnete. An einem Tag hielt mich ein Schild auf.  »French books« hatte jemand handschriftlich auf einem Karton vermerkt, hochkant in einer Schütte des kleinen Antiquariats »Shakespeare & Company«, nur der Name erinnerte noch an die großartige Sylvia Beach. Im Innern des Ladens herrschte Düsternis, auch im Hinblick auf die Buchauswahl, die auf den Regalbrettern lagerte. Ich kippte Buch um Buch nach vor, bis ich auf zwei stieß, welche in mir eine Erinnerung wachriefen, ein fernes Gefühl des Vertrauten: Marcel Proust, »Le côté de Guermantes«, Band eins und zwei, »Texte intégral«. Mit Kürzungen hätte ich ihn, dank sei meinem komparatistischen Ich, ohnehin nicht erstanden. Abends dann den Herrn in mein Bett mitnehmen, den ersten Teil aufschlagen, zu lesen beginnen und mich erinnern, dass hier nicht der Beginn einer Geschichte erzählt wird: »Le pépiement matinal des oiseaux  semblait insipide à Françoise. Chaque parole des ›bonnes‹ la faisait sursauter; incommodée par tous leurs pas, elle s’interrogeait sur eux; c’est que nous avions déménagé. Certes, les domestiques […]«  Das war nicht die Sprachvariante Simone de Beauvoirs oder Jean-Paul Sartres, auch nicht Gustave Flauberts, an diesem Herren würde ich mir die Zähne wetzen, zumindest 1995 war dem so, er würde sich also ein wenig gedulden müssen. Zumindest bis der allererste Band zu mir kommen würde, von dem ich wenige Monate davor die Verfilmung gesehen hatte; Schlöndorff, natürlich.  Den Adaptionen Chantal Ackermanns und Raúl Ruiz’, letzterer genial in der Freiheit, die er sich nimmt, ein Bilderbogen, sollte ich erst viele Jahre später begegnen … So stellte ich die Familie Guermantes ins Regal, zwischen Plath und Queneau, erinnere ich mich recht. 

Meine Liebe begann 1996, so steht es in meiner Handschrift am Schmutztitel – nicht zu Swann; und noch nicht zu jenem Ich, das erzählt; doch sie bahnte sich an sie, auf leisen Sohlen, folgte ich dem Ich-Erzähler zu seinen Freunden und Freuden, Odette, Gilberte, Albertine, um ihn wenige Absätze oder Seiten später, erneut erbost aus meinen Laken auf den Nachttisch zu verbannen. Um in der folgenden Nacht wieder mit ihm unterwegs zu sein; las auf Französisch, auf Deutsch; las beide Ausgaben nebeneinander, nahe am Zweifeln. Und beruhigte mich damit, manche Werke bräuchten ihre Zeit, bis sie einem wahrlich Zugang zu ihrem Erzähluniversum gewähren, nur Geduld, meine Süße, und Hast ist der Feind der Liebe. (Oh ja, ich weiß, bei anderen narrativen Welten wiederum ist es eine auf den ersten Blick, ein hell emporschießendes Feuer, welches nach der Lektüre (beinahe oder gänzlich) erlischt; vielleicht flammt es in Erinnerungen noch einmal kurz auf, begegnet man dem Buchrücken irgendwo, ein freundschaftlich, vertrautes Gefühl der Zuneigung, welches einen dazu bringt, jene Buchstaben, welche in einem die Erinnerungen an die verflossene Liebe wecken, kurz zu karessieren, wir kennen einander, du und ich. Ein alter Freund, lange ist es her, zufällig getroffen.)

Nicht mit Proust. Er gestattete es mir nicht. Weder, ihn zu verlassen, noch ihn zu lieben. Sobald ich mich abwandte, haschte er nach mir, und widmete ich mich ihm, stieß er mich zurück. Was für eine vermaledeite Liebesgeschichte zwischen des schnurrigen Franzosen schläfrigen Augen und mir! Seine Suche ärgerte mich, war mir manchentags verhasst, ich wütete gegen ihn, rieb mich an seinen Sätzen, schabte mir die Zunge wund und zugleich – begann ich in sie zu sinken, berauschte mich an Passagen, fand Einsichten ins Erzählen, die mich gefangen nahmen. Mit jedem gelesenen Satz sickerte eine nagende Sorge in mich, niemals würde mir Vergleichbares gelingen, wandte das Blatt und er schrieb, er wisse, er scheitere als Autor, weil ihm nie gelänge, was er ersehne, wandte das Blatt erneut: Sainte-Beuve sei noch schlechter, er werde ihn übertrumpfen, er zweifle wegen der Frerès Goncourt an der Literatur; um gleich danach erneut anzumerken, er selbst werde sicherlich in allem, was ihm vorschwebe, scheitern … wie vertraut ist mir dieses Gestrüpp der Dämonen! 

Ich verliebte mich, rettungslos, in das Erzählen eines längst Verstorbenen von dem Untergang einer Welt, die nicht die meine war, für die ich kein Tendre hatte, die mir als solche nichts bedeutet; um seiner Sätze willen, in deren Klangräumen ich versank, ihre stetig sich verändernde Rhythmik, im Wechsel von puristischer Klarheit zu kaskadischem Fließen, verdichtende Strudel, ausufernder Wildwuchs, bevor einem gleich danach das gerade noch opulente Bankett – wohl durchdacht – mit Wassereis und Sorbets angereichert wird, um Gaumen und Magen zu erfrischen, auf dass man den nächsten Gang erneut genießen könne.

Eine Liebe, die seither Bestand hat, denn Marcel Proust erzählt; aber er erzählt nicht vor, trichtert und träufelt nicht ins Ohr. Vielmehr öffnet er Räume; diese zu betreten, bleibt uns überlassen. Oder wie Marcel Proust selbst es formuliert: »Die Atmosphäre dieser Freundschaft ist die Stille, mehr als das Wort, denn wir sprechen für die anderen, aber wir schweigen für uns selbst.« Zahllos die Passagen, an denen man, durch einen Satz, ein Wort, sich plötzlich in der eigenen Imagination an andren Orten befindet, während die Augen aus Gewohnheit noch ein wenig weitertrotten, bevor man sie zurückbefiehlt, um Innenräume zu besuchen. Auch das lehrt Proust. Schon im allerersten Satz, der mit den nachfolgenden den Charakter eines Spiegelsaals aufweist: »Longtemps, je me suis couché de bonne heure.« In der Übersetzung wird dies schmerzlich zu »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«; zwar durch eine Fußnote ergänzt, die verweist und verweist und verweist und verweist, letztlich jedoch über ein Schlag-nach-bei hinausgehend nichts zu besagen vermag; niemals reicht das deutschsprachige ›lange Zeit‹ an die Ouvertüre des ›Longtemps,‹ heran, Komma nicht vergessen!, Longtemps, je me suis couché de bonne heure. Ja. So wie der Erzähler Marcel Prousts früh das Bett aufsucht, um sich die Stunden des eben vergehenden Tages und zahlloser anderer des Davor nochmals herbei zu erzählen, sie ein weiteres Mal zu fühlen, bevor er die letzte Begegnung, den zärtlichen Gute-Nacht-Kuss der Mutter genießt, erzählte ich mir von Kindheit an jede Nacht (und tags, ich gebe es zu) zahllose Leben; die nicht die meinen waren. Ja, diese Suche nach der Zeit, ob nun verloren oder nicht, ist ein Tanz mit einem zweischneidigen Schwert; gibt man nicht Acht, endet er schmerzhaft. Da helfen auch keine lieblichen Bilder, wie es die argentinische Autorin Claudia Piñeiro in dem jüngst in deutscher Übersetzung erschienen Roman »Ein Kommunist in Unterhosen« versucht, indem sie Erinnerungen mit Matroschkas vergleicht; beginnt man eine aufzudrehen, steige aus ihrem Bauch die nächste und immer so fort, und es wäre hinzuzufügen, dass die Puppenkörper der Erinnerung nicht kleiner werden, ihrem Gesicht mangelt es oft an Liebreiz, sie ähneln einander nicht einmal, weshalb während des Akts des Öffnens keinesfalls vorherzusehen ist, was einen hernach anstarren wird, Fratze, Totengrinser, Zähnegrauser,  Milchtöter, Krallenköter – vielleicht auch bloß das sanfte Lächeln eines Schafes. Sich zu erinnern, ist ein Tanz mit zweischneidigem Schwert, und manchmal fällt man dabei mitten ins Haifischbecken, aus dem man alsdann mühsam klettert, um erneut in der Gegenwart zu sein, die einzige Zeit, in der Nähe zu fühlen ist; auch wenn nicht nur ihr Wirklichkeit innewohnt; wie Proust beweist. Nehmen wir doch die Realität des Stolperschritts. Durch solch einen wankt die erzählenden Figur Prousts aus dessen erzählerischer Gegenwart in ein Weitergehen in der Erinnerung, in die Umgebung jener Begegnung zu deren Beginn er gleichfalls stolperte; Jetzt und Einst wird eins, die Zeit findet sich wieder, wenn auch durch das Milchglas der Gegenwart getönt. Doch nicht nur die Vergangenheit ist mit dem Geruch und dem Geschmack der Gegenwart verwoben, auch die Gegenwart unentrinnbar mit jenem der Vergangenheit. So gebiert sich Zeit stets aufs Neue, erinnerte und gegenwärtige Momente werde im Eins-Sein zu etwas Drittem.

Und Proust macht so noch etwas Anderes deutlich: Es ist einzig die Entscheidung unserer Imagination, welcher Zeit wir welche Dauer geben, welche Momente wir uns wie eine Unruhe wieder und wieder in die Gegenwart holen. So werden Zeit und Wirklichkeit nichts uns Auferlegtes, sondern sie kommen aus unserem Innersten, bilden sich aus vergegenwärtigten Erinnerungen. Ihre Töne, ihr Duft, ihre Substanz legen sich auf die Gegenwart, die wir anders empfänden, wären wir Goldfische und uns all dies nicht präsent. Sind Zeit und Wirklichkeit nichts Objektives, uns Auferlegtes, sondern etwas, das aus unserem Innersten kommt, weil jedes Wiedergefundene einem in der Gegenwart das Empfinden des Jetzt verändert, es mit dem Vergangenen vermengt, seinen Geschmack, seinen Geruch verändert, schaffen wir aus Vergangenem und Gegenwärtigen eine neue Zeit, so vermag just jene, die unsere zu sein. Matroschkabedingt oft ein riskantes, trotzdem ein faszinierendes Manöver.

Momente, deren Duft und Klang, deren Klimate alles zu füllen vermögen, was ist, suche ich, drehe eine Matroschka auf, aus der mich Krallentatzen anfahren, sehe ihnen ins Gekrümm, lese seine »Recherche«, stolpere durch die meine, nehme ihn mir mit, wohin auch immer ich auf Forschungs- oder Lesereise gehe, reibe mich wund, staune über die Schönheit seiner Sprache, lasse sie mir auf der Zunge zergehen, und lerne. Meine Wirklichkeit gestalte ich mir, Marcel oftmals an meine Seite gebettet, darüber darf er sich wahrlich nicht wundern, dass ich ihn heraus reiße, aus seinem Schlaf, ihm gebiete – wenn er mich schon nicht gehen lässt –, sich mit mir zu unterhalten, über das Schreiben, den Roman, streng wie der Bau einer Kirche, das Erinnern, die Sinneswahrnehmungen und die Zeit, welche verloren ist. In meiner Hand ein Stück Zimtrinde, die mir ein Freund schenkte – ach, mein olfaktorisches Stolpern, eine Matroschka, auch das, nie weiß man, was einen im Bauch des Bauches erwartet, und ich reibe die Rinde, bis ihr Duft mich erneut einhüllt, einem Versprechen gleich.