· 

Wozu schreiben?

Denn, wer Geld verdienen will, sollte sich keinesfalls an Ausnahmen der Branche wie Rowling zum Beispiel orientieren – außer er oder sie liebt die alsbald und dafür mit Sicherheit eintretende Frustration . Mit Literatur wird kaum einer reich. Der Schreibwunsch ist eine Existenzform, ich bin und bleibe Literatin, am Schreibtisch, im Bett, beim Einkauf, unter der Dusche und wende ich den Kompost. Es schreibt in mir. Anders kann ich in dieser Welt nicht sein. Es ist die Liebe zur Sprache, zum Malen und Formen mit ihr. Und darüberhinaus eine tiefe Sehnsucht nach Sichtbarkeit, nach jener Form der Liebe, die einen als Du wahrnimmt. Wie Proust treibt es mich um: »Le principal trait de mon caractère: Le besoin d’être aimé et, pour préciser, le besoin d’être caressé et gâté bien plus que le besoin d’être admiré.« 

Vermutlich besteht hierin auch ein Zusammenhang zu den Anfängen meines Erzählens, welches zu Beginn ausschließlich ein privates Erleben war. Kein Wunder, bedenkt man, dass ich höchstens vier war. Ich erdachte mir eine Welt, um der Stummheit um mich zu begegnen; und es geschah in Anlehnung an eine der wenigen Situationen, die ich kannte, und die angenehm waren: das großväterliche freie Erzählen, das mütterliche Vorlesen der Kinderbücher, die wir uns in der Bibliothek ausliehen – und immer zurückgeben mussten. Sich trennen. Dass jedes Mal aufs Neue weitere Geschichten ausgewählt werden durften, tilgte den Schmerz der Rückgabe nicht. Einzig das Weitererzählen. Und in diesen Momenten genügte ich, unantastbar, Herrin über ein Universum. Daraus eine Überlebensstrategie zu kreieren zeugt von kindlicher Kraft und einem unzerstörbaren Lebenswillen. Ich konnte für aller Augen anwesend sein, ohne da zu sein; es fiel den anderen auch kaum auf – erst im Schulunterricht, da brachte es mir den Vorwurf ›beinahe autistisch‹ ein: Niemals schaffe dieses Kind eine Matura … Meine Mutter ließ es sich, rund zwanzig Jahre später, nicht nehmen, jener Lehrerin mein mit Auszeichnung bestandenes Doktorat unter die Nasen zu reiben. Lassen wir die eklatanten Mängel des Bildungssystems, welches normierte Kinder ersehnt, beiseite, es würde hier zu weit führen, nur so viel: Mit großem Vergnügen las ich Jahrzehnte später Ähnliches von KollegInnen, tauschte mich mit ihnen über dieses erzählerisch vermehrte Leben aus, das andere nicht nachvollziehen konnten und das mir doch das Natürlichste zu sein schien. 

Erstmals als 7-jährige entdeckte ich, dass andere dieses Sich-Selbst-Erzählen nicht zu tun pflegen. Mit großem Erstaunen, Erschrecken sogar, denn: Womit vertrieben sie sich die Zeit? Was um alles in der Welt erlebten sie, wenn sie nichts erlebten? Und wie bewältigten sie Ereignisse, die belastend waren, gab es in ihnen kein Erzählen? Es ist mir bis heute ein Rätsel. Gegen ihre Armut möchte ich niemals mein Leben in tausenden Welten eintauschen, mein Vermögen alles zu sein, indischer Mogul und Putzfrau, Entdeckerin der Zertrümmerungssterne und Obdachloser, Kriegsreporter und russische Kleinbäuerin: Ich muss mich nicht entscheiden, weder für ein Geschlecht, noch für ein Land, nicht einmal für einen Beruf oder ein Alter. Wie unfassbar famos – denn ich scheitere ja schon an der Auswahl aus dem Speisenangebot in einem Restaurant. Jede Entscheidung für ein einziges Leben zöge das ›Nein‹ zu allen anderen Varianten nach sich –… das Thema meines allerersten Romans, »morgen, vielleicht«: ›Ich-will-sein‹ … 

›Ich-will-sein‹ oder auch ›Ich-werde‹ ist in unserer Gesellschaft allerhöchstens noch tagträumerischen Kindern vorbehalten, keinesfalls Erwachsenen, und unsere Umgebung tut sich schwer damit, hinzunehmen, dass dieser Zustand dem Beruf der Künstler/innen immanent ist: Wann ist eine Literatin eine Literatin? Bis zu welchem Zeitpunkt spottet ihre Umgebung darüber? Genügt die erste eigenständige Publikation? Bedarf es eines Literaturpreises? Und welcher ist groß genug? Nein, die Gesellschaft hat nicht darauf gewartet, dass wir uns hinsetzen und erzählen, darstellen, ihr einen Spiegel vorhalten, ganz im Gegenteil! Sie kommt ganz formidabel ohne uns aus! Ginge es nach ihr, sollten wir tunlichst die Klappe halten. 

Selbst wer bereits etabliert ist, zumindest in der Außensicht, stellt eines Tages dennoch fest, die alte Sehnsucht ›Ich will sein‹ bleibt einem auf der Schulter hocken, wie ein Djinn, und flüstert, ›Das nächste Werks soll besser gelingen, weniger scheitern, sicher werde ich mit meinem nächsten Werk noch näher an die ursprüngliche, imaginierte Vorstellung heranreichen, ich werde schreiben …‹ 

Obsessiv, ja. Anders lässt sich in meinem Fall mein Tun nicht bezeichnen: Es ist ein leidenschaftliches Sprachgestalten, ein besessenes Schreiben. Bewunderung? Erreicht mich nicht, Rezensionen überfliege und vergesse ich. Mich treibt die Liebe zur Literatur um, und eine tiefe Sehnsucht nach Sichtbarkeit, nach jener Form der Liebe, die einen als Du wahrnimmt, danach meinen Zeitgenoss/innen etwas zu schenken und vielleicht auch in hundert, zweihundert Jahren noch der Lektüre für würdig befunden werden, und das schönste Geschenk sind mir Briefe, Mails: Einmal, vor vielen Jahren, sagte mir ein Leser, die Lektüre haben ihn im Innersten berührt, denn ich hätte seine Geschichte erzählt. Wie ich – erstens eine Frau, zweitens gerade mal Anfang dreißig – diese hätte wissen können, unerträglich sei ihm das Lesen stellenweise geworden und andererseits undenkbar, mein Buch wegzulegen, in dem seine Geschichte stand: der Tod seiner Frau – und in den Augen aller anderen: sein Unvermögen zu akzeptieren, dass sie nicht mehr an seiner Seite war; dabei sei sie doch da, Tag und Nacht und um ihn, keinen einzigen lebe er ohne sie, jeder werde ihm ein permanentes Gespräch mit ihr. Wie für Albert im Roman »Der Unschuld Verlust«. Dass ich ihn verstünde, nehme ihm den Atem! – Ja, es sind solch kleine Erzählungen, Einblicke wie diese in Innenwelten eines mir gänzlich Fremden, die mir tausendfach zurückgeben, was ich in mein Schreiben lege. Sie machen meine Arbeit mir zur schönsten Tätigkeit der Welt.