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Lust & Last. Oder: Der nötige Blick zurück

Manchmal wird einem dennoch das selbstgewählte Arbeitsthema im Durchwühlen des Recherchematerials zur Bürde – wie während der Arbeit an »¡Leben!«, ein Faction-Roman, zur Verfolgung und Ermordung Homosexueller während der NS-Zeit, Tage, Wochen in Archiven, Gedenkstätten schleichen sich in Träume des Nachts; oder um »Das Hospital zum Guten Ende« zu bauen: Fassbomben auf Aleppo, ein Stadt in Schutt und Asche – solches Bildmaterial begleitet einen in den Supermarkt, wo man das Nötigste einzukaufen hat, verwirrt steht man mitten im Alltag der anderen, findet sich nicht zurecht;  siebzehn Mal nachts alleine zuhause die Eingangstür kontrolliert: Ist sie wahrhaftig verschlossen? Nicht nur die Drohanrufe wegen eines Essays und diversen Postings zum Thema Rassismus verursachen Schweißausbrüche, der Schreibakt selbst lastet. Hier hilft nur festhalten, es so ruhig wie irgend möglich auf die Seiten betten, im Erzählen ebenso wie in  Reflexionsessays – und eine tolerante Familie, die einen durch diese Arbeitsprozesse begleitet, da sie versteht, was man zu tun beabsichtigt und weil sie – wie auch man selbst – weiß, es wird wieder vergehen. Diese Bilder und Reflexionen bedürfen der Verarbeitung, aber sie bleiben dennoch die Traumata der anderen. Wir hingegen benötigen bloß Rituale, um mit ihnen leben zu können. Solche sind, wenn es erst in einem herumschreibt, aber noch nicht nach außen dringen mag, so verschieden wie Schreibtemperamente:

Hemingway spitzte 20 Bleistifte; Saint-Pol Roux legte sich ins Bett; Willa Cather las einen Abschnitt der Bibel; Stendhal eine Stunde im Code Napoléon; Rilke roch an Zitronen; Celan knetete Platanenrinde; Flaubert bedeckte das leere Blatt mit Gedankenskizzen, sonst konnte er nicht schreiben; Kleist murmelte vor sich hin im Selbstgespräch, selbst bei Essenseinladungen – und ich? Ich beginne eine Tätigkeit, die jederzeit unterbrochen werden kann, keine geistige Präsenz erfordert, die eher einem Schlendrian gleicht … Rosen zurückschneiden, den Innenhof fegen, den Gartenweg oder was auch immer ansonsten ins Auge drängt. Bis er da ist, der erste Satz.

Danach bedarf es zumeist nur des morgendlichen Teekochens, eines Daily Journals, der folgenden Wahrnehmungsstudien, alsdann fünfzehnminütiger Lektüre, laut gelesen, hintennach den letzten Absatz meines eigenen, vortägigen Schreibens, der nachfolgenden Stichworte und es kann weitergehen, der Weg hinein – kleiner Blick nach links auf den Bauplan – ist bereitet, ich bin nicht ich … Und die Ausstiegsszenarien? Teetasse spülen, Schreibtisch aufräumen, Essen zubereiten – die Alltagsmanöver erden und führen zurück: Ich bin Ich, der Reflexionsessay schließt den abendlichen Kreis.

 

Der benötigte Blick zurück

 

Im Kontrast zu Lots Frau, die entgegen der Empfehlung auf das brennende Niniveh, den ehemaligen Lebens- und Arbeitsraum, zurückschaut und daher erstarren muss, ist für uns Literat/innen der rückwärtsgewandte Blick, den jede poetologische Auseinandersetzung benötigt, schwierig, doch hilfreich, insbesondere wenn man bedenkt, dass diese Bestandsaufnahme des Gewesenen, selbst unter Einräumung einer poetologischen Vision, bloß eine Annäherung an das eigentliche Tun sein kann, ein kurzes Innehalten, um alsdann erneut weiterzuschreiten. 

Mein bisheriges Oeuvre – darf ich es so nennen? Ich bin mir nicht sicher, es klingt mir trotz des Adjektivs zu abgeschlossen, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Jedenfalls stelle ich fest, dass ich mit jedem mehr zur Romancière werde. Es ist die Langform des Erzählens, in der ich mich zuhause fühle, neben dem Essay. Wie die meisten begann ich mit Lyrik, ging von ihr zur Kurzprosa über, relativ bald zum Roman – und je älter ich wurde, desto umfassender werden meine Arbeiten, und ich stoße an meine Grenzen soll ich eine Kurzgeschichte erarbeiten. Habe ich mehr zu sagen? 

Nein. 

Nicht daran liegt es. Sondern vielmehr an der Art des Erzählens, die sich verändert. Ich tue mir zusehends schwerer damit, im sogenannten Telling verharrend eine Innerlichkeit oder eine Veränderung in einer Protagonistin, ihren Beweggrund aufs Papier, in Aug und Ohr meiner Leser/innen zu knallen. Es interessiert mich als konstatierende Form des Erzählens mit fortwährender Bevormundung des Lesenden nicht. Das Showing, also das Darstellen, bedarf jedoch des Erzählraumes; und der Auswahl: Welche Momente greift man heraus, weil sie symptomatisch sind, sich in ihnen mehr als das eigentlich Erzählte spiegelt? Wie fasst jemand nach dem Henkel einer Tasse, der gerade etwas Erfreuliches, Schönes, Erschütterndes, Tödliches erfahren hat? Findet das Greifen alsdann überhaupt noch statt? Oder verharrt die Hand irgendwo mitten in der Bewegung? Findet sie alsdann noch den Weg zurück in die ursprünglich intendierte Gebärde? Oder führt sie eine andere aus? 

Diese Art des Schreibens bedarf der Studien, das eingangs erwähnte Inkorporieren, bei dem ich meinen Leib einer Figur leihe, aber ebenso einer ständig trainierten, sich weiterentwickelten Wahrnehmung. Tägliche Beobachtungsstudien sind die Folge, der Sprachmuskel hat elastisch gehalten zu werden, ähnlich wie Primaballerinas ihre Dehnungsübungen an der Stange absolvieren oder Violonisten ihre Fingeretüden; eine längere Pause darin ist undenkbar, sie würde einen zurückwerfen; und ausreichend Schlaf wird zum Lebensprinzip, ohne ihn wird mir die Wortsuche zur Qual – um vom Nebel zu erzählen, ohne ihn zu nennen, um die kleine mimische Veränderung in einem Gesicht zu erfassen, in der sich das Finale, welches sich siebzig Seiten später darstellt, bereits ankündigt …

Ja, diese Form des Erzählens bedarf des Raumes, sie ist eine sehr bildliche, filmische geradezu, bei der die Kopfbilder in aller Deutlichkeit in Sprache gegossen zu werden haben, sodass sich über Mimik, Gestik, Körpersprache das Innere gestalten und verstehen lässt, damit man lesend sieht, was ich sehe, was ist – oder zumindest etwas Ähnliches, denn bei dieser Form literarischer Ausgestaltung, die bewusst mit Leerstellen arbeitet, spielen Subtexte eine relevante Rolle, zudem hat die Verflechtungen des Erzählten in jeder Szene in den vorhergehenden vorbereitet zu sein … – damit die Kugel, die abgeschossen wird, auch geladen war, sonst würde sie nie ihr Ziel erreichen: den Leser, die Leserin.