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… im Mittelpunkt aller Erzählungen: das Leben!

Alle Geschichten sind bereits erzählt: Liebe und Hass, Geburt und Tod, Wahnsinn, Leben, Sterben, von Verrat und Vertrauen, vom Hoffen und Enttäuschen – ist ihr Kern, welche Melodien und Musterkombinationen sich darum herum weben, welche Verbindungen sie untereinander eingehen, das sind die Schrauben an denen sich noch drehen lässt. Es geht folglich  primär darum, sie anders zu erzählen. Erkennt man dies, nimmt die sprachliche und strukturelle Ausgestaltung immer breiteren Raum ein, ihre Verbindung zueinander, ihre Korrespondenz mit dem Inhalt wird zum fokussierten Element des Schreibakts. 

Es macht wahrhaftig einen essentiellen Unterschied, ob ich einer Figur zugestehe ›Ich‹ zu sagen, ob sie das Verb ›müssen‹ verwendet oder im Passiv spricht, ob ein Kapitel, dessen Inhalt zum Beispiel 1939, also nach dem Anschluss Österreichs ans Dritte Reich, im Perfekt erzählt wird, was korrekt wäre, oder im Imperfekt: gleichsam denkbar, oder ob ich es im Futur II darstelle, eine Zeitform, die ich in »¡Leben!« hierfür wählte, da dieses Kapitel unserer Geschichte nicht abgeschlossen ist, es sich wiederholen könnte. 

Die Frage, ob das Wort ›nur‹ oder ›bloß‹ an einer Stelle zu verwenden ist, der unterschiedlichen Klangfarbe wegen, oder wie ich den Terminus ›Kopf‹ umgehen kann, weil seine Aussprache im Deutschen eher eine Fratze darstellt, denn jenen Körperteil, der die anderen steuert, in welchem die Denk- und Fühlprozesse vonstattengehen, um sich alsdann physisch einzuschreiben, in dessen Mimik sich Wesentliches abbildet. Und ein Punkt ist kein Komma und auch keine Strichpunkt – das Erzählen wird zur spannenden Reise, die Korrekturarbeiten gefräßige Tiger, die stetig mehr Zeit verschlingen. Das bloße Herunterklopfen einer Handlung, von A nach Z durcherzählt, hingegen finde ich derart langweilig, man möge es mir  bitte ersparen.  

 

Zum Exempel: »Martiniloben«

 

Ich sagte zuvor, jede poetologische Betrachtung sei ein Blick rückwärts. Erlauben Sie uns diesen nochmals exemplarisch werfen, auch um in einer Gegenwart anzukommen.

Ich begann die Arbeit an »Martiniloben« im Herbst 2015, der Roman wurde am 5. September 2016 an die Buchhandlungen ausgeliefert. Ein knappes Jahr.

Vier Ingredienzien stellten die Basis dar: 

Eine Frau kehrt von einer Arbeitsreise ins Ausland zurück. Es ist ein Heimkommen an einen Ort, der noch kein Heim ist. Zu einem Partner, der kaum mehr einer ist. Sie verlässt noch einmal, quasi exemplarisch, die Hauptstadt, wo ihr Flieger landete, um durch das einst Altbekannte aufs Land hinauszufahren, wo sie nun wohnt. Fortgehen, Aufbrechen. – Ankommen? Vielleicht. 

Ich fuhr im Zug von einer Lesereise retour, neue Fahrgäste stiegen zu, ein junger Mann, eine schlanke Frau, ganz hübsch ihr Gesicht – seine Freundin wohl?, dahinter kam eine sehr rundliche, üppige weitere Maid. Sie nahmen im Großraumwaggon Platz. Innerhalb weniger Minuten fokussierten alle Blicke jene Dralle, fast schon fette Frau, die eine umwerfende Weiblichkeit ausstrahlte – es war schlicht atemberaubend. 

Im September 2015 arbeitete ich mit einem Bildenden Künstler zusammen,  wir bereiteten einen gemeinsamen Abend vor, erzählten von unseren unterschiedlichen Bildsprachen, diskutierten Gestaltungsprinzipien sowie unsere Reflexionen zu den jeweiligen Kunstsparten, und er erwähnte, ihn interessiere einzig eine Kunst, die Antwort auf unsere unmittelbare Gegenwart zu geben vermöge. Ich sagte, da habe er es gut. Kurzgeschichten seien schwer am deutschsprachigen Markt unterzubringen, der Roman jedoch schwerfällig und bedürfe langer Arbeitszeit, der Reifung, er könne kaum ein Werk zur Gegenwart sein. Wir wechselten das Thema. Mir jedoch ging das Gespräch nicht mehr aus dem Sinn. 

Ich schrieb einen Essay zu unserem Umgang mit den Asylwerber/innen, die in Mengen ins Land strömten; durchaus vorhersehbar, hatte man ein offenes Auge für die Verhältnisse in Jordanien wie Türkei gehabt. Wenig später erhielt ich die ersten anonymen Drohanrufe: Ich würde mich schon noch anschauen, wenn sie vor meinem Haus stünden, oder führe ich das nächste Mal nach Wien und würden ›die‹ mich vergewaltigen, dieses ›Drecksgesindel‹, welches ich da willkommen hieße – und würden ›die‹ es nicht erledigen, würden ›sie‹ es gerne übernehmen. 

Damit ich schwiege, sagten sie nicht. Damit ich Unterwerfung lerne, sagten sie auch nicht. Doch auf beides lief es hinaus. Ich hingegen bekam eine elendigliche Wut. Mir den Mund verbieten? Niemals. 

Und mit dem mir eigenen Trotz dachte ich, das Einzige, was du wahrhaftig kannst, ist schreiben, das ist deine Waffe? Na dann, leg endlich los, verdammt nochmal! Doch davor war noch ein Nachsinnen gefragt, um alle Fäden zusammenzuführen, die sich aufdröselten, ihre Schlingen zogen, einander alsdann kreuzten sogar:

In »Unzeit« hatte ich versucht, das letzte Jahrhundert in Erzählungen einzufangen; in »Betty Paoli« den Blickwechsel einer heutigen Literatin auf diese bekannteste Lyrikerin Österreichs des 19. Jahrhunderts, die mittlerweile gänzlich vergessen ist. Was unterscheidet, so fragte ich mich, den Gegenwartsfokus dieser Arbeiten von einem Roman, der einzig unsere Zeit in den Blick nimmt? Und wie hätte ein solcher Roman beschaffen zu sein? Ich erinnerte mich an eine meiner Lesereisen, die mich im Sommer 2015, als Fliehende aus Afghanistan, Syrien den Hauptbahnhof belagerten, über diesen führte. An Taschen und Säcke. Fortgehen, stranden, vielleicht Ankommen. Ich suchte mir jene Erzählung über das Ankommen heraus: eine Frau, die aufs Dorf zieht; eine andere Frau mit personifizierter Weiblichkeit; Flüchtlinge, die zu tausenden gleichsam über Nacht in unser Land kommen und es vor eine neue Herausforderung stellen; jene Fliehende auf den Gleisen eines Bahnhofs liegend, im Grenzgebiet Österreich-Ungarn, ein bewaffneter Soldat streckt die Hand ins Bild – der Shitstorm, welcher auf den unzureichenden Bildausschnitt folgte, die Fehlurteile aufgrund eines zu eingeengten Fokuses … 

Und ich begann zu schreiben. Wenige Tage danach wurde mir an einer Szene deutlich, dass diese Gegenwart bei Erscheinen bereits Vergangenheit wäre, genau genommen um ein Jahr; denn mittlerweile hatte ich einen Vertrag unterschrieben, und da jener Roman die Gegenwart ins Auge fasse, habe er bald publiziert zu werden: Erscheinungstermin 5. September, Druck Anfang August, Abgabe final Mitte Juli, erstmals ans Lektorat März/April. Klingt lang, ist kurz. 

Erneut an den Anfang zurückkehren, ich schrieb in fliegender Hast, nachts von Nachrichtensendung zu Doku, Recherchegespräche vereinbaren und führen, Zeitungen studieren, Magazine, Social Media Foren. Ich erzählte nicht, was ich wahrnahm, sondern überlegte, was daraus entstehen würde, änderte sich die Richtung unseres Umgangs mit den Ereignissen nicht. Die Wahlen hatten bedacht zu werden, Trump galt mir als 90% sicher, die Rolle der Türkei war nicht zu unterschätzen, und wie würde Putin weiterhin agieren, wäre das österreichische Volk in der Lage den extrem rechten Präsidenten zu wählen, wie spitzte sich die Situation in Frankreich, in Deutschland zu? Und was würde all dies hinsichtlich des keimenden Hasses in meinem Land gegenüber den Asylsuchenden bedeuten? Würde er sich weiterhin in hohem Ausmaß einzig in Form von Gerüchten und Bosheiten, im Kappen jeden Kontaktes auswirken? Wer stürmte die Waffenläden und wer erstand sogenannte Polen-Böller? Würden all die Brandbeschleuniger, seit längerem schon ausgelegt, bald zünden? Oder erst in drei, vier Jahren? 

Es folgten intensive Monate, der Verleger wollte eine finale Seitenzahl wissen, ich, mittlerweile in etwa in der Mitte meines Romans, konnte sie ihm nicht nennen, die Pressesprecherin ersehnte einen Klappentext, wir wussten noch immer keinen Romantitel, und ich hatte das Ende noch nicht, konnte es nicht einmal ahnen. Ich wusste im Zentrum stand auch die Frage, ›was ist eine Frau?‹; weshalb fällt es uns so schwer, divergierende Frauenbilder zu akzeptieren? Warum echauffieren wir uns bereits über rein physische Differenzen – die eine schlank, die andere prall, der dritten drängt man die Verhüllung ihrer Weiblichkeit auf. Gehst du ›so‹ auf die Straße, darfst du dich nicht wundern, passiert dir etwas. Das hatte ich noch als Kind gehört, nicht als Scherz oder Drohung, sondern als ernsthafte Meinungsäußerung, und es war nicht von Miniröcken oder tiefen Ausschnitten die Rede, hingegen von Jeans und einer Bluse, die erahnen ließ, dass darunter Haut lag. Wie viele Jahre zogen zwischen solchen Mahnungen und den Kopftüchern, wallenden Mänteln der Musliminnen ins Land? Kaum dreißig. Nachdenken, recherchieren, mich umhören, Interviews führen, insistieren, nachhaken – dazwischen mal Hoftor und Haustür kontrollieren. Und schreiben wie besessen, zehn, elf, zwölf Stunden täglich …

Hat es sich gelohnt? 

Ich weiß es nicht. 

Der Roman erschien am 5. September. Trump wurde dennoch gewählt und auch der extrem-rechte Präsidentschaftskandidat gilt uns Beobachtenden in unserem Land bedauerlicherweise mehr als wahrscheinlich, der Verein, der sich in meiner Region um die Betreuung der Asylwerber/innen kümmerte, ist minimiert, den Deutschkurs konnten wir nach einem Jahr und drei weggebliebenen Lehrenden zu zweit nicht mehr aufrecht erhalten. Wir waren müde – ich war müde. 

Und mürbe. 

Zum ersten Mal in meinem Leben beschloss ich, nach Erscheinen des Romans »Martiniloben«, nicht sogleich den folgenden zu erarbeiten. Eine Pause. Ich brauchte dringend ein kleines Innehalten. Und dass der nächste in einer Erstfassung schon im Laptop ruht, beruhigt mich.

Ja, das Schreiben entlang einer Gegenwart, in die Zukunft gedacht, ermattet. Und dennoch halte ich es für sinnvoll, im Roman auch unsere Zeit darzustellen, eine Auseinandersetzung mit aktuellen Themen zu fördern. Jenseits von Agitprop. 

 

… und träumen von einer Welt …

 

Befragt nach meinen poetologischen Visionen, fällt eine Antwort sogleich: 

Die Hoffnung, dass der durchschnittliche Österreicher, die durchschnittliche Österreicherin mehr liest als ein Buch im Jahr, weil ihnen in und für ihr Leben Kunst etwas zu sagen hat. 

Die Hoffnung, dass kritische und komplexe künstlerische Arbeiten, die nicht mit einem Mindestvokabular auskommen, eines Tages vielleicht nicht mehr Minderheitenprogramm sind und einzelne Termini, die nicht zum Alltagswortschatz jedes Zeitgenossen, jeder Zeitgenossin gehören, keiner ewigen Diskussion im Lektorat bedürfen, sondern – als Vielfalt in der Sprache – ihren Weg zurück ins Verständnis finden. 

Die Hoffnung, dass die Kulturpolitik sich einmal nicht rückwärtsgewandt bewegt, Mozart, Salzburger Festspiele und Sissi genügen dafür als Aushängeschild, Großevents wie Eurovision Song Contest & Co sind obendrein einfacher zu vermarkten, sondern dass sie begreifen: eine Kulturnation bedarf einer lebendigen, gegenwärtigen Kunst, die in vielfältiger Weise ihre Funktion für die Gesellschaft wahrnimmt: als Vordenkerin, als Mahnende, um die eigenständige Reflexion über Lebensinhalte und -belange zu fördern; als Sprachmächtige, um der Kommunikationslosigkeit entgegen zu treten; als Anregende, um der Ohnmacht zu begegnen; als Traumnährerin, um Visionen im Hörenden und Betrachtenden bewusst zu machen; als tröstende, erfreuende und ermutigende Begleiterin durch schöne und schwere Tage. 

Denn lebendige Kunst ist lebenswichtig, sie nährt und stärkt, sie unterhält und erfreut, sie entspannt und regt an. Hoffen wir, man lässt sie uns am Leben, die Kunst, und uns alle mit ihr.