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Vom Einfall und anderen Hindernissen … – oder »Requiem«

Oft stellen mir Leser/innen in Werkstattgesprächen oder in ihren e-Mails die Frage der Inspiration: Woher ich denn den Einfall zu diesem oder jenem Werk hätte. Und je mehr Jahre im Schreiben vergehen und je öfter ich darauf antworte, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, es bleibe stets der Versuch einer Antwort.

Nicht bloß weil es vom Ideenkeim bis zum final realisierten und gedruckten Werk ein weiter Weg in zahllosen verschiedenen Schritten und über einige Hürden ist. Bedenkt man, wie viele winzige Splitter bereits für das Entstehen einer Idee nötig sind, wundert es einen doch, dass es sie überhaupt gibt, diese literarischen Einfälle, die sich aus vielen Mosaiksteinchen irgendwann auch noch zu einem Muster zusammensetzen. Und sollte der Glücksfall eintreten, dass sie während ihrer Bauzeit permanent weiterhin genährt werden, kann aus jenem bunt-chaotischen Haufen möglicherweise ein Roman, ein Lyrikzyklus oder ein Requiem erwachsen.

Bleiben wir doch vorerst einmal bei letzterem, und lassen wir die lapidare und nichts-sagende Erläuterung, der Tod sei eben ein zentrales Thema der Literatur ob mangelnder Aussagekraft beiseite. Ebenso diejenige, dass wir nach verlebten 40+ Jahren in dieser Welt durchaus unsere Toten kennen; wir haben Leichen im Keller und andere lümmeln in unserem Erdgeschoß. Und ich meine nicht nur diejenigen, die wir im Schreibakt von den Lebenden zu den Toten brachten.

 

Ein erster Mosaikstein zu »Requiem« entstand, als Michael Stavarič und ich während der Nachbesprechung einer Veranstaltung über noch nie da gewesene Lesungsformate spintisierten – warum nicht unter Ausschluss jedweden lebendigen Publikums für die Toten lesen? Aufmerksam blieben sie, selbst nach dem letzten Wort. Oder in einer Kirche: andächtig lausche man der Predigt …

 

Diese – ich gebe es gerne zu – auf den ersten Blick eher nach illuminiertem Unsinn klingenden Ideen, verbanden sich während der nächsten Tage mit der Erinnerung an Chorzeiten. Nicht weil unser Gesang so abscheulich geklungen hätte, dass ein jeder sogleich von den Lebenden zu den Toten geflohen wäre, sondern vielmehr ob der damals spontan meinerseits geäußerten Bitte, man möge doch davon absehen, mir – im Falle des Falles – vom Mästen des kleinen Wurms zu singen: »Sieh die kahlen Todesschädel, hier in dieser stillen Ruh', waren einst so jung so edel, vielleicht schöner noch als du.« Auf derartige Erbauuung an meinem Grab würde ich gerne verzichten.  

Der dritte Mosaikstein hing seit Jahren an meinem Kühlschrank: »Wer ein Warum zu leben hat, erträgt auch jedes Wie.« Viktor Frankls Aussage war mir seit jeher näher als die ungemein sinnigen, bis zum Erbrechen motivierenden Lebenssinnsprüche zeitgenössischer Coaching-Typen, die davon quasseln, dass es nach jeder Talsohle sicher wieder aufwärts gehe, halte man sich nur an ihre simple Schritt-für-Schritt-Anleitung. 

Die Frage, die ich mir von Jugend an wie zahllose andere auch gestellt habe lautete nicht nur ›Wozu leben?‹. Ein anderer Blick auf die gleiche Landschaft geworfen, wird ihr dennoch gerechter und verändert die Frage zu ›Wie?‹: 

Wie leben, damit es final ›gut‹ genannt werden könne? 

Irgendwann gezeugt und geboren worden zu sein, um fürderhin das ›Muss-zu-atmen‹ am Hals – oder vielmehr in der Lunge – zu haben, reichte mir als Lebensbegründung nicht aus. Obendrein hege ich seit Kindheitstagen bereits einen offenbar familiär genährten Widerwillen gegenüber dem Verb ›müssen‹. Dafür ist mein Großvater verantwortlich, der über ein Werkstück gebeugt zu murmeln pflegte: Nichts, aber auch gar nichts müsse er – außer Sterben, irgendwann. Und mein Vater war derselben Meinung … Mittlerweile ist diese Ansichtssache übrigens in der vierten Generation meiner erwachsenen Kindern angekommen. 

»Die Welt wird nie gut, aber sie könnte besser werden«, dieses weltverbesserndes Credo meiner Jugend aus der Feder Carl Zuckmayers genügte über Jahrzehnte als Antwort auf ein ›Wozu?‹. Bis sich die erwachsene Realität darin breit machte und ›leben‹ eine Bedeutungsänderung erfuhr: eine ziemlich mühselige Angelegenheit, ewiger Balanceakt zwischen Sich-Abstrampeln und fortwährendem Kämpfen, 90% anstrengend, 10% entspannt. Dachte ich. Und ein erster Blick rundum scheint es zu bestätigen: 

Es ist eine kalte Zeit, in der wir leben, eine des Verfalls, geprägt durch dümmliche Egomanie und der Gleichgültigkeit eines Wirtschaftswahns; sollte ich mich eines Tages nicht mehr darob echauffieren, bin ich vermutlich verstorben. Bis dahin ziehe ich es vor, was mich umgibt, in meinem künstlerischen Schaffen zu gestalten, unsere Gegenwart im Blick zu behalten; und die lautet weder ›Stress pur im heimischen Saustall‹ noch ›Schicksal mitten ins Herz‹. Da doch eher: ›das Glas ist halbvoll.‹ Oder in »Requiem«: ›Unserer Kinder Erbe – ein Elendsdrama in zahllosen Akten.‹

 

Ein weiterer Mosaikstein ist durchaus auch autobiographischer Natur, seine Erzählung jedoch braucht einen etwas längeren Atem:

Als Tochter eines Priesters ohne Amt, war meine Kindheit religiösgetränkt. In etwa acht oder neun Jahre war ich alt gewesen, ein sonnigwarmer Frühherbst, denn die Hagebutten säumten schon den Weg. Wir verbrachten eine mittägliche Freistunde, die einige Klassenkolleginnen und mich am Rückweg vom Bäcker an der Dorfkirche vorbeiführte, den Jungs ausweichend, welche schon abgerissene Früchte in Händen hielten, um das daraus herauszukratzende Juckpulver unter unsere Krägen zu reiben. Im Fortlaufen schlug ich die Kirche als Fluchtort vor, schon wurde das schwere Holztor aufgestemmt, hinein in dämmrige Kühle – sie hatte Schutz zu gewähren wie kein anderer Ort, so hatte man es uns doch gelehrt … Bald schon führte eines zum anderen und ich stand hinter dem Rednerpult, las aus der Bibel und predigte. 

Wir könnten dieses sehr ernste Spiel ›Sonntag‹ nennen oder ›Vater-sein‹, jedenfalls war uns eingeimpft worden, wer in Bedrängnis sei, der bete. Das Gekicher und Gealber der Klassenkolleginnen passt dazu kaum, mein Einmahnen ›nötiger Ernsthaftigkeit‹ richtete nichts aus. Bis jemand die Kirchentür aufriss, ›Hier sind sie nicht!‹ brüllte und die Holztür wieder zuwarf; die Jungenstimmen entfernten sich über den Friedhof zur Schule hinab. (Schon wieder so ein Hügelhoch und ein Taltief dahinter …) 

Und die Mädchen? Bekamen es plötzlich mit der Angst zu tun; Mesner oder Pfarrer, Rosenkranz- oder allgemeiner Gebetskreis: Jemand werde kommen, man würde bemerken, was wir hier täten, verboten, ganz sicherlich verboten sei das, es würde Konsequenzen haben, keine von uns würde zur Erstkommunion zugelassen werden – und sie liefen überhastet davon.

Ich schloss, am Rednerpult stehend, die Bibel, leise und mit Bedacht, folgte ihnen in aller Stille und beschloss, keinesfalls Predigerin zu werden; viel zu mühsam, ihre Ohren zu erreichen.

 

Markus Orths Ohr hingegen war offen für unsere Idee der ersten literarischen Totenmesse, denn dorthin hatte sich die ursprüngliche Idee, genährt durch Begräbnislieder und Kindheitserinnerungen, mittlerweile entwickelt. Als viertenr im Bunde stieß überraschend der katholische Geistliche Christian Wiesinger zu uns, den unsere Idee einer ›Totenfeier für Nichtkatholiken‹ derart faszinierte, dass er uns seine Kirche dafür zur Verfügung stellte, uns mit Literatur versorgte und obendrein zur äußeren Form einer Neuinterpretation der Liturgischen Feier riet. Inhaltlich wolle er sich nicht einmengen, und nein, auch ein Hadern erschrecke ihn nicht, die Bibel sei voller Erzählungen menschlichen Ringens mit Gott – er freue sich auf die Zusammenarbeit.

Auf dass jene Idee zu leben beginne, suchte ich Finanzierungsmöglichkeiten. Eine solche sah ich im Rahmen des »Viertelfestivals 2017« gegeben – ja, manch gut Ding will Weile, und einzelne Projektideen brauchen den Dornröschenschlaf – immerhin wurden es keine hundert Jahre, sondern bloß vier. Alsdann hatte sich der Vier-Viertel-Takt erneut zum Weinland herauf bewegt. Wir erhielten die Zusage, und Markus Orths legte mit seinem Part, dem Liturgischen, sogleich los. Stavaričs sowie mein Abschnitt sollten darauf aufbauen und damit als Lesungsgabe und Evangeliumsbeitrag verwoben werden.  Alles bestens, alles wunderbar, wir waren im Zeitplan und harrten in Ruhe der Dinge, die da kommen mochten. Bis Markus Orths Grünes Licht gab. Nun war die Reihe an uns, also ran an die Tasten: Die Bibel ist dir von Kindheit an vertraut, entscheide dich für eine Stelle – bloß für welche? Und wie lange sollte sie sein? Nur eine Episode neu erzählen oder ein ganzes Buch? Und welche nimmt Michael?

»Kain und Abel«, schrieb er mir.

Aha.

Ich hatte mir derweilen eine zusätzliche Ausgabe des Buchs der Bücher besorgt, eine in ›gerechter‹ Sprache, die sich nicht nur durch spannende Textkommentare und Querverweise, auszeichnete, sondern deren Wortlaut mir nicht aus Kindheitstagen bis in jede einzelne Wendung hinein vertraut war; tausende Seiten umfassend war sie obendrein, lange kann man sich entspannt darin im Lesen verlustieren.

So sehr, dass ich morgens aufwachte – ›Im Staub vor seiner Majestät da liegt die Christenheit‹ –, und sich zum Warten auf das Hochschäumen meines Espressos ›In den Himmel muss ich kommen‹ gesellte… – es folgte ›Maria durch ein Dornwald ging‹ und das bis zum Einschlafen. Zuerst nahm ich es gelassen, bald schon reihten sich diese Einfälle zu einer Armee obskurer Weihrauchsoldaten und stellten sich jedwedem literarischen Einfall manifest in den Weg. Ich kam mir wie die erwachsene Form der einst als Embryos und Säuglinge beschallten Halbautomaten aus Huxleys »Brave New World« vor. Trotzdem war mir der Gedanke einer frühkindlichen Prägungen zumindest minimal lieber als die Überlegung, ob ich drauf und dran sei, den Verstand zu verlieren. Denn diese Kindheitssätze bildeten, einmal losgelassen, einen wirren Mückenschwarm, wanden sich wie Würmer durch Gehörgänge, nisteten sich ein, vermehrten sich ins Uferlose. Als ich meinem Mann die Behauptung, es sei bitteschön nicht mehr spaßig, träume man ›Vom Aufgang der Sonne / bis zu ihrem Untergang …‹ in Bibelzitaten, längst vergessen geglaubten Gebetstexten und Kirchenliedern, damit illustrierte, dass ich ihm solch eine hübsche Tagessammlung vorpredigte, hielt er sich die Ohren zu und meinte lachend, ich würde ihn damit noch ganz kirre machen. Besorgt war er dennoch; wiewohl nicht so beunruhigt wie ich. Mittlerweile konnte von einem Sein ›im Zeitplan‹ keine Rede mehr sein, jede Minute rückte die fixierte Uraufführung um eine ebensolche näher, und das hemingwaysche Beruhigungspendel – ›du hast immer geschrieben, du wirst es auch jetzt können‹ – griff nicht wirklich. Möglicherweise hätte ich dazu kleine Orangen besorgen und schälen sollen – doch wozu, wenn ich kein offenes Feuer hatte, in welches ich die Schalen danach werfen könnte, um ihrem Zischen zu lauschen. 

Ebenso wenig vermochte bedauerlicherweise der heilige Baldrian, Retter aller hoffnungslosen Fälle, zu einem Ende des Gewürms in meinem Erinnerungsspeicher beizutragen. Schlafen konnte ich schlecht, Schreiben gar nicht. Und mitten in das kindheitsdominierte Zitierwirrwarr gesellte sich Kohelet, der Sammler. (Schließlich tat ich seit Tagen nichts anderes …)

 

Dass sich während eines Schreibaktes – beginnend beim bloßen Vorhaben, sinnvolle Wörter zu einem Erzähluniversum zusammenzufügen und auf die weiße Bildfläche des Laptops zu setzen, bis zu den letzten Korrekturen am Abend vor Drucklegung – dass sich während solch einer lange Zeit währenden intensiven Beschäftigung mit einer Idee, beinahe vergessene Ereignisse als Erinnerungssplitter auftauchen, den erzählerischen Faden in diese oder jene Richtung weitertreiben, war mir aus anderen Arbeitsvorhaben durchaus vertraut; neu hingegen war mir ihre Stoik, die Sturheit mit der sie sich in meinem gegenwärtigen Sein ausbreiteten, als dürfe es außer ihnen keinen Gott geben. Und die Tage VOR neigten sich dem Ende zu … während ich verstörte Tage und Nächte in unvertrauter Hirnleere verbringen durfte; bis ich mich wütend am Schopf packte, mit dem Befehl ›An den Schreibtisch!‹ aus wirrem Sumpf gezogen, um mir ebenda an den Kopf zu knallen, was das denn bitte solle: Blockaden haben andere, ich hätte für solchen Schmonzes weder Zeit noch Geduld. Gelänge es mir nicht, aus einer Idee einen Klangraum samt Form zu gebären, wäre der Spieß eben umzudrehen: zuerst die Form in aller nötigen Strenge, dann der Inhalt. Eine kompakte 5-Zeiler Litanei, die erste Strophe jeweils mit A beginnend, Kohelets Windhauch-Warnung als Refrain, zweite B-Strophe … – nach fünf Krüppeltagen waren fünf ebensolche Seiten mit Ach und Krach und Weh zusammengepfropft; um bei der Lektüre als Nebenwirkung ›heftigen Kopfschmerz‹ zu erzielen. Statt einer Tablette warf ich es in den virtuellen Mülleimer, freute mich am raschelnd Zerfall: meine ›Orangenschalen‹.

Den Tisch von allen Arbeitsunterlagen geleert. 

Bloß die Bibel in die Mitte meines Arbeitstisches. 

Und ich ließ das Buch sich auffächern, wo auch immer es sich aufschlagen wollte: 

»Schreib!« stand dort. 

»Ja«, sagte ich, und: »würde ich ja gerne«, und in mein Gelächter mengten sich die Worte einer lieben Freundin, die lachend meinte, es sei an der Zeit für eine intelligente Liebesgeschichte, »Schreib! Selig die Toten, die […]«

Und ich schrieb. 

Bis »Windhauch« fertiggestellt war; weil alles, was es zu sagen gab, gesagt, das letzte Wort gefunden war. Eine Liebesgeschichte? Vielleicht.

Nun, nach vier Jahren mit jenem Thema, sitze ich hier, draußen liegt der Schnee, die Temperaturen verharren seit vielen Tagen stoisch unter Null, Viktor Frankls ›Wozu-und-Wie‹ hängt noch immer am Kühlschrank, und ich staune über die Schönheit allen Lebens und Lebendig-Seins, 90% Langmut (oder für diejenigen, die das Modewort eher verstehen: Gelassenheit) versus 10% K(r)ampf – maximal, das ist mir Leben … 

Und der Tod? Er hat mir nach wie vor einen Januskopf: Das eine Antlitz schaut in die Erd, das andere ins Leben …