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Waugh »Wiedersehen mit Brideshead«. Oder: Katergejaule. Ein Autor, eine Autorin möge singen, fand Evelyn Waugh.

Manche Werke der Weltliteratur sind einem ein Ärgernis. Entscheidend ist dabei die Frage, ob dieses Zürnen bereits am Beginn oder erst im Lauf der Lektüre seinen Höhepunkt erreicht. Ist ersteres der Fall, riskiert der Roman beiseite gelegt zu werden, retten ihn nicht die nächsten Sätzen und Seiten. Die zweite Variante kann gleichfalls zum Abbruch der Begegnung führen, hat man nicht bereits mehr als die Hälfte gelesen und beruhigt sich mit dem Gedanken, jene Passage, die einen auf die Palme bringe, sei bloß ein kleiner Ausrutscher. Vielleicht tritt das Erbosen jedoch auch erst gegen Ende des Werks zutage. Solches Wüten stellt schon ein gänzlich anderes Kaliber dar. Schließlich hat man das Werk ja bereits gelesen, weshalb man in Folge seines Zornes darüber nachdenkt: Woher kommt die eigene Wut, weshalb wählte er oder sie just jenes Finale?

Als Meisterleistung kann es gelten, schafft ein Literat alle drei möglichen Ursachen des Wütens zu bedienen: Anfang, Mitte und Schluss – wie Evelyn Waugh in »Wiedersehen mit Brideshead«. Natürlich sucht man alsdann Rat im Nachwort. Wird jedoch die zuvor bereits ausgelöste Emotion von jenem Nachwort-Verfasser nochmals übertroffen, kann man diese Erzürnungskompetenz schon beinahe eine olympische Leistung nennen!

Weshalb? Es sind enttäuschte Erwartungen, seien Sie versichert!

Im Nachwort zur Hardcover-Ausgabe des Romans »Wiedersehen mit Brideshead« schreibt Daniel Kampa, mittlerweile selbst Verleger und ehedem Lektor:

»Es gibt eine gewisse Analogie zwischen den Erfahrungen, die man bei einer Weinprobe macht, und dem, was uns auf den ersten Seiten eines Buches widerfährt. Nicht jeder Wein zeigt schon beim ersten Schluck, was in ihm steckt, mancher weist gar in eine falsche Richtung, und kaum einer offenbart gleich seine ganze Pracht. Ähnliches kann man bei der Lektüre eines Romans erleben. Bei einigen wenigen Büchern weiß man nach den ersten Sätzen, dass sie einen ein Leben lang begleiten werden. Bei anderen stellt sich dieses Gefühl erst ein, wenn die letzte Zeile gelesen ist.« (S. 505.)

Wir nicken: ›Natürlich, so verhält es sich. Recht hat er! Absolut.‹, während wir in Gedanken unsere Buchbegegnungen Revue passieren lassen, die Augen jedoch schon weiterlesen wollen, was er uns in Folge zu sagen hat, war ja ein kluger Beginn:

»Wiedersehen mit Brideshead ist wieder anders, denn der Epilog irritiert so manchen Leser, und nicht wenige vehemente Fürsprecher dieses Romans geben Erstlesern den Tipp: Überspringen Sie den Prolog und fangen Sie auf Seite 39 an!«

Wie bitte? Prolog weg, Epilog weg – weil sie ›irritieren‹? Schon huscht das Augenpaar in den nächsten Absatz, nun muss Daniel Kampa doch wortgewaltig den von ihm mit einem Nachwort beehrten Autor bitteschön verteidigen – vorzugsweise mit Bravour und Grandezza! Wieso sollen seine Worte sonst einer Übersetzungen dieses Werks nachgestellt sein? Doch nichts von alldem. Vielmehr heißt es ebenda:

»Der Roman mit dem schwierigen Anfang (Nein, Sie lesen keinen Kriegsroman!) und dem rätselhaften Schluss (Nein, dies ist kein katholisches Traktat!) …«

Ja, schwarz auf weiß. Und wir dürfen mal ordentlich schlucken. Wie kann ein Lektor bloß allen Ernstes ein Werk, welches er nicht zum Lektoratszweck durcharbeitet, mit der – wenn auch bloß zitierten Empfehlung versehen, ›Beginnen Sie Ihre Lektüre erst bei Seite 39.‹?

Leseverkehrsordnung: Vertrauen Sie!

Ich weiß, es ist mittlerweile in zahllosen Blogs und selbst aus dem Mund von Buchhändler*innen in Mode  gekommen, das erdachte Gestaltungskonzept der LiteratInnen zu ignorieren. ›Beginnen Sie bei Kapitel 2! Oder gleich erst bei 3! Die Dialoge brauchen Sie nicht zu lesen! Überblättern Sie den gesamten Handlungsstrang 4 sowie 5, die sind uninteressant. Jede siebzehnte Seite zu lesen, genügt vollauf …‹ Solcher und ähnlicher Unfug wird gerne verbreitet. Dass sich Schreibende durchaus etwas dabei gedacht haben, wenn sie ein Werk so oder so anlegen, wird heutzutage offensichtlich nicht mehr als wahrscheinlich angenommen. Tun wir aber. Oder sollten wir. Denn das Arrangement ist Teil unserer Arbeit. Mich erinnert das an die Straßenverkehrsordnung, Vertrauensgrundsatz: ›Sie dürfen darauf vertrauen, dass wir unseren Job gemacht haben, Sie dürfen darauf vertrauen, dass jedes Wie unserer Struktur ebenso wie das Wann und Was durchaus einer Absicht entspricht! Sie dürfen darauf vertrauen, dass ein literarisches Ich nicht unser Ich ist!‹ Diese Basis zu ignorieren – scheint mir impertinent.

Heutzutage liest man Belletristik vorzugsweise wie Schundliteratur: in Auszügen. Und maßt sich danach an, nichts verstanden zu haben, weil ›es‹ unverständlich sei. Man nimmt sich selbst das Vergnügen, eine Welt in der ihr zur Verfügung gestellten Zeit zu entdecken. Dass unsere Entscheidungen wie diejenigen aller menschlichen Wesen fehlerhaft sein mögen, tut dabei nichts zur Sache. Sie kaufen ja auch kein Gemälde Van Goghs und schneiden sich die mittlere Sonnenblume heraus, weil sie ihnen passender zu sein dünkt als die anderen rundum, oder?

 

Der ›schwierige‹ Rahmen

 

Evelyn Waugh setzte seiner eine Rahmenhandlung, die zeitlich zu einem späteren und bedeutsamen Zeitpunkt stattfindet, nämlich Mitten im Zweiten Weltkrieg. Der Ich-Erzähler wartet seit Wochen und mit zunehmender Frustration, dass der Einsatz endlich beginnen möge. Wie ein Haufen anderer junger Männer, die um ihn herumlungern. Als man ihren Lagerort abändert, kehrt der Ich-Erzähler Charles Ryder – ohne dies vorerst zu wissen – an einen vertrauten Ort seiner Studienjahre zurück. Dieses Erinnern an die Haupthandlung des Romans wird also durch eine unbeabsichtigte und überraschende Rückkehr auslöst: Was bitte soll daran schwierig sein? Noch dazu weil der Hauptstrang abgesehen von minimalen Vorausdeutungen auf späteres Geschehen, die der Spannungssteigerung dienen, ohnedies chronologisch erzählt wird! Oder soll das Thema mit diesem Adjektiv gemeint sein? ›Huch, eine Handvoll Soldaten, die im Irgendwo während des Zweiten Weltkriegs auf ihren Einsatz warten? Ne, das ist mir zu schwierig! Damit will ich mich nicht beschäftigen …‹? 

Ich weiß es nicht und verstehe es auch nicht, aber dass sich eine Kategorisierung durch das Adjektiv ›schwierig‹ meinem Verstand gerne entzieht, ist ohnedies hinlänglich bekannt; mir ist auch nicht eingängig, wieso ein logisch strukturierter Satz, der seiner ihm innewohnenden Melodie folgt und dabei mehr als fünf Wörter für sich beansprucht ›schwierig‹ sein soll? Außer wir gehen davon aus, dass wir gerade allesamt verblöden, das auch noch ungemein toll finden und gefördert wissen wollen?

Literatur jedenfalls ist eine Einladung zur Begegnung, und diese beginnt mit dem ersten Satz. Sie endet mit dem letzten, den ich diesem Literaten, dieser Literatin gewähre. Aber den Text dieser Begegnung bestimmt er oder sie. Ausschließlich. Dafür habe ich als Lesende/r durchaus das Recht, unsere Begegnung abzubrechen, ihm oder ihr das Wort zu entziehen. Das ist der Deal; daneben gibt es keinen anderen. Derjenige, eine andere Gestaltung aufgrund einer Infragestellung zu favorisieren, ist Arbeit des Lektors, der Lektorin, deren kritischer Blick auf das in Entstehung [!] befindliche Werk unabdingbar nötig ist, damit es gelingen kann. Das ist jedoch keinesfalls Aufgabe der Rezipient*innen. Sie dürfen dafür das Werk befragen, dürfen seine Struktur erforschen, sich auch mal am Inhalt reiben. Die Persönlichkeit des Autors, der Autorin? Tut dabei nichts zur Sache.

Die ›Schwierigkeit‹ rettet auch nicht, dass Kampa anmerkt, unser Urteil über Waugh fiele sicher anders aus, würden wir den Autor persönlich kennen. Ich verwehre mich ausdrücklich dagegen, dass jemand davon ausgeht, er oder sie müsse mich kennen, um mein Werk zu goutieren. Heerscharen vor dem Hoftor, und wann bitte soll ich schreiben? Davon mal abgesehen, Sie glauben doch nicht ernsthaft, einen Autor, eine Autorin zu kennen, weil sie dieser sieben Mal bei Lesung und Gardenparty samt ›How do you do?‹ über den Weg liefen, oder? »Die Literatur spricht für sich – schon mal gehört, Herr Kampa?«, pfauche ich. 

Damit hat der Drache gleich zu Beginn Feuer gespien, doch das Nachwort ist lang und meine Geduld … – noch nicht am Ende. Vielmehr beginnt mein Sinn für Komik nun zu erwachen, denn Kampa räumt im nächsten Satz ein, der erste Eindruck Herrn Waughs wäre aller Voraussicht nach ohnedies eher unvorteilhaft gewesen, der zweite vermutlich ebenso, denn Herr Waugh würde uns in seinem Wesen wohl viel zu exzentrisch dünken, damit wir eine Chance hätten, ihn zu mögen. Erst wenn wir diese  beiden Hürden – Unvorteilhaftigkeit und Exzentrik – genommen hätten, wären wir sicherlich unter denjenigen, die seinen Witz und Esprit bewundern würden.

Spätestens hier freut es mich nicht mehr zu erfahren, wie Daniel Kampa denkt … 

Was ungemein schade gewesen wäre! Denn nach dem nun folgenden biographischen Abriss erzählt er rund zwanzig Seiten später von Waughs Arbeitsprozess – wäre mir entgangen, hätte ich Kampas Rat befolgt:

 

Bitten geben Sie mir frei, ich bin ein Autor!

 

Um »Brideshead Revisited« zu verfassen, stellte Waugh gegen Ende des Krieges einen Antrag auf drei monatigen Diensturlaub. Die Begründung, die er an seine Vorgesetzten sandte? Er sei Romanautor, habe nun eine Idee und diese würde elend verkümmern, gewähre man ihm nicht jetzt die Zeit, sie zu notieren und auszuarbeiten:

»Dieser Roman wird keinen direkten Bezug zum Krieg haben und erhebt keinen Anspruch auf unmittelbaren Propagandawert. Allerdings hoffe ich, dass er einer größeren Anzahl von Lesern harmloses Lesevergnügen und Entspannung bietet und Unterhaltung mittlerweile als legitimer Beitrag zu den Kriegsanstrengung anerkannt wird.« (Vgl.: S. 523) 

Der Arbeitsurlaub wird gewährt; bald schon kommentiert Waugh das entstehende Werk als sein Magnum Opus, sicher sei er sich bei dieser Einschätzung: Er verfasse hier mit Verlaub einen Great English Classic. 

Keinesfalls soll damit jedoch gesagt werden, er habe diese Einschätzung bis zum Ende beibehalten. Im Gegenteil! Gut erkennbar sind darin die Stadien des Arbeitsprozesses: die keimende Idee, die unbedingt – in Ruhe – genährt werden muss, die absolute und blinde Verliebtheit in das entstehende Werk, während des Niederschreibens der Erstfassung, alsdann das beginnende Ringen samt Elend. Wie typisch! Zuerst diese Art von Größenwahn, die einen am Weiterschreiben hält, um final in sein ebenso absolutes Gegenteil zu verfallen, mit umfassender Blindheit für seine Qualitäten sind wir alsdann geschlagen, Jahre wird es dauern, bis wir halbwegs erkennen können, was wir geschaffen haben … Zu schnell schreibe er, nörgelt Waugh. Er müsse sich zwingen innezuhalten, um der Spannung auch den Raum zu geben, den sie brauche, um zu entstehen (Vgl.: S. 524f). Unbekannt ist ihm auch, dass er dieses Mal bereits während des Schreibens in einen ›Überarbeitungssumpf‹ gerate, notiert er in seinem Tagebuch am 22. März 1944 (Vgl.: S. 525). Im Stadium der Abnabelung kann er einzig noch die Brüche und Differenzen zum angestrebten und erdachten Werk erkennen: Es gäbe, schreibt Waugh, sicherlich ›keine sechs Amerikaner […], die ihn [den Roman] verstehen würden […]‹, ein Bestseller werde das nie und nimmer (S. 531).

 

Der leere Sarg oder ein Porträt der Lost Generation

 

Eingangs, so mögen Sie einwenden, schrieb ich vom Zorn; derjenige des Nachworts ist nun wohl geklärt. Wie aber verhält es sich mit demjenigen des Romans?

Vielleicht bin ich jedoch auch kein Publikum für Liebesgeschichten, die darüber hinaus wenig (sozialkritischen) Stoff bieten? Denn Sebastians fortschreitende Alkoholkrankheit ist mir kein inhaltlicher Leseanreiz, die durch mütterlichen Katholizismus geschädigten Kinderseeelen noch weniger (Ja, alle Geschwister der Familie haben einen Knall, der von Jahr zu Jahr manifester sichtbar werden wird: Während der älteste Sohn im starren System verknöchert und Streichholzschachteln sammelt, um die ebenso brav-starre Witwe eines Sammlerkollegen alsdann zu ehelichen, säuft sich Sebastian als Klosterpförtner zu Tode. Die beiden Schwestern Julia und Cordelia, von denen jede auf ihre Art aus dem normativen Moralkorsett auszubrechen versuchten, scheitern; sie finden letztlich zumindest Sinn im sozialen Engagement. Und in der Einsamkeit des Alleinlebens. Naja. Was Waugh inhaltlich  darstellt, mag man goutieren oder auch nicht, das ist nicht wirklich relevant; ein guter Roman hat mehrere Genüsse zu bieten; nicht bloß eine Geschichte.)

Die der Erzählhandlung vorangestellte Inferioritätsbemühungen Evelyn Waughs ärgern erst noch  dezent. Sie erwecken den Eindruck, er entschuldige sich 15 Jahre später für jenen Roman, der ihm Ruhm brachte, liebäugelt jedoch zeitgleich auf unangenehme Art damit, dass ›Fanpost und Pressefotografen‹ sich nach Bekanntwerden des Titels auf ihn stürzten. Das Ende dieser vorangestellten Zeilen Waughs jedoch lässt uns wieder friedlich die Tür zum Erzähluniversum öffnen: »[…] ein großer Teil dieses Buches [ist] so etwas wie ein Abgesang vor einem leeren Sarg. […] Möge es einer jüngeren Generation von Lesern eher als Andenken an den Zweiten Weltkrieg denn an die zwanziger oder dreißiger Jahre dienen, von denen es nach außen hin handelt.« (S. 11) 

Damit ist auch das Vorwort in seiner Bedeutsamkeit deutlich geworden und der Prolog eröffnet: Die sogenannte verlorene Generation wird unser Thema sein, diejenige, die vom Ersten Weltkrieg sowie vom Spanischen Bürgerkrieg geprägt ist, obgleich sie an ihnen mehrheitlich nicht teilnahm, bloß die Heldengesänge auf Väter und ältere Brüder hörte, und die nun, in den jungen Jahren ihres Erwachsenwerdens eine unter der aufpolierten Oberfläche bereits zerbrechende Welt erlebt. Sich zu Tode amüsieren oder zumindest bewähren, auf jeden Fall herausfinden, wofür es sich zu leben lohne – all das rückt mit diesem Intro also ins Zentrum unseres Denkens, während wir im Prolog von jungen, fadisierten Soldaten lesen, die nicht kennen, worauf sie warten: die Schlachtbank.

Über den Ich-Erzähler Charles Ryder heißt es: »Hier, mit neununddreißig Jahren, begann ich alt zu werden. Abends fühlte ich mich steif und müde und hatte keine Lust, das Lager zu verlassen. […] Hier starb meine letzte Liebe. Ihr Tod hatte nichts Bemerkenswertes.« (S. 18)

 

Die Kunst der Andeutung

 

Schon sind wir bei der zweiten Irritation angelangt, einer weltanschaulichen, um genau zu sein, denn mit dieser ›letzten Liebe‹ ist nichts anderes gemeint als jene zum Militär, die uns zuerst noch verhüllt mit weiblichem Pronomen dargestellt wird, alsdann immer deutlicher erkennbar in den Vordergrund tritt. Fehlt bloß noch Waugh hätte, das Gewehr die ›Braut‹ genannt; alle anderen Bilder sind zum Erbrechen vorhanden. Es runzelt mir die Stirn, dass er im Vorwort aus dem Jahr 1959 bloß formale Entscheidungen bedauert, »deren eklatante Mängel den Umständen geschuldet« (S. 9.) seien, nicht jedoch diese Kriegsmaschinerie samt allen Konsequenzen.

Wie bereits erwähnt entrollt sich vom diesem Handlungspunkt aus (lagernde Soldaten, auf den Einsatzbefehl wartend) die Rückblende. Der sprachlichen Einleitungsform mag man mit leichtem Murren begegnen, formal ist die Passage allemal geglückt: 

»[…] als ich an der Tür stand, fragte ich den stellvertretenden Kompaniechef: ›Wo sind wir hier eigentlich?‹ Als er es mir sagte, war es, als hätte jemand das Radio ausgeschaltet, und eine seit unzähligen Tagen unablässig sinnlos in meinem Kopf brüllende Stimme wäre plötzlich verstummt. Eine gewaltige Stille folgte, die anfänglich leer war, sich dann aber, als meine aufgewühlten Sinne sich wieder beruhigten, mit einer Vielfalt süßer, natürlicher und längst vergessener Klänge füllte, denn er hatte einen Namen ausgesprochen, der mir vertraut war, einen Zaubernamen von so uralter Kraft, dass sich allein bei seinem Klang die Phantome der letzten gespenstischen Jahre verflüchtigten.« (S. 32) 

Man beachte, LeserIn selbst hat bislang noch keine Ahnung, an welchem Ort er – und damit wir – uns nun befinden mögen. Wiewohl aufgrund des Romantitels der Verdacht besteht, es müsse sich um Brideshead handeln, an welches sich der erinnernden Ich-Erzähler plötzlich wieder physisch real versetzt sieht. Der Ort wird auch vorerst nicht genannt – »Ich war schon einmal hier gewesen, ich kannte das alles.« (S. 35) hat zu genügen, und während der Kompaniechef die Eckpfeiler einer klaren Szenerie entwirft – Haus, Nebengebäuden, Springbrunnen und römisch-katholischer Kapelle (»Wohl mehr Ihr Ding als meins.« (S. 34)) –, sieht der Ich-Erzähler Charles Ryder (und somit auch wir) das farbliche Kolorit dazu, Moos und Hirschkuh, aus Seeufer und Bach namens Bride. Rahmen beendt.

Das nunmehr beginnende erste Kapitel startet mit dem gleichen Satzinhalt, obendrein in zweifacher Wiederholung: »›Ich war schon einmal hier‹, sagte ich. Ja, ich war schon hier gewesen, zum ersten Mal mit Sebastian, vor mehr als zwanzig Jahren an einem wolkenlosen Tag im Juni […].« (S. 39) 

Wenige weitere Striche sind nur noch nötig, die Szenerie ist bereits geschaffen, ein relevanter Protagonist (Sebastian) sowie ein wesentliches Faktum (vor 20 Jahren) wurden gleichfalls eingeführt. Das ist klug gemacht. Solches in seiner Wiederkehr erfreut einen nicht bloß an diesem Beginn, sondern einen gesamten Roman lang. Wieder und wieder finden sich diese nebenher erwähnten Details, bei denen aufmerksamen Leser*innen just aufgrund der Art und Weise ihrer Platzierung deutlich wird, dass sie relevant sein werden – man habe schlicht ein wenig Geduld, vertraue dem Erzähler und lasse ihn in seinem Tempo tun, wozu er erschaffen wurde: erzählen. Denn wir bleiben keineswegs in Brideshead, nicht in der ersten erzählerischen Gegenwart (Armeelager), ebensowenig in der zweiten. Dort ist erst einmal Oxford an der Reihe. 

 

Man vertraue dem Erzähler, der Erzählerin 

– tunlichst sollte auch der Autor, die Autorin dies beherzigen!

 

Gerafft könnte man über den Inhalt sagen, begabter Junge kommt auf das Hertford College und lernt dort die Sprösslinge des Adels kennen. Vor allem mit Sebastian Marchmain freundet er sich an, welcher mit einem Teddybären im Arm über den Campus spaziert. Später einmal wird Charles sagen, er habe Sebastian geliebt. Und noch später: Er habe ihn geliebt, da jener seiner Schwester Julia derart ähnlich sei. Zu jenem Zeitpunkt sind Julia sowie Charles bereits einmal verheiratet – jedoch dummerweise nicht miteinander. Weshalb zwei Scheidungen zu folgen haben, denn Julias – zwar vom Kindheitskatholizismus abgewandtes, dennoch hiervon eklatant geprägtes – Ich erträgt auf Dauer kein solches Lotterleben ›in Sünde‹. Und ebenjene Dauer bekam es durch die Vertrautheit der beide: Jahre! Folglich trennen sich Julia wie Charles nun auch formal von ihren PartnerInnen – das Kleeblatt, welches den gesellschaftlichen Schein wahrte, dürfte jetzt zumindest standesamtlich heiraten. Bedauerlicherweise kehrt zuvor jedoch Julias Vater heim, dem jedwede Religion schnuppe ist, um in seinem Elternhaus zu sterben. Eine lange Dialogpassage kreist um die Frage, ob zu ihm ans Krankenbett ein Priester geholt werden solle – selbst wenn er den Pfarrer bei seinem ersten Versuch einer letzten Ölung hinauswarf. Als er in sich verdämmert, wird ihm im Akt des Murmelns die Stirn betupft, sicher ist sicher und Julia zufrieden. Kaum ist der Vater verstorben, die Stiefmutter auf ihr Zimmer gebracht, heißt es:

»[…] und als wir uns endlich allein sahen, war es so verstohlen, als wären wir ein junges Liebespaar. Julia sagte: ›Eine Minute hier im Schatten, in dieser Ecke der Treppe – eine Minute, um Abschied zu nehmen.‹

›So lange, um so wenig zu sagen.‹

›Du hast es gewusst?‹

›Seit heute Morgen, schon vor heute Morgen, das ganze Jahr.‹

›Ich wusste es bis heute nicht. […]‹« (S. 492)

Unterbrechen wir Julia hier ganz kurz, um innezuhalten: Gleiche Technik der Leerstelle wie zuvor hinsichtlich des Ortsnamens, nun jedoch in dialogischer Ausprägung, ein Strukturelement, das an Ernest Hemingway erinnert, der ein Meister dieser Technik war. Während bei Hemingway das Nichtausgesprochene in der direkten Figurenrede eine logische Konsequenz der Situation und der Figurenpsychologie ist, wirkt es bei Waugh bloß verklemmt und gekünstelt. Unter anderem weil sich während der Lektüre dieses Gesprächs zwischen Julia und Charles die Auslassungen nicht automatisch mit zuvor gelesenen Bildern und Andeutungen füllen. Waugh beginnt in seiner Dialoggestaltung zu fern des Sachverhalts (mit der Dimension der Zeit) statt unser Erinnerungsvermögen über den Köder der Traurigkeit zu angeln. Dabei wäre dieser durchaus kompatibel gewesen: Einerseits haben wir den toten Vater, andererseits Julias zuvor bereits vom Ich-Erzähler mehrfach thematisierte Stimmungswechsel gegenüber Ehemann, erstem Liebhaber und nun eben Charles Ryder: Wird aus ihrer verliebten Euphorie, in der jener Mann an ihrer Seite der übermächtige Held war, eine stille, wehmütige Trauer, weil auch er bloß ein ›toter Mann‹ an ihrer Seite ist, versinkt sie in Melancholie, wirkt gelähmt, tragisch, kraftlos – bis sie ebenjenen Mann verlässt … Statt dies in der Erinnerung der Leser*innen wachzurufen, lässt er Julia schwulstigen Unfug quatschen, in welchem sie nun benennt, was zuvor implizit hätte deutlich werden können:

»›[…] Oh, mein Liebster, wenn du es nur verstehen könntest! Dann würde ich diese Trennung ertragen, oder besser ertragen. Ich würde sagen, mir bricht das Herz, wenn ich glaubte, dass Herzen brechen können. Ich kann dich nicht heiraten, Charles. Ich kann nicht mehr mit dir zusammen sein.‹« (S. 492)

Verstehen Sie nun eingangs erwähnte Wut? 

Das ›katholische Traktat‹, welches es nicht ist? Die Hilflosigkeit nach 485 Seiten einer Annäherung zweier Personen, mag man sie nachvollziehen können oder nicht – bevor man derart abgespeist wird? 

Noch knapp eine Seite währt dieses Kapitel, weshalb man weiterliest, schließlich ist es ›eh schon egal‹, und wird dafür mit den boshaften Worten Charles belohnt: 

»›Ich möchte es dir nicht leichter machen. Ich hoffe, es bricht dir das Herz, aber ich verstehe es.‹

Die Lawine war herabgestürzt, die Bergflanke blieb kahl zurück. Die letzten Echos verhallten auf den weißen Hängen; der neue Eishügel funkelte und lag still im schweigenden Tal.« (S. 493)   

Es ist geschafft! Ihr Schwulst zuvor lässt sich noch toppen! Kaum wendet man die Seite ist man erneut am Beginn aller Handlung: im Rahmen der Erzählung. Der Kompagniechef bringt uns wieder in seine Zeitebene zurück:

»Die schlimmste Unterkunft, die wir bislang hatten […]«, sagt er.

Durchaus passend, in mehr als einer Hinsicht. Zur emotionalen Schwere belasteter Erinnerung kommt das Faktum der vergangenen Jugend samt ihren Träumen hinzu. Obendrein ist von der prachtvollen Villa (und der Epoche, für die es stand,) nichts mehr vorhanden. Diese Verbindungslinie zwischen ›Gebäude‹ und ›vergehender Zeit und ihren Charakteristika‹, der Stempel also den sie mittels Renovierungsentscheidungen der Bewohner*innen ihren Behausungen aufdrückt, ist übrigens ein weiterer roter Faden des Romans. Nicht umsonst besteht Charles Ryders bürgerliche Arbeit darin, Porträts von Gebäuden anzufertigen …

Nahtlos wie in all den vorherigen Kapiteln fügt sich das neue an das vorherige. 

Leise tröpfelt der Roman aus, während man noch darauf wartet, eine Form der Wendung oder zumindest eine andere Interpretation des Geschehenen neben dem katholischen Verzichts- und Bußwahn könnte einem offeriert werden. Leider nein: Während die Männertruppe sich im heruntergekommenen Herrenhaus einrichtet, erfahren wir nebenher, Julia sei in Palästina [!] als Sanitäterin [!] tätig, im Haus habe sie einem ausgebombten Priester [!] Obdach gegeben. Und Charles Ryder betritt die Kapelle, sieht darin das Ewige Licht, danach jedoch kommt ein wesentlicher Satz:

»Die Flamme, die die alten Ritter in ihren Grabkammern brennen sahen, die sie erlöschen sahen, diese Flamme brennt jetzt wieder für andere Soldaten, fern von zu Hause, im Herzen noch ferner als Accra oder Jerusalem. Ohne die Erbauer und Mitwirkenden der Tragödie hätte sie nicht entzündet werden können, und da brannte sie auch an diesem Morgen, wieder entfacht in dem alten Gemäuer. Ich beschleunigte meine Schritte und erreichte die Baracke, die uns als Vorzimmer diente. ›Sie sehen heute ungewöhnlich fröhlich aus‹, stellte der stellvertretende Kompaniechef fest.« (S. 503)

Ungewöhnlich fröhlich – die Erinnerung ist durchschritten, abgehackt; ungewöhnlich fröhlich, denn die Kapelle ist nicht mehr ein verlassener Ort, sondern belebt; ungewöhnlich fröhlich, denn der Katholizismus ist ›sein Ding‹?

Damit ist der letzte Satz gesagt.

Ich jedoch bin uneins mit mir, ob ich Dorothy Parker zitieren sollte: »This is not a novel to be tossed aside lightly. It should be thrown with great force.« 

Vielleicht in nachfolgender Variante? »Dieser Roman kann nicht leise nachsinnend geschlossen werden. Zu manifest ist der Ärger über ihn; und der ist gut und bewirkt mehr Darüber-Nachdenken als gewöhnlich. Er kann aber auch nicht an die Wand gepfeffert werden. Zu augenfällig gelungen sind einige Bilder, der Einsatz mancher Strukturelemente darin.« Darf man uneins mit sich sein, auch nach dem Ende der Lektüre?

Man darf.

Selbst wenn Kampa in seinem Nachwort Gegenteiliges behauptet, in dem er von absoluten Fans und ebenso überzeugten Gegner*innen spricht. Oder auch Waugh, der in einem früheren Vorwort vermerkte, »Wiedersehen mit Brideshead« sei nicht komisch gemeint, und obgleich es einige burleske Szenen darin gebe, sei es ›romantisch und eschatologisch zugleich‹ (S. 527):

»Es ist ein ehrgeiziges, vielleicht sogar unerträglich anmaßendes Buch, nämlich nichts Geringeres als der Versuch, das Wirken der göttlichen Bestimmung in einer heidnischen Welt nachzuzeichnen […].« (S. 527)

Was bitte ist darin das Wirken Gottes? Dass die egozentrische Julia sich mittels ›Sünde!‹ aus der Affäre zieht, statt das Leben anzupacken? Der Krieg, der erst Zeit gibt, sich an eine langvergangene Liebesaffäre samt allen Verwirrungen zu erinnern, und der in seinem Prozess des Wartens so sehr mit Langeweile getränkt ist, dass eine Person im Leben eines anderen im Erinnern einen Wert bekommt, den sie außerhalb jener Situation ob vergehender Zeit und gelebtem Alltag samt neuer Begegnungen nie erhalten hätte? Vielleicht bedarf es des Glaubens an einen Gott, um diesen Roman auch in jenem von Waugh angestrebten Sinne inhaltlicher Natur zu goutieren? Damit jedenfalls kann ich nicht dienen. Die dichten Szenen universitären Lebens und die Suche dieser jungen Männer nach ihrem Weg, insbesondere jedoch die Figur des spitzzüngigen Anthony möchte ich nicht missen! Kennen Sie noch nicht? Entdecken Sie ihn doch ruhig selbst!