· 

»Die Protokolle der Weisen von Zion« und »Der Friedhof in Prag«. Oder: Die Geschichte eines Plagiats erzählt von Umberto Eco

 

Wer sich eine neue Variante des Romans »Der Name der Rose« erwartet, wird enttäuscht werden, denn Umberto Ecos »Friedhof in Prag« ist bei weitem sperriger: Ein Roman, der von Verschwörung zu Verschwörung huscht, und bei dem über gut ein Drittel der Seiten nichts eindeutig ist; nicht einmal die Rolle des sogenannten ›Erzählers‹, der sich im Roman in Blockbuchstaben verschriftlicht findet, und der korrigierend in die dargelegte Handlung eingreift. Auch die Persönlichkeit der Hauptfigur Simonini scheint lange Zeit nicht recht greifbar – haben wir es mit einer oder mehreren Personen zu tun? Die angedeutete Persönlichkeitsspaltung kann ja bitte nicht des Rätsels Lösung sein, oder doch? Zudem sind unzählige Protagonist*innen an Bord – solch eine Vielfalt an handelnden und nicht-handelnden Wimmelwesen schaffen ansonsten bloß die russischen Klassiker wie Tolstoi oder Dostojevski. Einen Überblick über dieses Übermaß im Figureninventar zu behalten, mag manchem und mancher schwer fallen, vor allem wenn einer dieser Gesellen nur in einem kleinen Abschnitt am Rand des imaginierten Raumes aus Ort und Zeit auftaucht, sogleich wieder verschwindet, hunderte Seiten später wiederkehrt – oder eben nicht.

Zu den »Unnötigen Hintergrundinformationen«, die uns Eco final wohlgelaunt serviert, gehört auch dieser Hinweis: 

»Der ERZÄHLER ist sich bewusst, dass der Leser in der reichlich chaotischen Handlung der hier reproduzierten Tagebücher (mit vielen Vor- und Rückblenden, wie man sie aus dem Kino kennt) den Überblick über die lineare Entwicklung der Fakten von Simon Simoninis Geburt bis zu seinem letzten Eintrag verlieren könnte. Das liegt an der unvermeidlichen Differenz zwischen story und plot, wie man heute sagt, oder schlimmer noch, wie die russischen Formalisten (alles Juden) sagten, zwischen fabula und sjužet oder Intrige im Sinne von Handlungsentwicklungen.« (S. 513) 

Damit sind wir auch bereits an des Pudels Kern angekommen. Denn einerseits ist Ecos Klugheit, das Spiel mit Historie und Detailwissen, die Nase, die er einem wieder und wieder dreht faszinierend zu lesen, andererseits jedoch verunsichert den Lesenden mehr oder weniger von Beginn an der Antisemitismus der erzählenden Hauptfigur, ein Notar und Fälscher diverser Dokumente namens Simonini. Und das nicht zu wenig. Offensichtlich eine beabsichtigte Irritation, die den Lesenden auf sich selbst zurückwirft. 

 

Ecos Story 

 

Das Tagebuch des Simonini, der 1830 geboren ist und dieses Erinnerungswerk 1897 verfasst, stellt – wie Eco oben schon ausführte – den Hauptteil des Romans dar. Die Story ist simpel: Als Sohn eines italienischen Offiziers, der Anhänger der nationalen Revolution von Garibaldi und Mazzini war und daher bald von der Bildfläche verschwand (oder zu verschwinden hatte), wächst Simonini bei seinem Großvater auf, einem überaus katholischen und antisemitischen Mann, der in Juden und Jüdinnen die Verantwortlichen für alles zu sehen glaubte. Hätte es in ihrer Zeit einen Computerabsturz gegeben: Für Simoninis Großvater wäre die Schuldfrage ohne eine Sekunde des Zögerns bereits vor dem Absturz geklärt. Und Simonini? Er tritt als Erwachsener in des Ahnen Fußstapfen.

 

Ecos Plot

 

Nicht weil er an dessen Weltsicht glaubt, sondern weil sie sich gewinnbringend nutzen lässt. Aus Interesse an den an ihn herangetragenen Denkaufgaben wie dieses oder jenes Gerücht zu lancieren sei und aus Lust am Geld, das er dazu benötigt, seiner Vorliebe für exquisites Essen und exzellenten Alkohol zu frönen, lügt, betrügt, mordet und fälscht er – für welche Seite im politischen Ränkespiel auch immer, er kennt in diesem Sein nur drei Vorlieben: überleben, massenhaft Geld verdienen sowie die ›Kunst‹, seine Fälschungen oder Lügengebäude um vermeintliche Fakten derart zu konzipieren, dass sie im Idealfall gleich an mehrere Königshäuser zu verkaufen sind, da sie alle gegenwärtigen Sündenböcke abdecken und daher das Maximum an Geld einspielen werden. 

In Simoninis erzählerischen Gegenwarten [!] wechseln zwar manche derjenigen Personengruppen, welche politisch verantwortliche Interessensgruppen gerne in Misskredit gebracht sehen – andere hingegen – wie jüdische Mitbürger*innen und die Freimaurer*innen – bleiben über das erzählte Jahrhundert unabhängig von Epoche oder Nation potente Sündenböcke.

Da sich Simonini in seinem Intrigenspiel und seiner Lust an der Verkleidung final selbst zu verlieren droht (oder uns dies zumindest glauben lassen will), empfiehlt ihm der junge österreichische Doktor Froïde (»[…] ich glaube so schreibt er sich […]« (Eco S. 48.)), der gerade in Paris weilt, vom Nebentisch in einem Restaurant her, Simonini solle doch sein Leben aufschreiben – was er alsdann tut. Schreibt er. Damit macht er uns zum Zeugen und zur Zeugin seiner verworrenen Lebensgeschichte und seiner Suche nach Klarheit – doch sollten wir dabei nie vergessen, dass wir es mit einem professionellen Falschspieler und Lügner zu tun haben.

Das wird der Plot. 

 

Welt & Fiktion & Weltverschwörungstheorie

 

Und Umberto Eco wäre nicht Umberto Eco würde er sich nicht im Subtext des Romans gleichzeitig auch mit der Frage beschäftigen, wie Welt und Fiktion zusammenhängen. Als in den 1980er Jahren die These aufkam, Texte seien unendlich ausdeutbar, lieferte Eco ein unwiderlegbares Gegenargument: Ginge man von dieser Prämisse aus, würde man Textkörper mit der Welt verwechseln. Nur sie sei unendlich ausdeutbar. Ein Text hingegen könne stets nur ein Ausschnitt der Welt sein, somit aber endlich in seinen Deutungsebenen. Fazit dieser Reflexion ist jedoch auch: Die Welt ist kein Buch, das Buch keine Welt. Selbst wenn Fiktion die Welt begreifen helfe. Oder vielmehr: den Ausschnitt der Welt, den sie abbildee und die Einblicke, die sie in jene gewähre. Hintergrund seines Wetterns dagegen, die Welt als Buch zu lesen, war seine langjährige Beschäftigung mit Weltverschwörungstheorien. Sie stellen, worauf Gustav Seibt in seinem Artikel »Entgifter verlangt Extra-Studien« klug hinweist, »[…] einen Sonderfall des Missbrauchs von Texten als Weltmodellen dar: Sie lesen die Welt als Subtext, als Oberfläche geheimer Machenschaften, die die verwirrende, potentiell unendliche Wirklichkeit auf eine einzige Ursache zurückführen, eben die große Verschwörung, sei es des unterdrückten, aber insgeheim weiterlebenden Templerordens oder anderer Geheimgesellschaften wie Rosenkreuzer, Freimaurer oder Illuminaten.« (Seibt, Gustav: Entgifter)

Dass Eco sich während seiner Studien zu Weltverschwörungstheorien auch mit den sogenannten »Protokollen der Weisen von Zion« beschäftigte, war absehbar, gelten sie doch als die historisch folgenreichste Fälschung aller Zeiten; mitverantwortlich für russische Pogrome, Legitimation für Hitlers systemimmanent genutzten Antisemitismus, Hintergrund zahlreicher Übergriffe auf mosaische Mitbürger*innen. In Ecos »Friedhof in Prag« ist nur die Figur des Simonini erfunden, alle anderen Protagonist*innen dieses Spionageromans rund um die »Protokolle« sind historisch zu belegen und ihre Rolle bei der Entstehung dieses Machwerks ist Faktum. Darauf weist Eco in seinem Nachwort auch nochmals explizit hin, selbst wenn er sich erlaubt habe, aus zwei oder drei Personen einen Protagonisten zu kreieren (S. 513). 

 

Und die Protokolle? Nichts als eine infame Collage

 

Im Hinblick auf die »Protokolle« fragt Umberto Eco: »Hatte wirklich niemand gemerkt, daß diese Collage unterschiedlicher Texte nichts als eine Fiktion war?« (Sammons, Jeffrey L., Wallstein 1998). Eine rein rhetorische Frage mit Verlaub, denn der fiktive Charakter dieser angeblichen ›Protokolle‹, die erstmals in Russland 1897/98 erschienen sind, war alsbald bekannt. Was ihre Wirkung jedoch leider kaum beeinflusste, viel zu verführerisch war das Faktische in ihrem Titel, die vermeintliche Erläuterung die sie inhaltlich allem Übel der Welt gaben. Zu gut passte ihre Fiktion Zahllosen ins politische Konzept.

Eine Collage also. Zu den darin plagiierten fiktiven Texten werden wir später noch genauer kommen. Eingangs sei einmal angemerkt, dieses Machwerk wurde auch von der politischen Situation in Russland beeinflusst, da die Reformen des russischen Finanzministers Sergej Witte auf Kritik stießen; insbesondere seitens des konservativen Innenminister Wjatscheslaw Konstantinowitsch von Plehwe. Man nimmt an, dass die »Protokolle« bewusst intendierten, den Zaren Nikolaus II gegen Witte aufzuhetzen, denn Plehwe behauptete, Witte sei Teil dieser jüdischen Weltverschwörung. Ein Gerücht, das einfach zu etablieren war, da Witte in einem Dialog mit dem vorherigen Zaren, Alexander III, auf dessen Frage, ob es stimme, dass er viel für jene Bevölkerungsgruppe übrig habe, antwortete, es gäbe nur zwei Verhaltensmodi: Entweder der Zar halte es für möglich, alle Juden im Schwarzen Meer zu ertränken – was eine radikale ›Lösung‹ wäre. Wenn er jedoch deren Recht auf Leben anerkenne, dann habe er Bedingungen zu schaffen, die ihnen auch eine menschliche Existenz ermöglichen würden. (Vgl.: Hadassa Ben-Itto) Dieser Reformansatz Wittes genügte … Und erläutert auch, weshalb ihm der Inhalt der ›Protokolle‹ politisch motivierte Sorgen bereitete, denn Inhalt jenes Machwerks ist kein anderer, als das angebliche Bestreben der Juden die Weltherrschaft zu übernehmen.

 

Ohnmacht oder was einmal notiert, nimmt eigene Wege

 

Fakt ist, Zar Nikolaus II, der sich mit Witte nicht verstand, war zuerst von dem Textwerk der »Protokolle« durchaus beeindruckt gewesen. Als jedoch Zweifel an der Echtheit, im Sinne seines Titels, laut wurden, ließ er die Schrift verbieten (Sammons, S. 15.). Was ihre Wirksamkeit nicht eindämmte. Ab etwa 1919 kam es zu einem explosionsartigem Anstieg in der Verbreitung, vor allem durch russische Gegner der russischen Revolution (Sammons, S. 19.), welche diese Schrift in Europa verbreiten, von wo aus sie nach Übersee gelangte.

So erschien das Geschreibsel unter dem Titel »The Jewish Peril« 1920 in England (Samonns, S. 19). Der von den Nationalsozialist*innen bewunderte amerikanische Antisemit Henry Ford ließ das Zeug im gleichen Jahr in seiner Zeitung »Dearborn Independant« unter dem Titel »The International Jew: The World’s Foremost Problem« abdrucken, um 1927 – als ihr Charakter einer Fälschung unwiderruflich feststand – jedwede Verantwortung dafür auf einen Angestellten abzuschieben (Sammons, S. 19). In Deutschland erschien das Machwerk 19919/20 unter dem Herausgeber-Pseudonym Gottfried zur Beek. Dahinter verbarg sich ein gewisser Ludwig Müller, der bereits zuvor Schmähschriften gegen Heinrich Heine publiziert hatte. 1929 verschaffte sich die NSDAP die Rechte an diesem Schriftwerk und ›verkaufte‹ seine Collage nach wie vor als Faktum (Sammons, S. 20). 

 

Bestandteile der »Protokolle« aus der Trivialliteratur

 

Lassen Sie uns noch einen Blick auf den Inhalt werden: Was in den »Protokollen« zu einem widerwärtig antisemitischen Brei vermengt wurde, ist eine Szene aus dem Roman »Biarritz«, eine »hoffnungslos, trivialliterarische Wahnvorstellung« (Sammons, S. 9.), die der Deutsche Hermann Goedsche (1815–1878) unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe herausgab, und in der ein von seiner Hauptfigur belauschtes Gespräch einer Versammlung der Rabbis aller Stämme Israels geschildert wird, bei der sie planen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Maurice Jolys 1864 publizierte Satire »Dialogue aux Enfers entre Machiavel et Montesquieu«, die auf die Regierung Napoleon III anspielt, findet sich gleichfalls in den »Protokollen« plagiiert – wobei jüdischen Sprechenden schlicht die Aussagen in den Mund gelegt werden, die Joly in seinem Dialog Machiavelli zugeordnet hatte.

Man geht in der Forschungsliteratur zu den »Protokollen« davon aus, dass es vor jener ersten russischen Publikation außerdem einen französischen Ursprungstext gegeben habe, dieser gilt jedoch als verschollen. Welche Anregung könnte für eine*n Romanautor*in inspirierender sein? Umberto Ecos Roman nun folgt just dieser Spur und zeichnet die Entstehungsgeschichte der »Protokolle« auf Basis der Fakten und dennoch als Fiktion nach. »Friedhof in Prag« ist deshalb trotzdem keineswegs ein Faction-Roman! Es ist sein Protagonist Simonini, der sich – nach ersten Lehrstücken politisch motivierter Fälschungen mit Versatzstücken aus Alexandre Dumas' »Giuseppe Balsamo« und Eugène Sues »Geheimnisse von Paris« sowie dessen »Geheimnisse des Volkes« – als sein Meisterwerk die Idee einer jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung ausgedacht hat.

 

Rezeption & Reflexion

 

Ecos Roman »Der Friedhof in Prag« wurde von der deutschsprachigen Kritik – nun ja, nennen wir das Kind beim Namen: mehrheitlich verrissen. Zu Unrecht, finde ich. Denn es gebührt ihm – neben allem Wissen, das er uns anbietet – auch Hochachtung dafür, den Versuch gewagt zu haben, die Geschichte der Entstehung des Antisemitismus im 19. Jahrhundert aus Sicht einer absolut unsympathischen Figur zu erzählen, deren Nationalismus, Antisemitismus und Käuflichkeit stellenweise wahrhaft schwer zu ertragen ist. Es ekelt einen vor diesem Mann, um es deutlich zu sagen. Und seine ironische, schwarzhumorige Sichtweise – von Eco gekonnt als Stilmittel eingesetzt, forciert einerseits die Abwehr, teilt man Simonis Einschätzungen nicht, und wirkt andererseits wie ein Lichtblick in der Begegnung mit diesem Anti-Helden, lässt er sich zum Beispiel über die Deutschen und Österreicher aus – die eigene Reaktion referiert folglich primär auf die eigene Weltsicht.

Dass dem negativen Protagonisten Simonini kein Antagonist an die Seite gestellt ist, lässt den Roman zum riskanten Unterfangen werden. Alle Figuren, die uns länger als einen Absatz beschäftigen, sind geradezu ein Ausbund an Unmoral und Grausamkeit, eine Ansammlung des ›Schlechten‹ an und für sich. Solch ein Versuch ist immer riskant, denn manche Lesenden werden es daher angewidert beiseite legen, andere können kaum umhin sich zu fragen, weshalb Eco dieses Erzähluniversum just so schuf wie er es schuf. Von dort bis zu dem Gedanken, ob darin nicht vielleicht sogar ein klein wenig an Sympathie mitschwinge, für diese krausen Köpfe, diese Männer, die über Leichen gehen und mit der Verbreitung infamer Lügen kein Problem haben, ist es alsdann nicht mehr weit. 

Genau darin liegt die Crux dieses Settings! Doch es ist nicht die Persönlichkeit des Autors, der Autorin, sondern die Abwehrhaltung des Lesenden, die hier zum Tragen kommt – und die unweigerlich einzig der Frage folgt, wann ihr oder sein Maß voll sei. 

Vielleicht ist es deshalb kein Wunder, dass die romanischsprachige Kritik Umberto Eco unfreiwilligen Antisemitismus (»antisémitisme involontaire«) vorwarf. In Spaniens Presse wurde sogar eine Anklage daraus erdichtet, die angeblich in Italien ausgesprochen worden sei – all dies oft noch vor Lektüre des Romans, dem man hauptsächlich vorwarf, was man über ihn zu wissen glaubte: Er sei der Versuch, den Antisemitismus anzuprangern, indem man sich an die Seite der Antisemiten stelle (»[de] dénoncer l’antisémitisme en se mettant du côté des antisémites« – Vgl.: Observateur). Was dazu führte, dass der Rabbiner Riccardo De Segni in einer Debatte in »l’Espresso« Umberto Eco beschuldigte, die Nachricht, welche der Autor seinen Leser*innen in jenem Werk mitgebe, sei doppeldeutig. Dies führe Riccardo De Segni darauf zurück, dass es sich dabei nicht um ein wissenschaftliches Buch handle, welches sozialgeschichtliche Phänomene analysiere und erläutere, sondern um einen Roman, der auf einem schlüssigen Raster basiere. Und der überzeuge. Zum Beispiel im Hinblick auf die angestrebte Weltherrschaft, doch der Lesende habe nicht die Mittel das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, so Riccardo De Segni.

[Originalaussage: Je pense que le message d’Umberto Eco est ambigu. Et que cela est dû au fait que son livre n’est pas un livre scientifique, qui analyse et explique des phénomènes sociaux, mais un roman. Avec une trame convaincante. Et il finit par convaincre.» Par exemple que «les juifs veulent désarticuler la société et dominer le monde», alors que le lecteur n’a pas les moyens de «faire la différence entre le vrai et le faux». (Vgl.: Observateur)] 

Doch; hat er durchaus, der Lesende, die Mittel, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, nutzt er oder sie den Kopf nicht bloß, damit die neueste Hutmode der Welt präsentiert werden könne. Erstens gibt es in unserem Jahrhundert durchaus ein Bewusstsein für Fiktion, selbst wenn es – wie zahlreiche Debatten mit Lesenden über ihr Bestehen auf autobiographischen Elementen in fiktiven Werken belegen – noch nicht so weit entwickelt sein mag wie wir Literat*innen uns dies gerne wünschen. Und zweites und davon abgesehen: 

Dieser Vorwurf ist per se unsinnig. So wie ›A‹ eben nicht ›B‹ ist; oder ein Erzähluniversum nicht die Welt. Es besteht doch absolut eine Differenz zwischen ›sich auf die Seite von stellen‹ und ›aus Sicht von erzählen‹ – und bei Ecos Ausgestaltung handelt es sich eindeutig um ›aus der Sicht von erzählen‹. Man sitze doch Simoninis Falschspielerei (und Ecos Erzählkunst) nicht derart naiv auf! 

Lassen Sie uns außerdem ein Gedankenspiel versuchen: Wäre Simonini ein Serienkiller, der seine weiteren Nachahmer in der Realität fand, ein Jack the Ripper eventuell, und würde aus seiner Sicht heraus erzählt werden, käme alsdann ein einziger Mensch auf die Idee, Umberto Eco mörderischen Frauenhass zu unterstellen? Oder wurde Süßkind des kranken Geistes beschuldigt, Frauen zu ermorden, um ihren Geruch zu konservieren? Oder debattieren wir hier – ob des Themas ›Antisemitismus‹ und unseres Unbehagens als Lesende – eben doch gänzlich anderes? Geht es eventuell eher um die Frage ›Was darf Literatur?‹, thematisch nämlich, und ist es den Lesenden erlaubt, die Gestaltung, die eine*n Erzähler*in vorsieht, der oder die nicht identisch mit Autor*in ist, zu ignorieren – zumindest bei bestimmten Themenbereichen, die an unser historisches Gewissen rühren – zum Beispiel im Hinblick auf den Antisemitismus? Simonini ist nämlich weder sympathisch, noch kann ich mir auch nur im Entferntesten vorstellen, jemand sei nach Lektüre des Romans plötzlich zum Antisemiten geworden; oder freimaurerphob. Falls nun einer doch die Hand hebe, darf ich alsdann die Vermutung äußern, das habe er oder sie wohl bereits mitgebracht?

Interessant ist zudem, dass die deutsche Kritik vor allem den Einwand vorbrachte, es bedürfe des Internets und zahlreicher Lexika als Co-Werke, um diesen Roman ›zu verstehen‹. Ihr Lieblingsargument, will sie ein Werk totschlagen! Es ist so wunderbar simpel, schont obendrein das eigene Ego gar vorzüglich. 

Gut, es ist schon wahr, dass manche der französischen und italienischen historischen Entwicklungen deutschsprachige Leser*innen fordern mögen, die ohne Detailwissen über jene Kapitel europäischer Geschichtsschreibung ihre Lektüre beginnen. Doch wer mehr erfahren will, als im Roman an Hintergründen stringent und entsprechend des betrachtenden Erzählwinkels thematisiert, hat doch bitte durchaus die Freiheit, zwischendurch oder nach der Lektüre eigene Bildungslücken zu schließen und eigenständig nachzulesen! »Der Friedhof in Prag« ist ja doch bitte kein Roman für Dreijährige! Man darf sich auch mittels des im Wallstein Verlag publizierten Werks zu den ›Protokollen‹ informieren, sollten sie einem bis dahin noch nicht bekannt gewesen sein. Der enthält neben dem historischen Text auch die Romanszene aus »Biarritz« und geht einführend auf die diversen Quellen dieser Fälschung sowie auf ihre Wirkungsgeschichte ein. Ohnedies sollte dieses Werk mE in keiner wohlsortierten Hausbibliothek fehlen, gerade in Zeiten wie diesen.

Just all dieser Einwände wegen sei nochmals darauf verwiesen, dass ein Roman ein Ausschnitt einer Welt sei; nicht ebenjene. Zu seinen Aufgaben zählt es auch nicht, ein Jahrhundert in allen Details zu erläutern, sondern erzählerisch ein in sich schlüssiges Universum zu kreieren – aus Sicht einer oder mehrerer Figuren. »Der Friedhof in Prag« ist genau dies: ein Roman, der Einblicke gewährt. Dass Ecos Ausschnitt einer Welt zudem spannend ist und Lust auf mehr macht – auch auf ein Mehr an Wissen! –, das kann man ihm doch wohl nicht nachteilig auslegen.

 

(Quellen:

Eco, Umberto: Der Friedhof in Prag. München: Carl Hanser Verlag 2011.

Eco, Umberto: Bekenntnisse eines jungen Schriftstellers. München: Carl Hanser Verlag 2011.

 

Ben-Itto, Hadassa: ›Die Protokolle der Weisen von Zion‹: Anatomie einer Fälschung. Vgl.: https://books.google.at/books?id=4gLYAgAAQBAJ&pg=PT37&lpg=PT37&dq=Witte+Sergej+Judentum&source=bl&ots=NM4psgJD0i&sig=63VrNwQbVVwQVEGgzGg42WCjcwg&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwikv_eTvdjbAhURaVAKHe3ODE0Q6AEIWTAO#v=onepage&q=Witte%20Sergej%20Judentum&f=false

Kaube, Jürgen: Der Zettelkasten des Weisen von Mailand. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/umberto-eco-der-friedhof-in-prag-der-zettelkasten-des-weisen-von-mailand-11483781-p2.html

Padovani, Marcelle: L’affaire Umberto Eco. https://bibliobs.nouvelobs.com/romans/20110315.OBS9695/l-affaire-umberto-eco.html

Pressburger, Giorgio: Umberto Eco. Le nom du complot. http://next.liberation.fr/livres/2011/03/17/umberto-eco_722128

Sammons, Jeffrey L. (Hg.): Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlagen des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar. Göttingen: Wallstein Verlag 1998.

 

Seibt, Gustav: Entgifter verlangt Extra-Studium. http://www.sueddeutsche.de/kultur/der-friedhof-in-prag-von-umberto-eco-entgifter-verlangt-extra-studium-1.1157648)