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Seite 33: Guillermo Cabrera Infante: Drei traurige Tiger

Guillermo Cabrera Infantes Meisterwerk »Drei traurige Tiger« (Suhrkamp Verlag) ist ein Spiel der intendierten Irritation, die uns Lesenden auch das Lebensgefühl der jungen Generation im vorrevolutionären Havanna näherbringen soll. Würden wir in die vorhergehenden Seiten oder die nachfolgenden Abschnitte blättern, würden wir erkennen, dass bei Cabrera Infante jede Erzählstimme in auffallender Weise einen eigenen Klangraum hat. Wir jedoch widmen uns hier demjenigen der Seite 33:

 

Irritation tritt bereits beim 2. Wort ein – ›habse‹ – und informiert uns, wir haben es hier mit einem Romanabschnitt zu tun, der einer gesprochenen Sprache verpflichtet ist; und mehr noch als das: der wiedergegebene Duktus dieser Ich-Erzählerin, von der wir weitaus eher als Ich-Sprecherin reden sollten, teilt uns implizit einiges über ihren Soziolekt mit: eine saloppe Alltagssprache herrscht vor, eventuell mit eher geringerem Bildungshintergrund? Hierauf würde die gewählte grammatikalische Struktur verweisen – doch in Zeile 18–19 wird deutlich, dass die gehobene Sprachvariante offenbar bewusst nicht als Alltagssprache gepflogen wird. Das ungewohnte Schriftbild der gesprochenen Sprache bedingt eine verlangsamte Lektüre, was sicherlich intendiert ist: Wir tasten uns lesend an eine (neue?) Protagonistin heran …

Der erste Satz – »Ich habse einfach drauflosredn lassn […]« – wird uns zudem in einer Art Rechtfertigung mitgeteilt. Weder in Zeile eins noch zwei erfahren wir, was »die Alte« (Z 3) eigentlich gesagt habe: Es ist ein sogenanntes ›Jump in‹ am Kapitelbeginn, d.h. er setzt mit einem Sprung mitten ins Geschehen unter Aussparung der Intention, ein szenisches Setting zu etablieren. Was sich zuvor ereignet hat, erfahren wir erst allmählich. 

Die aufgeregte Erzählung der Ereignisse in der fiktiven Welt jenes Romans kennt in diesem Kapitelanfang keinen Adressaten: Weder wird eine Szene zu Beginn etabliert, in der jenes Ich ein Gegenüber hätte (eine andere Figur im Erzähluniversum) noch wird rein perspektivisch ein ›Du‹ aufgebaut – dieses Ich erzählt schlicht und ergreifend irgendjemandem – demnach auch uns, den Leser*innen. Diese Unmittelbarkeit korrespondiert mit dem einer Rechtfertigung verpflichteten sprachlichen Duktus und schafft in Übereinstimmung mit ihm ein gedankliches Bild, eine Vorstellung der aktuellen Sprechsituation, die trotzdem nirgends Erwähnung findet – einzig der erinnerte Dialog, er nimmt allen Raum ein.

Als Protagonistin wird dieses Ich als (neue) Figur folglich zu Beginn dieses Abschnitts nicht-eingeführt eingeführt: eine Momentaufnahme aus deren Leben wird etabliert, ihr primärer Bewusstseinsinhalt – der erinnerte Schlagabtausch mit einer älteren Frau, die offenbar eine mütterliche Funktion hat – wird wiedergegeben. Das atemlose, beinahe schon triumphierende Schnattern, findet sich in der Interpunktion des Erzählabschnitts gespiegelt: kein Punkt. Vorherrschende Satzzeichen sind die Kommata. Ansonsten werden drei Doppelpunkte gesetzt (Zeile 5, 22 und 28), wobei sie alle die gleiche Funktion erfüllen: Der Doppelpunkt wirkt in der Wiedergabe dieses Sprechaktes wie eine Ouvertüre für den nachfolgenden Kommentar und unterstreicht hierdurch dessen Bedeutung, er wird uns relevante Informationen über die Ich-Erzählerin vermitteln, die durch die Zeichensetzung zusätzlich hervorgehoben werden: 

»[…] ich will ganz einfach mein Spaß ham […], ich werdoch nich mein ganzes Le’m hier wiene Mumie in som Grab hockng […]« (Z 5)

sowie 

»[…] wer hat dir denn gesagt […], daß der Karnevaln Mann is […]« (Z 28)

Noch eine Anmerkung zum zweiten Doppelpunkt (Z 22), der den nachfolgenden Satzteil einleitet:

»[…] du kannsdoch gehn wanns dir in Kram paßt, Kindchen […]« (Z 22)

Dieser hervorgehobene Erzählinhalt aus dem Mund der Älteren verhält sich kontrapunktisch zum Gesamtinhalt: Er lässt sich vorerst nicht entschlüsseln, widerspricht der restlichen Darstellung (Pulver (Z 2), Geschrei / Trommelfell (Z 17), Leier (22), Geschimpfe (Z 33)). Wir ahnen zuerst und wissen alsdann, dass dieser Satzinhalt nicht der Wahrheit entsprechen kann, folglich eine Drohung im Sinne eines ›aber wenn du das tust, dann‹ nach sich ziehen muss. Das weckt Neugier, dient dem Anstieg des Spannungsbogens. 

Interessant ist außerdem die zweifache Nutzung der Klammer, mittels derer ein Einschub angebracht wird. Bei der ersten Ergänzung handelt es sich um 

»[…] (genauso habichs gesagt) […]« (Z 4) 

Bei der zweiten: 

»[…] (jaja, richtig gesiezt habich sie, ich weiß schon, wann ich ein auf fein machn muß) […]« (Z 18–19) 

Beide beziehen sich demnach auf die Art und Weise des erinnerten Sprechaktes (oder dessen Darstellung in der erzählerischen Gegenwart der Ich-Sprecherin), und etablieren hierdurch ein System; der zweite Einschub verrät zudem die bereits erwähnte Divergenz zwischen Alltagssprache und anderen Sprachvarianten, die zum Zwecke der Ironisierung eloquent genutzt werden.

Die Wendungen »sag ich«, »ich sag«, »sagtse« »un sie sagt« rhythmisiert zudem den gesamten Text – 15 Mal findet sich diese Zuordnung des Geäußerten zum Sprechenden. Das entspricht durchschnittlich also beinahe jeder zweiten Zeile. Synonyme finden sich kaum, einmal heißt es, die ältere Frau »schreit« (Z 16), einmal » […] kommtse mir wieder mit derselben Leier […]« (Z 22). Der Verweis auf die Leier ist auch deshalb interessant, weil er sich wie ein ironischer Kommentar zum Rededuktus der Jüngeren liest: Die Wiedergabe des Streitgesprächs folgt dessen eigenen, ihm impliziten Rhythmus aus Vorwurf, Entgegnung, neuem Vorwurf – ziellose Ellipsen einer Leier. 

Die Statistik – 15 Mal in 33 Zeilen – verwischt dennoch das Bild, denn das Verb ›sagen‹ wird insbesondere dort als rhythmische Instanz genutzt, wo die Erzählung der beiden kontrastierten Sprechinhalte junge Frau / ältere Frau aufeinandertreffen. Wird vom Wechsel der Sprecherinnen berichtet, findet sich jedes Mal eine Häufung (Z 11–16; Z 27–29; Z 30), was diesen Sprung von einer zur anderen im Gedächtnis der Leser*innen verankert. Die Anlehnung an den Akt des mündlichen Erzählens – mit seiner Vorliebe für die simpelste Variante der Verba Dicendi – wird außerdem durch die Präferenz für das Verb ›sagen‹ gestützt. Vorgetäuscht soll so eine Wiedergabe werden, die den Tatsachen verpflichtet ist, sie mehr oder weniger kommentarlos aneinanderreiht: Sie sagte, daraufhin ich, dann sagte sie, und ich … Die Fiktion gibt demnach vor, eine Wahrheit zu berichten; oder zumindest diejenige, von der die Ich-Sprecherin ihre Zuhörer*innen im fiktiven Raum innerhalb des Romans (sowie im realen außerhalb) überzeugen will. Zeitgleich wird offensichtlich, wie stark das ›Ich‹ seinen Bericht über jenen Dialog färbt. Obgleich der Abschnitt als Prosa naturgemäß konstruiert ist, wirkt er während der Lektüre nicht so. Das Ende des Streitgesprächs wird dennoch nicht – wie bei vielen Alltagsdialogen üblich, die den Prozess selbst nachrangig erwähnen – vorweggenommen.

Trotz fehlender Verankerung in einer räumlich/zeitlichen Szenerie und keiner Angabe zu den Zuhörenden wird uns, während wir dem Sprechstrom folgen, nach und nach inhaltlich so einiges enthüllt. Zwischen seinen Zeilen erfahren wir: Unser Ich ist weiblich, relativ jung, jedenfalls unverheiratet, hat eine Vorliebe für den Tanz; ihre Mutter ist verstorben. Ihr Lebenshunger, ihr Wunsch, mitzumischen, nicht ›lebendig im Haus begraben‹ den anderen beim Amüsement zusehen – all das bedingt den Konflikt mit jener älteren Schwarzen, die sich mütterlich für das Mädchen oder die junge Frau, die dieses Ich ist, verantwortlich fühlt, und die voraussieht, dass der Tanz, gerade zur Zeit des Karnevals, anderes nach sich ziehen wird – Sex, eine Schwangerschaft. Beides wird bloß direkt-indirekt angedeutet:

»[…] mir is doch völlig wurscht wasde mit deim Le’m un dem Ding zwischn dein Bein machst […]« (Z 23––24).

Ein Kommentar, der wie jener des ›na dann geh doch …‹, dem restlichen Inhalt widerspricht und so dem Spannungsbogen dient …

 

 

Als Referenztext genutzt würde ich die Aufgabe einer multiperspektivischen Erzählung, die sich in kleine Abschnitte gliedert, stellen. Jeder Absatz eine Figur, die indirekt eingeführt wird, unmittelbar zu Wort kommt, sich über ihren Sprechakt ohne jedweden Kommentar charakterisiert. Umrahmt sollen sie von einem perspektivisch etablierten Setting werden, welches Raum und Zeit verdeutlicht – wie dies gearbeitet wird, sei es mit narrativen Helfern oder aus einer Figur heraus, bleibt den eigenen Vorlieben überlassen …

 

Quelle:

 

Cabrera Infante, Guillermo: Drei traurige Tiger. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1990.