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Flauberts »Madame Bovary«. Oder. Zu einer Anklage. Oder der Sprung an die Seite III

Im Gegensatz zu Fontanes »Effi Briest« begegnete mir Flauberts »Madame Bovary« in all den Jahren nach der ersten Lektüre wieder und wieder; nicht nur ob seiner Rolle als Wegbereiter der Moderne – meine Studierenden kennen wohl allesamt den Verweis auf den in der »Bovary« getätigten grandiosen Ansatz zu einer Wir-Perspektive, die Kommunizierenden Röhren – und mein Zähneknirschen über das Elend der deutschsprachigen Übersetzung.

 

 

Die Story dieses Romans jedenfalls ist hinlänglich bekannt und daher rasch erzählt: Das Muttersöhnchen Charles, wiewohl bereits mit einer 45-jährigen, hässlichen, aber (vermeintlich) reichen verwitweten Frau verheiratet, die fortwährend eisige Füße hat, was Charles abtörnt, verguckt sich in das junge Mädchen Emma, die Tochter eines Großbauern, die ihrem Vater, Charles Patient, den Haushalt führt. Nach der Entdeckung seines Tendres für die Kleine durch seine zu krankhafter Eifersucht neigenden Ehefrau, verzichtet Charles auf weitere Besuche oder Briefe, nicht weil er so heroisch und beherrscht wäre, er scheut schlicht jeden Konflikt. Seine Frau tut ihm den Gefallen, vor Wut über die bloße Existenz Emmas sich derart zu ereifern, dass sie einen Blutsturz erleidet und danach stirbt. Bahn frei! Und Charles heiratet sofort nach Ende der Trauerzeit Emma, obgleich seine Mutter ihn vor dieser Verbindung warnt. Als Lesender schreibt man dies zu jenem Zeitpunkt noch ihrer Angst vor einer Entthronung als unantastbarer Mittelpunkt in Charles Leben zu – und ihrem Neid. Denn Emma ist schön und elegant; doch außerdem ist sie eine romantische Schwärmerin, die überaus gerne Romane liest und sich für Musik begeistert. Schon kurz nach der Hochzeit stellt Emma daher fest, dass sie nicht glücklich sei; und es gibt niemanden, mit dem sie über diese ernüchternde Enttäuschung ihrer romantisiert-verzerrten Eheerwartungen sprechen kann. Nicht nur, weil in ihrem Umfeld keine Freundin lebt, sondern auch weil Emma die Worte fehlen, um jenes unfassbare Unbehagen auch nur irgendwie in Worte zu fassen: 

»Mais comment dire un insaisissible malaise, qui change d’aspect comme les nuées, qui tourbillonne comme le vent? Les mots lui manquaient donc, l’occasion, la hardiesse.« (FG, S. 100) 

Dieses Dilemma spiegelt sich auch perspektivisch in der auktorialen Erzählhaltung, die weder Emmas Sprachlosigkeit zu durchdringen vermag, noch sie durchgängig unkommentiert szenisch darzustellen in der Lage ist. Es werden von Flauberts ersten – und hier später angeführten – Ansätzen einer Perspektivenveränderung, die wir in diesem Roman miterleben können, bis zu einer dichten Unmittelbarkeit der Darstellung noch rund fünfzig Jahre vergehen …

Mehr und mehr erscheint Emma ihr Mann Charles, möge er nun Arzt sein oder nicht, als bäuerlicher Tölpel, dem es an Eleganz sowie an Ehrgeiz fehle. Die Entfremdung beginnt das Regiment zu führen – falls je eine Vertrautheit zwischen den beiden existierte, was ich bezweifle, denn erzählt wurde uns nur von wenigen, mit langen Phasen des Schweigens durchsetzten Gesprächen, als Charles einst Emmas Vater behandelte. Ihr Ärger über die Unfähigkeiten ihres Mannes und ihre Gefangenschaft in einem provinziellen Setting bringt Emma dazu, mehr und mehr Charles zu demontieren; und der Erzähler gibt ihr seinen Segen: 

»La conversation de Charles était plate comme un trottoir de rue, et les idées de tout le monde y défilaient, dans leur costume ordinaire, sans exciter d’emotion, de rire ou de rêverie.« (FG, S. 101) 

Was will man bitte mit solch einem Mann anfangen, dessen Gespräche platt wie Pflastersteine sind? Man sucht sich einen anderen Dialogpartner! Der junge Léon bietet sich hierfür mehr als an, und die Zeit mit ihm vergeht wie im Flug – im Dialog über Musik und Literatur. Blöd nur, dass Léon so jung und moralisch ist, weshalb er ob seiner Zuneigung lieber still leidet und alsdann das Weite sucht, unmöglich kann er seine Liebe einer verheirateten Frau mitteilen, oder? Bis dahin hat Emma trotz aller Überspanntheiten noch unsere Sympathie … Zumindest ab und an. 

Es folgt der Auftritt des erfahrenen Verführers Rodolphe Boulanger von La Huchette, sogleich nach Léons Abgang. Er hat bei Weitem weniger Skrupel, ist übrigens ohnedies gerade seiner derzeitigen Geliebten überdrüssig – und entflammt nicht. Oh nein, er zieht die strategische Erstürmung einer Bastion eindeutig vor. Daher entwirft Rodolphe »[…] la partie politique de l’entreprise […]« (FG, S. 197), also einen Schlachtplan. Sein größtes Problem hierbei ist, wie man sich so einer kleinen Landarztfrau, wie Emma es ist, nach erfolgtem Genuss und ohne Rambazamba wieder entledigen solle. Dafür jedoch findet Rodolphe, nach erhaltenen Geschenken und zunehmenden Gleichgültigkeit ob ansteigender Unterwürfigkeit Emmas, schon eine (für ihn) genehme Lösung: Er vereinbart mit ihr die Flucht, schiebt den Termin hierfür Woche um Woche hinaus, um final am Morgen des Fluchttages einen Brief zustellen zu lassen des Inhalts, er sei nicht in der Lage, die arme Frau ins Unglück zu stürzen, heute liebe sie ihn, ja, doch morgen –? Solches würde er nicht ertragen, weshalb er auf Emma verzichten müsse, was ihm unermesslich schwerfalle und um sich diese Qualen zu erleichtern, werde er sofort verreisen, bei Erhalt des Briefes vielmehr bereits unterwegs sein, sie solle ihn nicht suchen … Dazu ist Emma ohnehin nicht in der Lage, lässt den Brief mitten in der Dachkammer fallen, wankt hinaus und fällt um. Monatelang ist sie krank: Schwächeanfälle, Nervenfieber, Ohnmachten – der gesamte Reigen. Ihr Zustand verursacht Charles unerträgliche Sorgen um die Frau, die er über alles liebt. Genesen ist sie zwar irgendwann, doch apathisch und ablehnend bleibt sie, weshalb Charles sich entscheidet, sie in die Oper nach Rouen auszuführen – vielleicht brauche sie jene Luftveränderung dringender als alles andere? Und recht hat er. Denn dort sieht sie Léon wieder, der sich nun endlich mit seiner Liebeserklärung vorwagt – wenn nicht jetzt, wann dann? Und so wird sie seine Geliebte. Oder er der ihre. Das ist irrelevant. Wesentlich ist, dass sich fortsetzt, was mit Rodolphe schon begann: Emma, ewig in Sorge, nicht mehr geliebt zu werden, gibt Charles’ Geld mit vollen Händen aus, und ist keines da, leiht sie sich welches vom Kaufmann Lheureux, nimmt Wechsel auf Wechsel auf, entwendet hinter Charles‘ Rücken das Patientenhonorar, und geht dem geschickten Lheureux nach und nach vollständig ins Netz. Nicht nur die permanenten Reisen nach Rouen sind für Emmas horrende Ausgaben verantwortlich, oder die Geschenke für ihre Liebhaber: Sie will vor allem sich selbst das luxuriöse Leben ihrer adeligen Romanheld*innen gönnen, müsse sie schon in der Provinz versauern: neue Teppiche, Vorhänge, Möbelstoffe, ihr bewunderter Körper stets nach der neusten Mode gekleidet, selbst den schicken Pariserinnen stehe sie in Punkto Eleganz in nichts nach, heißt es einmal, und Charles, der Tölpel, ist noch stolz auf seine Frau und das exquisite Heim – ohrfeigen könnte man die beiden für diese einfältige Dummheit, niemals zu überlegen, womit all das denn beglichen werden solle. Charles jedenfalls spielt vergnügt im Schulden-Spiel mit, um Emma ja nichts abschlagen zu müssen, sodass sich Lheureux an den beiden Dummköpfen eine goldene Nase verdient – bis ihnen das Wasser bis zum Hals und der Gerichtsvollzieher an der Türschwelle steht. 8.000 Francs werden gefordert. Sofort. Denn die mahnenden Schreiben hat Emma ungelesen beiseitegelegt. Natürlich gelingt es ihr nicht, jene Summe aufzutreiben. Ihrem Léon schlägt sie sogar in ihrem grenzenlosen Egoismus eine Unterschlagung in der Kanzlei vor, in der er arbeitet, ein Ansinnen aus dem er sich zumindest herauswinden kann. Sogar ihren einstigen Liebhaber Rodolphe bittet sie um Hilfe – erfolglos. Sich mit ihr vergnügen würde er gerne, doch wegen ihrer finanziellen Frage, wird er taub und lustlos. Dem Notar hat sie zuvor auf sein eindeutiges Angebot noch geantwortet, sie sei zu beklagen, doch nicht zu kaufen (»Je suis à plaindre, mais pas à vendre!« (FG, S. 378)). Dass es sich bei Rodolphe kaum anders verhielte, kommt ihr nur schemenhaft in den Sinn. Rettungslos verloren fühlt sie sich, und keiner der Männer, denen sie doch alles gab, sei so großzügig, ihr nun mit jener für diese betuchten Herren doch sicher geringen Summe auszuhelfen …

Vom jungen Apothekerlehrling, dessen erotische Träumereien schon länger um ihre Person kreisen, lässt sie sich daher kurzerhand das Laboratorium unter einer hanebüchen unsinnigen Ausrede aufschließen, stopft sich dort hastig eine Handvoll Arsenik in den Mund, droht dem entsetzten Jüngling mit beruflichen Konsequenzen, falls er es wage, ein Wort darüber zu verlieren, geht nach Hause und legt sich ins Bett, um zu sterben. Was Tage dauert. Erbrechen, heftiger Durst, Schüttelfrost, schwacher Puls und Störungen des Sehfeldes – Flaubert als Sohn und Bruder eines Arztes recherchierte genau! Und Charles? Sitzt an ihrem Sterbebett, zieht in panisch-hilfloser Angst wegen der geliebten Frau den Apotheker Homais sowie zwei renommierte Ärzte aus Rouen hinzu, um herauszufinden, was Emma fehle – bis jede Hilfe zu spät kommt. Sie stirbt. Er trauert. Wehklagt selbst dann noch um sie, als er Jahre später die Briefe Léons und die Zeilen Rodolphes findet, trauert so sehr, dass er sich von aller Welt abschottet, mit allen bricht, keine Patienten mehr empfängt …; bis er eines Tages auf die Anrede seiner Tochter Berthe nicht mehr reagiert, sondern tot von der Gartenbank kippt, als sie ihn antippt. So kommt es, dass Berthe von den einst konkreten Plänen zu ihrer Zukunft väterlicherseits – wegen des hochfliegenden Lebensentwurfs der Mutter – nichts bleibt. Sie wird Spinnerin; derweilen steigt die Familie des Apothekers kontinuierlich auf:

»Depuis la mort de Bovary, trois médecins se sont succédé à Yonville sans pouvoir y réussir, tant M. Homais les a tout de suite battus en brèche. Il fait une clientèle d’enfer; l’autorité le ménage et l’opinion publique le protège. Il vient de recevoir la croix d’honneur.« (FG, S. 425)

Wer Französisch kann, dem ist sicherlich bereits aufgefallen: Flaubert hat eine Vorliebe für sprechende Namen – Rodolphe heißt mit Nachnamen Boulanger (Bäcker) und der Name seines Gutes ist eine Diminutivform zu ›la huche‹, was nichts Anderes bedeutet als ›Brotkasten‹; der infame Wucherer nennt sich Lheureux (was man in etwa mit ›der Glückliche‹ übersetzen könnte), ein Präfekturrat, der an entscheidender Stelle im Roman ein Loblied auf die Landwirtschaft singt, nennt sich Lieuvain – also ›aussichtsloser Ort‹; und der Apotheker trägt in seinem Namen Homais das ›-mais‹ (›aber, allerdings)‹ und erinnert in der ersten Namenssilbe klanglich an das Wort ›homme‹ für ›Mann, Mensch‹ und so weiter und so fort. – Und der Name Bovary? Entstand auf der Reise nach Ägypten, als Flaubert in einem Hotel Gast war, dessen Wirt Bouvaret hieß. 

So viel mal zur inhaltlichen Paraphrase – etwas salopp und ungemein verkürzt, ich gebe es gerne zu, doch soll uns hier ja auch Platz für die Analyse bleiben – wer alle Details des Romans erfahren will, ist herzlich eingeladen, nach diesem Klassiker zu greifen. 

Was so grandios an dieser »Madame Bovary« ist, dass es sich lohnen könnte? Der Kunstgriff der Kommunizierenden Röhre, um nur ein Beispiel gleich vorweg zu nennen. Der findet sich für alle Neugierigen im zweiten Teil des Romans, in Abschnitt VIII auf dessen 11. Seite (in der französischen Taschenbuchausgabe des Verlags Flammarion: S. 208–218). Unter Kommunizierenden Röhren versteht man in der Literaturwissenschaft zwei Handlungsstränge, wobei eine die andere kommentiert, ergänzt und erweitert. Flaubert unterbreitet sie uns ›gleichzeitig‹ – im Sinne der Narration, in der ›gleich‹ immer minimal verschoben bleiben muss. Auf den ersten Blick jedoch haben die beiden in ihrer jeweiligen erzählerischen Gegenwart nichts miteinander gemein, und dennoch verlöre die eine ohne die Potenz der anderen an Gewicht und Kraft. Klingt kompliziert? Ist es nicht. Stellen Sie sich einen Marktplatz vor, schöne Tribüne, ein Rednerpult oben, Volk unten, und nun beginnt ein honoriger Herr – Präfekturrat Lieuvain nämlich – von dort oben zu quasseln, singt sein Loblied auf die Landwirtschaft und ihren Segen, natürlich erwähnt er auch, wie sehr sich doch der König für seine Bauern engagiere – ja, in der Vergangenheit habe man die vernachlässigt, das aber habe sich zu verändern begonnen, schließlich habe man erkannt, sie seien die tragende Kraft der Nation usw. usf. So plappert er von oben vor den Bürger*innen und der Bauernschaft unten, die ihm alle zustimmend zunicken, bis – um allem noch ein Krönchen aufzusetzen – eine Medaille verliehen wird: für besonders ausufernde Dienstbarkeit während eines ganzen Frauenlebens – und zwar an eine runzelige, von der Gicht geplagte, stoische Magd: 

»Dans la fréquentation des animaux, elle avait pris leur mutisme et leur placidité. C’était la première fois qu’elle se voyait au milieu d’une compagnie si nombreuse ; […] elle demeurait tout immobile, ne sachant s’il fallait s’avancer ou s’enfuir, ni pourquoi la foule la poussait et pourquoi les examinateurs lui souriraient. Ainsi se tenait, devant ces bourgeois épanouis, ce demi-siècle de servitude.« (FG, S. 217)  

Quer geschnitten mit diesem Palaver des Herrn Lieuvain – wir erinnern uns: ›aussichtsloser Ort‹ –, der sich nur in ›lieux communs‹ – also ›Gemeinplätzen‹ – ergeht, wird eine andere, nicht weniger gehaltlose Wechselrede: Im ersten Stock des Amtshauses sitzt Emma Bovary der guten Sicht auf das Spektakel wegen am Fenster, und Rodolphe, verborgen im Schatten hinter ihr, übt sich in der praktischen Umsetzung seines Schlachtplans. Es ist sein verführendes Liebesgesülze, welches in die Propagandarede des Herren vom Landwirtschaftsministerium hineingeschnitten ist. In der kommentierten französischsprachigen Werkausgabe des Romans wurde diese Wechselrede übrigens auch visuell markiert: So finden sich für den Präfekturrat Lieuvain die doppelten Guillemets der direkten Rede, während das Verschwörerische in Rodolphes Säuseln mit Gedankenstrichen am Zeilenbeginn betont wird. (In meiner aus einem öffentlichen Bücherschrank entnommenen, so oder so nicht recht zufriedenstellenden Übersetzung ins Deutsche von Albert von Streerbach, die der Ueberreuter Verlags-Ausgabe folgt, fehlt diese optische, den Lesefluss erleichternde Differenzierung. Mehr zur Problematik der Translation dieses Meisterwerks der Weltliteratur später …)

Wie das klingt, diese Wechselrede? So, zum Beispiel, der Festredner beginnt:

»[…] Et je n’entends pas, messieurs, cette intelligence superficielle, vain ornement des esprits oisifs, mais plus de cette intelligence profonde et modérée, qui s’applique par-dessus toute chose à poursuivre des buts utiles, contribuant ainsi au bien de chacun, à l’amélioration commune et au soutien des États, fruit du respect des lois et de la pratique des devoirs…«

– Ah! encore, dit Rodolphe. Toujours les devoirs, je suis assommé de ces mots-là. Ils sont un tas de vieilles ganaches en gilet de flanelle, et de bigotes à chaufferette et à chapelet, qui continuellement nous chantent aux oreilles : « Le devoir! le devoir! » Eh! parbleu! le devoir, c’est sentir ce qui est grand, de chérir ce qui est beau, et non pas d’accepter toutes les conventions de la société, avec les ignominies qu’elle nous impose.

– Cependant…, cependant…, objectait madame Bovary.

– Eh non! pourquoi déclamer contre les passions? Ne sont-elles pas la seule belle chose qu’il y ait sur la terre, la source de l’héroïsme, de l’enthousiasme, de la poésie, de la musique, des arts, de tout enfin? (FG, S. 210–211)

Gegen Ende des Abschnitts nimmt das Tempo zu, einzelne Sätze oder Teilsätze der beiden Herren haken sich ineinander, was die Komik der gesamten Situation unterstreicht:

»Et il [Rodolphe] saisit sa main; elle [Emma] ne la retira pas.

«Ensemble de bonnes cultures! cria le president.« (FG, S. 215)

bevor vom Düngen zum ›Ich von Ihnen gebannt auf ewig‹, vom Bock zu ›Nie vergessen!‹, von Schweinezucht zum Händedruck gewechselt wird.

Famos, nicht wahr? Die Komik darin funktioniert jedoch nur, weil wir von Beginn an eingeweiht sind, Rodolphes Entscheidung vorab erfahren und daher sein Gesülze richtig einordnen: Es sind strategisch genutzte Wörter, nichts weiter. Wie auch das Blabla der Festredner.

Eine Weiterentwicklung dieser Erzähltechnik schuf William Faulkner 1939 mit »The Wild Palms and The Old Man« (»Wilde Palmen und der Strom«) – wobei hier die beiden Handlungen, die einander nie berühren, die jeweilig andere jedoch kommentieren und ergänzen, wodurch ein gedoppelter Roman auf Basis der Kommunizierenden Röhre entstand.

Einen weiteren Kunstgriff verdankt Flaubert dem Einwand des ersten Publikationsortes, der »Revue de Paris«, in welcher der Roman in sechs Folgen 1856 erschien. Man fürchtete die Zensur, weshalb der sexuelle Akt zwischen Léon und Emma, der erstmals während einer Kutschenfahrt stattfindet, nicht direkt zu erzählen war. Flaubert griff daher zur Taktik, die Vorhänge der Kutsche geschlossen zu halten. Wir als Lesende bleiben außen vor. Wie der Kutscher, wie die Passanten, hören wir einzig Léons ungeduldiges Kommando »Continuez!« (FG, S. 317), sein ›weiter, weiter‹, welches er dem Mann am Kutschbock zuruft, sobald jener meint, er sei nun lange genug sinnlos in der Gegend herumgefahren: 

»Et sur le port, au milieu des camions et des barriques, et dans les rues, au coin des bornes, les bourgeois ouvraient de grands yeux ébahis devant cette chose si extraordinaire en province, une voiture à stores tendus, et qui apparaissait ainsi continuellement, plus close qu’un tombeau et ballottée comme un navire.« (FG, S. 318)

Wie auch die neugierigen Bürger*innen, denen wir zumindest das Wissen um Namen und Charakter der Insassen der Kutsche voraushaben, ihr Tendre zueinander kennen, beginnt unsere Phantasie die Szene im Innenraum dieses schwankenden Schiffes, verschlossen wie ein Grab, so Flaubert, von selbst auszugestalten; lebendiger wohl als jede Schilderung es gekonnt hätte. 

Die gleiche Kunst der Perspektive, die selbe Technik des Schwenkens auf den Nebenschauplatz, um aus Sicht unwesentlicher Nebenfiguren eine Szene von enormer Relevanz zu beleuchten, setzt Flaubert in diesem Roman nochmals ein, als Emma davon stürmt, um die vermaledeiten 8.000 Francs aufzutreiben, und wir mit den neugierigen Nachbarinnen auf den Dachboden klettern müssen, um von dort ja gut zu sehen, weshalb Emma denn derart aufgelöst den Fluss entlang laufe, bis ins Haus des Notars, um in seinem Arbeitszimmer, mit Händeringen und Flehen, was auch immer zu wollen. Erst ihr ›Ich bin zu beklagen, nicht zu kaufen‹, bekommen wir wieder unmittelbar mit.

Einen weiteren strukturellen Kunstgriff, den Flaubert nutzt, ist derjenige des Zeitsprungs: Im Moment höchster Spannung – Emma hat gerade das Arsenik aus der Apotheke entwendet, sich eine Handvoll des Pulvers in den Mund gestopft –, läuft sie fort; und wir wechseln zu Charles, und steigen mit dessen erzählerischer Gegenwart erneut doch eine Stunde oder mehr vor jenem Zeitpunkt ins Geschehen ein: Emma läuft erneut gerade eben ein weiteres Mal los, um das Geld zu beschaffen … Diese Doppelung der vergehenden Zeit reizt Flaubert hier zwar nicht nach allen Regeln der Kunst aus, setzt sie nur dezent – und hierdurch umso auffallender – ein. Mit Wissensvorsprüngen hingegen arbeitet er kontinuierlich – wir wissen von Rodolphes Schändlichkeit und Verführungsabsicht, Emma nicht; wir wissen von Emmas Spiel mit Léon, er nicht – von seinem späteren mit ihr, sie nicht; von Emmas Abneigung wegen der Tölpelhaftigkeit ihres Mannes, Charles hingegen bekommt nichts mit – und so weiter und so fort …

Natürlich erfahren wir auch im Vorfeld von der Tagung der Landwirtschaftskammer, deren bedeutsamer Charakter durch Bürger wie Homais nach und nach vorbereitet wird. All dies dient einerseits dem Spannungsaufbau, wird als narratives Element auch heutzutage noch genutzt, doch bedeutet es für Flaubert zudem eine Möglichkeit, dem Erzählmodus der Auktoriale und seinem erklärenden Ton zumindest stellenweise zu entkommen, um durch ebenjene Kunstgriffe, die zu Flauberts Zeit ein Novum waren, eine Innenwelt der Figuren darzustellen. Bei zahllosen anderen Passagen hingegen trifft die erklärende Keule noch mit aller Kraft, statt einen darstellenden, szenischen Modus wirken zu lassen.

Man soll jedoch nie das Kind mit dem Bade ausleeren, auch die Auktoriale hat ihre Kompetenz und bei Flaubert lässt sich gut ihre Fähigkeit zur zeitlichen Raffung studieren. So können Geschehnisse im Telling wiedergegeben werden; dass in diesem Modus oft auch eine Wertung mitschwingt, wird hier deutlich: 

»Mais il en était de ses lectures comme de ses tapisseries, qui, toutes commencées, encombraient son armoire; elle les prenait, les quittait, passait à d’autres.« (FG, S. 191)

Flaubert, so wenden Sie ungeduldig ein, habe seine Maxime kommentarlosen Erzählens keineswegs in »Madame Bovary« umgesetzt? Lassen Sie es mich in den Worten meiner Studierenden sagen: Um einen anderen Modus – rein theoretisch! – zu wissen, ist eines; erklärende Passagen erkennen, ein anderes; und fähig sein, sie umzugestalten und die Erzählinhalte darzustellen: ein drittes. Dieses Dritte aber ist das Schwerste.

Kurz schon klang zuvor die Macht der Angst vor dem Zensor an. Die Inhaber der »Revue« waren zuvor wegen regierungskritischer Artikel bereits zwei Mal verwarnt worden; eine dritte Verwarnung würde dem Ende der Zeitschrift gleichkommen. Dennoch wollten sie jenen Roman als Vorabdruck auf ihren Seiten publiziert wissen. Noch bevor es jedoch in der Fortsetzungspublikation überhaupt zu den diffizilen Szenen des Ehebruchs – in der Phantasie des Lesenden – kommt, erfolgt bereits eine Anklage: Ein Spitzel hat brave Arbeit geleistet und eine Abschrift des gesamten Buches besorgt. Staatsanwalt Pinard will daraufhin das Erscheinen des Romans verbieten, Flaubert sichert sich für den Prozess vor dem Pariser Zuchtpolizeigericht Sénart als Rechtsbeistand – also keinen Geringeren als den ehemaligen französischen Innenminister und Präsidenten der Nationalversammlung, damit dieser wortgewandt eine Verurteilung wegen ›Verletzung der öffentlichen Moral und Religion‹ abwende. Sénart, der »Madame Bovary« als einen ›realistischen Roman‹ bezeichnet, spielt mit dieser Klassifizierung auch implizit auf den ehedem bekannten Fall der Delphine Couturier an, welcher Flaubert zum Roman inspirierte (Vgl.: SR, S. 164–165): Die Tochter eines normannischen Gutshofbesitzers heiratet den in Rouen ausgebildeten Landarzt Eugène, bevor sie sich mit einem anderen Gutshofbesitzer einlässt, alsdann mit einem kleinen Schreiber eines Rechtsanwalts-Büros schläft … – bis hin zu Wucher und Gift sind alle Elemente der Fabel in jener Realität bereits vorhanden. Weitere Inspirationsquelle für Flaubert waren zudem eine seiner Bekannten namens Louise Dracet, Ehefrau des Bildhauers James Pradier, die ihren Gatten gerne zum Hahnrei machte, sowie ein Giftmordprozess gegen einen Apotheker, der 1844 in der Presse viel diskutiert wurde. Sénart verweist in seinem Plädoyer außerdem auf Flauberts Kunst der Andeutung, der Leerstelle und Aussparung (Vgl.: Prozess in seiner Gesamtheit: FG, S. 5–50; S. 461–519.). Des Weiteren sei der gesamte Roman eine Verurteilung des Lasters, keineswegs ein Aufruf dazu. Ja, man könnte sagen, Flaubert klage Emma an – kaum vorstellbar, dass einer ihr jene Sympathie entgegenbringe, mit der man auf eine Effi Briest reagiert. 

Die Entscheidung des Gerichts? Der Richter äußerte seinen Spruch: 2 Jahre Haft. Woraufhin Sénart mit umfassenden politischen Konsequenzen droht – weshalb alle Angeklagten – Flaubert, Verleger sowie Drucker – sogleich freigesprochen wurden. Doch die Reklame, welche dieses Prozess-Spektakel dem Jungautor kostenlos verschaffte, verhalf dem Werk zu grandiosem Erfolg. Davon jedoch hatte Flaubert nichts, monetär betrachtet. Das zuvor vereinbarte Pauschalhonorar belief sich gerade einmal auf 500 Francs; die Millionen gingen in andere Taschen. Man könnte meinen, damit hätte sich aller Ärger über die gute Bovary gehabt – mitnichten! 1864 setzte die katholische Kirche den Roman trotzdem auf den Index, 1947 schaffte er es auf die Verbotsliste in Italien, 1954 auf jene der ›National Organization of Decent Literature‹ in den USA. Was bleibt einem da noch außer mit Flaubert zu sagen: »Was mich zutiefst bekümmert, ist die allgemeine Dummheit. Der Ozean ist nicht tiefer und größer als sie.« (SR, S. 167.)

 

    

Quellen:

Primärliteratur:

  • Flaubert, Gustave: Briefe. Übersetzt von Helmut Scheffel. Zürich: Diogenes 1977.
  • Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Paris: Flammarion 1986. (FG)
  • Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Übersetzt von Albert von Streerbach. Wien: C. Ueberreuter / Buchgemeinschaft Donauland o.J.
  • Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Übersetzt von Arthur Schurig. Folgt der Ausgabe des Insel Verlags. http://gutenberg.spiegel.de/buch/frau-bovary-2404/1 – Zuletzt eingesehen am 28.08.2018.

Sekundärliteratur:

  • Ajac, Bernard: Introduction. In: Madame Bovary. Paris: Flammarion 1986. S. 5–50.
  • Ajac, Bernard: Appendice. Madame Bovary et le dictionnaire des idées reçues. In: Madame Bovary. Paris: Flammarion 1986. S. 520–530.
  • Pinard, Ernest: Ministère Public contre M. Gustave Flaubert. In: Madame Bovary. Paris: Flammarion 1986. S. 439–460.
  • Sénard: Plaidoirie. In: Madame Bovary. Paris: Flammarion 1986. S. 461–515.
  • Schmitz, Rainer: Was geschah mit Schillers Schädel? Frankfurt a. M.: Eichborn 2008. S. 164–168. (SR)
  • Schwendemann, Irene (Hg.): Hauptwerke der französischen Literatur. Edition Kindlers Literatur Lexikon. München: Kindler Verlag 1976.