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Seite 33: Thomas Bernhard: Frost

Thomas Bernhards Tagebuchroman »Frost«, sein erster, stellt die Geschichte eines jungen Ich-Erzählers, der im Auftrag seines Vorgesetzten ins Gebirge reist, um am Anschauungsobjekt von dessen Bruder das Beobachten zu erlernen, in den Mittelpunkt. So viel mal vorab; bevor wir uns der Seite 33 widmen:

 

Sogleich sticht das Stilmittel der Wiederholung hervor, welches sich um Nomen gruppiert: Kindheit, Krieg, Zukunft, Finsternis; wobei zur Kindheit der Geruchssinn beigefügt werden könnte (Zeile 1; 4), zum Krieg die Großeltern, zur Zukunft die Eltern, zur Finsternis der Tod der Großeltern – und ebenso umgekehrt (Zeile 17) .

»[S]tändig in Bewegung […]« (Z 6) ist diese Kindheit, geprägt von »Wort- und Ballspielen« (Z 6–7). Ebenso angelegt ist auch Satzstruktur sowie Redeinhalte, die einander fortwährend den Ball zuspielen, sodass kaum gesagt werden kann, was Ausgangspunkt, was Flugbahn ist – trotzdem bleibt alles einleuchtend, geregelt, folgt einem in sich logischen Rhythmus. Wäre da nicht jenes ›Es‹ in Zeile 6: 

»Nicht tot sei es […]« 

Schon eilt der Blick zurück, sucht das Bezugswort, landet bei ›Meisterstück‹ ( Z 3) als nächstem und damit einzigem Neutrum: Nicht tot (also: unbeweglich) sei das Meisterstück der Kindheitsevozierung durch Gerüche, sondern ständig in Bewegung … Wie das Kind, an der Seite der Großeltern, deren fortwährende Wechsel zwischen Stadt und Land Erzählraum einnehmen, wie die zirkulierenden Ängste, die üblichen Enttäuschungen eines Lebens. Was darüber hinaus jedoch außerdem in den Erzählraum eingebracht wird, ist das Sterben an und für sich; dies verdichtet sich im Laufe des Abschnitts:

»Der Großvater nahm den Enkel mit in Landschaften, in Gespräche, in Finsternisse hinein.« (Z 16–17)

Die finale Erwähnung, auf die es als Klimax des Abschnitts hinausläuft, bewirkt nochmals eine eingrenzende Nuancierung:

»Aus dem Alleinsein und tief in ihm entstanden die vielen Gedanken, die immer düsterer wurden. Mit dem Tod der Großeltern ging es ›in Finsternis, die nicht mehr aufhören wird‹.« (Z 31–34)

Dieser Allein-Satz, dessen Anfangsteil durchaus kein Negativum ausdrückt, verdient ebenfalls ein weiteres Augenmerk: Er kehrt sich im Nebensatz nämlich um, kommt wie ein Bumerang zurück: Düster sind sie, die zahlreichen Gedanken. Der folgende Satz legt noch ein Scheit nach: Die Finsternis wird nie mehr aufhören, es gibt darin keine Bewegung mehr, kein Hinein–Hinaus in sie, wie einst, an der Seite des Großvaters.

Die Bernhardsche Wiederholung als Stilmittel kennt also immer ein Ziel über die Rhythmisierung hinaus, verfolgt einen weiteren Sinn. Dies zeigt sich ebenfalls gut am nächsten Beispiel der Kindheitsangst-Reihung in Zeile 6 bis 9 bzw. in ihrer unmittelbar darauffolgenden Wiederholung in Zeile 9 bis 11:

»Seine ganze Kindheit sei aus Gerüchen zusammengesetzt, zusammengeschoben hätten sie sich zu seiner Kindheit. Nicht tot sei es, ständig in Bewegung. Und aus Wort- und Ballspielen, aus der Angst vor Ungeziefer, wilden Tieren, finsteren Gassen, reißenden Flüssen, Hunger, Zukunft. Er hat in seiner Kindheit Ungeziefer, Hunger, wilde Tiere und reißende Flüsse kennengelernt. Auch Zukunft, Abscheu.« (Z 6–11)

Thomas Bernhard setzt Wiederholungen nicht nur zur langsam sich entwickelnden Verdichtung einer Interpretationsebene ein, zur Akzentuierung durch Zerstückelung und Umgruppierung, sondern gleichfalls zur Rahmenbildung; wie in obigem Beispiel um die beiden Verben »zusammengesetzt, zusammengeschoben«. In der Wiederholung der Kindheitsängste, die in ihrer ersten Erwähnung alle auf einer Ebene sind, wird ein neuer Gipfel nachgereiht und explizit genannt:

»Auch Zukunft, Abscheu.« (Z 11)

Es ist diese Emotion der Abscheu, die in der ersten Aufzählung zwar implizit erzeugt, nicht jedoch ausgesprochen wird; in ihrer Kombination mit dem Nomen ›Zukunft‹ vermittelt sie einen weiteren Eindruck des ›Er‹-Charakters. 

Diese Art der Bernhardschen Wiederholungen bedingen zudem eine andere Art des Lesens; sie zwingen zur Aufmerksamkeit, zur Langsamkeit. Genauigkeit ist gefragt, will man verstehen – und zusätzlich wird einem eigenständigen Nachsinnen durch dieses verzögerte Tempo Raum geschaffen … Es sind die finalen Wiederholungen, welche diese ›Gerüche‹ einer Kindheit im Gedächtnis verankern, die anderen verlieren sich bei diesem Manöver, doch ›Abscheu‹, ›Finsternis‹, ›Tod‹ bleiben. In ihrem Hintergrund verharren Großvater und Krieg, die empfundene Ähnlichkeit mit dem alten Mann, die Missachtung durch die Eltern – der Erzählende ist ihnen ja nicht einmal eine Differenz wert (Vgl.: Z 19–24): Die Einsamkeit eines Seins, die Leere prägt, wird implizit gesagt.

Der Erzählende – auch er verdient unser Augenmerk. Am Beginn der Seite heißt es: 

»Er zwinge sich […].« (Z 1)

Demnach haben wir es mit einer indirekte Rede zu tun. Da sich diese beinahe über die gesamte Seite zieht, sie vom Textempfinden her selbst dann bleibt, wenn der memorierte Redeinhalt als Erzählkommentar erscheint, weil der Konjunktiv nach Etablierung des Settings zugunsten des Indikativs zurückgenommen wurde, ist es uns kaum möglich, allein aufgrund der Informationen dieser Buchseite eine Angabe über die Erzählperspektive zu machen. Die zuhörende Instanz, an welche diese Rede adressiert ist, tritt auf dieser Seite 33 nicht in Erscheinung. Sie ist – wie wir Lesenden auch – nur stummer Echoraum, kommentiert nie direkt, bloß indirekt, durch die Auswahl, die dieser Zuhörende in seiner Wiedergabe des Gesagten per se und in der Art und Weise seiner Wiederholung trifft. An zwei Stellen schwenkt er statt in seiner sonstigen – eventuell gerafften? geglätteten? – Art indirekt zu erzählen, in die direkte Rede, wodurch beide Sätze eine Betonung erfahren.

Das erste Exempel würde in indirekter Rede eventuell in seiner Bedeutungsnuancierung zu changieren beginnen, man könnte die Terminologie dem Erzähler statt dem Sprecher zuschreiben, die implizite Aussage würde verändert werden: 

»Die Großmutter geistreich, stattlich, unzugänglich für gemeine Menschen. Der Großvater nahm den Enkel mit in Landschaften, in Gespräche, in Finsternisse hinein. ›Herrenmenschen waren die Großeltern‹, sagte er. Ihr Verlust war sein allergrößter Verlust.« (Z 14–19)

Herrenmenschen – dieser nationalsozialistische Terminus wird der direkten Rede zugeschrieben, wodurch einerseits die Ironie anders greift, sich andererseits zum Verlust-Satz ein anderer Bezug etabliert, als hätte Bernhard hierfür die indirekte Rede gewählt.

Das zweite Beispiel verankert ebenso die evozierten Emotionen einer Persönlichkeit durch den Wechsel ins vorgebliche Zitat:

»Mit dem Tod der Großeltern ging es ›in Finsternis, die nicht mehr aufhören wird‹.«

Ja, wir verzeihen solch Pathos einem Sprechenden eher als einem Erzähler, wer auch immer er sein mag …

Des Weiteren fällt bezüglich der Raffung auf, jenes ›Er‹ spreche aus zeitlicher Distanz. Es ist eine erinnerte Kindheit in der Ferne, keine einer unmittelbaren erzählerischen Gegenwart. Diese liegt in Wahrheit irgendwann im Alter des ›Er‹, zumindest in einer Zeit, da seine Geschwister und er bereits erwachsen sind (Vgl.: Z 26–30). Durch solch ein Erzählmanöver einer zeitlichen Divergenz zwischen erlebendem und erzählendem ›Er‹ wird außerdem ein Springen durch Zeit und Raum ermöglicht. Es genügt ein ›Später‹, ein ›Nie‹ oder das Wort ›Mexiko, um deutlich zu machen, dass die Ebene nunmehr wechseln wird‹; und es kaschiert auch das Vage mancher Andeutungen, lässt die Intention dahinter spüren, Erinnern als authentisches Manöver, wie es uns allen vertraut ist, zu gestalten. Gerade in dieser Unbestimmtheit und in der ihr innewohnenden Bekanntheit verschafft Thomas Bernhard dem Leser, der Leserin den nötigen Leerraum, um sich selbst in das literarische Werk während der Lektüre einzubringen – Marcel Prousts Spiegelsaal grüßt:

»Der Krieg hat ihm ermöglicht zu sehen, was Leute, die den Krieg nicht kennen, niemals sehen.« (Z 11–12)

 

 Als Referenztext genutzt wäre eine denkbare Übung, die Struktur der intendierten Wiederholung, die im Kleinen wie im Großen zu neuen Gipfeln aufsteigt, in einer eigenen Kurzgeschichte zu versuchen … 

 

Quelle:

 

Bernhard, Thomas: Frost. Werke Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2016.