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Seite 33: Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde

Mario Vargas Llosas formal bestechende Novelle »Die jungen Hunde« (Suhrkamp Verlag) wählt sich als ›unerhörtes Ereignis‹ die Entmannung. Ein Jugendlicher wird durch den Schulhund sexuell verstümmelt. Das unerhörte Ereignis beim Wort nehmend, verpassen ihm die anderen Schüler*innen den Spitznamen ›Pichula [Schwanz]‹, eine Gehässigkeit, die er in jenem Alter noch in eine Auszeichnung seiner Kampfkunst umkehren kann. In der Welt der Erwachsenen jedoch kann sich ›Pichula‹ bereits nicht mehr zurechtzufinden. Schließlich wird er deren Normen nie entsprechen. Was ihm zuerst Wertschätzung, gar Bewunderung einbrachte, wird nun zu seinem Makel: Niemals wird er ›ein ganzer Mann sein‹ – und das lässt man ihn in dieser Gesellschaft des lateinamerikanischen Machismo spüren. Es sind die figurativen Bisse der anderen, die final zu seiner Vernichtung führen; nicht der verjährte Hundebiss. 

Die Seite 33 fokussiert inhaltlich die Reaktion des Freundeskreises, insbesondere der Mädchen, auf Cuéllars Fernbleiben von ihren Partys, die Rolle, welche Vermutungen und Zuschreibungen in seinem Leben zu spielen beginnen.

 

Gleich zu Beginn fällt auf, dass direkte Reden nie visuell gekennzeichnet werden, oftmals auch kein Verbum Dicendi aufweisen, sondern mittels eines Beistrichs an den vorherigen Erzählkommentar angefügt werden (»Aber er […] setzte ein Schwerenötergesicht auf, zieh meine Freiheit vor, ein Eroberergesicht […]«, Zeile 1-2) oder gänzlich ohne Einleitung als gleichrangiges Element an die Namensnennung des Sprechenden angehängt sind (»Und Chabuca er sollte kein Spielverderber sein, komm halt und dann lernst du eines Tages eine kennen, die dir gefällt […].«, Zeile 12–14). Bei letzterem Beispiel geht es von der einleitenden Konjunktion ›und‹ samt einer Namensnennung als Zuordnungsanker ohne Interpunktion in die indirekte Rede, welche über das Komma in die direkte flutet; das drei Zeilen darüber genannte Verb ›sagte‹ hat memoriert zu werden. Auch Rednerwechsel erfolgen bei den Mädchen über die bloße Namensnennung, wodurch die Wirkung entsteht, eine würde den Redebeitrag davor nur vollenden: 

»Deine Freiheit wozu? sagte die China, um Unfug zu treiben? und Chabuca, um dich rumzutreiben? und Pusy, mit kleinen Schlampen? und er ein geheimnisvolles Gesicht, wer weiß, als Zuhälter, wer weiß und als Lustmolch: schon möglich.« (Zeile 4–8) 

Verben, die nicht unbedingt nötig sind, damit der Satzinhalt verständlich bleibt, werden ausgespart (»[…] und er [machte] ein geheimnisvolles Gesicht […]«). Manchmal werden die Sprechenden, wenn eine exakte Zuordnung irrelevant ist, überhaupt nicht genannt (»[…] wer weiß, als Zuhälter, wer weiß und als Lustmolch: schon möglich.«). Die wesentliche Information, nämlich das Kontra, die Gegenüberstellung, erreicht uns trotzdem durch den Doppelpunkt knapp vor dem Ende des Satzes:

»[…] und als Lustmolch: schon möglich.«

Hier ist zudem gut ersichtlich, wie dieser ›Er‹ sich bedeckt hält und hierdurch Zuschreibungen aktiv fördert. 

Indirekte Rede, direkte Rede und Erzählkommentar – dem teilweise ebenfalls das Personalpronomen fehlt – verschwimmen zu einer Stimmenflut, sie wirken durch die Verkürzungen, die Unvollständigkeit der Redebeiträge erinnert an eine Paraphrase. Es ist ein hastiges Erzählen, doch kein Gehetztes, welches ebenso durch die gewählte sprachliche Form sowie durch die Interpunktion entsteht. Hinsichtlich der Satzzeichen fällt außerdem auf, dass auch sie – wie die Verben und die Kennzeichen des Redeaktes – ab und an fehlen (Z 15; Z 25; Z 26), was zu Beginn an einigen Stellen sicherlich irritieren mag, bis man dieses fremde System verinnerlicht hat.

Redewechsel außerhalb der Mädchen-Gruppe werden mittels Personalpronomen eingeleitet – gleich in Zeile 1 findet sich das ›Er‹, in Zeile 12 erhält ›Er‹ mit der Frage »[…] was ist los mit dir, Cuéllar? […]« einen Namen: Cuéllar, maskulin, offenbar Single (Z 2), der seit einiger Zeit den Fiestas fernbleibt, was der Bekanntenkreis nicht goutiert, da er, ein begnadeter Tänzer (Z 11), stets für gute Stimmung sorgte (Z 10).

Den Inhaber der Erzählperspektive hingegen finden wir erst in Zeile 27. Bis dahin bleibt unklar, aus wessen Blickwinkel diese Novelle oder dieser Abschnitt der Novelle geschildert wird. Es könnte bis dahin eine Szene in einer sehr distanzierten Personale ebenso wie aus Sicht eines enorm zurückhaltenden auktorialen Erzählers sein.

»[…] und er außeraußeraußerdem war kkkkeine Zeit wegen der Prüfffungen und wir laßt ihn in Ruhe, kamen ihm zu Hilfe, ihr überzeugt ihn nicht, er hatte eben seine Verhältnisse, seine kleinen Geheimnisse, beeil dich Bruderherz, schau wie die Sonne scheint, die ›Herradura‹ glüht bestimmt, gib Gas, damit der mächtige Ford rast.« (Z 25–31)

Erst mit diesem »[…] und wir […]« ist eindeutig, dass es sich um eine ›Wir‹-Perspektive handelt, die uns Leser*innen in die Gruppe jener, die erzählen, eingemeindet. In der das Individuum sich auflöst, solange es sich nicht in einem Kontra zu ihr befindet; der Fokus liegt nicht auf der Einzigartigkeit dieser jungen Männer. Diese gebührt ›Ihm‹, Cuéllar, der zur Gruppe gehört und doch nicht dazu gehört. Die anderen hingegen verbergen sich in der Gemeinschaft, erzählen von ihm, was wiederum die Frage aufwirft, weshalb tun sie dies: zur Rechtfertigung? Zur Absicherung? Um sich zu erinnern? 

Führt man sich dieses Setting vor Augen, fällt einem sogleich jener Kunstgriff ein, den Flaubert in der Schulszene zu Beginn seiner »Madame Bovary« gekonnt einsetzte, und der dadurch rezeptions-historisch wohl auf ewig mit diesem französischen Autor verbunden bleibt: Das ›Wir‹ in Opposition zur relevantesten Nebenfigur, Charles Bovary, die uns zu jenem Zeitpunkt noch als mögliche Hauptfigur erscheint: Er ist der Neue, der in die Klasse kommt. 

Auch in Mario Vargas Llosas Novelle einer unerhörten Begebenheit findet sich das gleiche Szenario einer Gegenüberstellung einer Wir-Gruppe mit einem einzelnen ›Er‹. (Was man – nachdem ob Jugend, ›Wir‹ und davon ausgeschlossenem ›Er‹ mit begründetem Verdacht zuerst vermutet, wird Gewissheit, blättert man auf die erste Seite zurück: Eine Verneigung vor dem Meister Flaubert findet sich gleich zu Beginn in der dort dargestellten identischen Schulszene, wobei in »Die jungen Hunde« als auffallendes Element des Neuen nicht die Mütze fungiert, die anhand seines Verhaltens zum Sinnbild der Tölpelhaftigkeit Charles Bovarys wird, sondern der kometenhafte Schulerfolg Cuéllars als Klassenprimus’ … Ein ähnliches verweisendes Zitat auf Flauberts Wir-Eingangsszene findet sich übrigens auch zu Beginn von Thomas Manns »Tonio Kröger«!) 

Dass Mario Vargas Llosa just auf Flaubert verweist, nimmt den nicht Wunder, der Flauberts Rolle als Verfechter des unsichtbaren Erzählens und Mario Vargas Llosas poetologische Essays kennt. Unter unsichtbarem Erzählen versteht man, dass jede Geschichte sich selbst genügen muss. Diese Souveränität (oder auch Selbstgenügsamkeit genannt) ist dann gegeben, wenn der Lesende vergisst, dass alles, was er liest, von einer Figur erzählt wird und den Eindruck erhält, diese Geschichte entwickle sich vor seinen Augen, er selbst sei Teil, sie erzähle sich von sich aus. Ein Kunstgriff, den Flaubert selbst in seiner »Madame Bovary« trotz des fulminanten Beginns noch nicht zur Gänze umsetzen konnte. Denn das ›Wir‹ als einzige erzählende Instanz, trägt meist keinen Roman, weshalb es oftmals im Ensemble einer multiperspektivischen Ausgestaltung fungiert – es bedarf Varianten der Perspektive, die Flaubert um die Mitte des 19. Jahrhunderts, noch nicht entdeckt hatte, weshalb er in diesem Werk auf die Auktoriale zurückgreifen musste. In zeitgenössischen Prosawerken hingegen wird in den anderen Erzählsträngen eher auf die Er/Sie-Personale (also dritte Person Singular) oder auf die Ich-Perspektive geschwenkt. Seltener kommen andere perspektivische Sonderformen wie Du- oder Ihr-Erzähler in der Kombination mit einem Wir zum Einsatz, da ihre Grenzen ähnlich denjenigen der Wir-Perspektive sind, was ihren gemeinschaftlichen Einsatz eher unsinnig machen würde. 

Am Passus auf Seite 33 wird als ein Effekt der Wir-Perspektive deutlich, dass die Konturen von Schwänzchen bzw. Schwanz Cuéllar als Figur verschwimmen: Was er empfindet, wie er denkt, entzieht sich uns. Wir, als Lesende, nehmen ihn nur von außen wahr, seine Selbstdarstellung – sehen dadurch just jenes verwirrende Bild, welches er uns bieten will. Ein Effekt, der – betrachtet man nur diese Seite des Werks – durch das Bestürmt-Werden an und für sich entstehen mag. Erst final, als das ›Wir‹ dem ›Er‹ einen Platz in der Formulierung ›Bruderherz‹ (Z 29) einräumt, legt sich der Fokus der Gruppe auf ihn: Er ist derjenige, der von Interesse ist – oder im übertragenen Sinn: Er wird Gas geben (Z 31), er ist derjenige am Steuer (auch der Novelle) – womit wir – falls wir uns entschließen sollten, weiterzulesen – auch schon einen möglichen Falken haben: Wer reißt noch das Steuer herum oder wird das Tempo sein Untergang? 

 

 

Als Referenztext könnte eine mögliche Aufgabenstellung lauten, die Kombination aus erzählender Perspektive (Erzählkommentar), sich einmengender direkter Rede (auch paraphrasierend) und indirekten Redepassagen – überwiegend nicht eingeleitet – in einer eigenen Kürzest- oder Kurzgeschichte in einer der drei Sonderformen der Erzählperspektive (Wir, Ihr, Du) zu versuchen …

 

Quelle:

 

Vargas Llosa, Mario: Die jungen Hunde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1975.