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Fontane »Effi Briest«. Oder: Zu Fontanes Verteidigung oder SeitenSprung II

Mag es ein Zeichen der Zeit, die berühmte Aufmerksamkeitsfokussierung oder schlicht den Koinzidenzen des Lebens geschuldet sein, doch als ich während der vergangenen Wochen an Hawthornes »Scharlachrotem Buchstaben« saß, mich alsdann Flauberts »Madame Bovary« widmen wollte, tauchte in meiner Erinnerung sehr verschwommen ein Lektüreerlebnis aus dem Jahr 1990 auf – Fontanes »Effi Briest«. Zur gleichen Zeit schien sich plötzlich der gesamte Social Media Raum mit ebenjenem Roman zu befassen: Als hätten alle deutschsprachigen Literaturaffinen beschlossen, das Drama um Effi, Crampas und Innstetten zu diskutieren – und zu verreißen: Aus dem Kanon deutschsprachiger Klassiker solle Effi verschwinden, uninteressant sei sie, unwert – halte keineswegs eines Vergleichs mit Flauberts »Madame Bovary« stand. Ich zog mein Exemplar aus dem Regal, blätterte darin, begann erneut zu lesen, denn ich wollte wissen: Was ist dran, an diesen Statements?

 

 

 

Es ist schon wahrlich erstaunlich, was einem rund 30 Jahre später von einem gelesenen Roman im Gedächtnis bleibt! Nicht besonders viel, um ehrlich zu sein; irgend so eine Ehebruch-Geschichte, Ende des 19. Jahrhundert, irgendwo in Deutschlands Norden – sehr, sehr weit im Norden. Und ewig zugig. In meiner verblassten Erinnerung war während der ersten Romanszenen in »Effi Briest« herrlicher Sommer, um alsdann einem jahrelang währenden Herbst und Winter Platz zu machen, dominiert von ewiger Kälte, verbracht in einem alten gruseligen Haus: sehr düster, spukbeladen, dunkles Holz, dunkle Möbel, leere Zimmer. Weitaus präsenter als der Romaninhalt – und ganz zu schweigen von irgendeiner Strukturanalyse oder einem Memorieren des Klangraumes und der Sprache Fontanes –, war mir die Erinnerung an den Akt des Lesens: Ich hatte das Werk als 20-jährige in einer Nacht verschlungen. Und genossen. Mich trotzdem nachher nie mehr wieder mit jenem Literaten oder seinem Figureninventar, seiner Sprache beschäftigt. Auf das ›Warum?‹ welches sich mir nun fragend stellte, wie ich da vor einem der Bücherregal in meinem Haus stand – demjenigen in der Belletristik-Abteilung, Buchstabe ›F‹ wohlgemerkt, Ordnung will in der Bibliothek sein, das Leben ist chaotisch genug –, wusste ich keine Antwort. War da nicht etwas gewesen – eine Irritation, eine Verärgerung gegen Ende der Lektüre – eventuell wegen des Handlungsverlaufes? Vielleicht sollte ich dem spontanen Einfall wirklich nachgeben und in mein dichtes Lektürepensum dieses Jahres auch noch die gute Effi stopfen? Ruhe ließ sie mir ja doch keine, wie ich in den kommenden Tagen feststellen durfte. Möglicherweise könnte sich eine Relektüre beider Klassiker – Flaubert wie Fontane – für einen Vergleich lohnen? Schließlich war ich innerhalb einer Woche in sieben Postings auf die legere Behauptung gestoßen, Fontane könne einpacken, Flauberts Emma Bovary sei bei Weitem das bessere Werk zu gleicher Fabel … 

 

Der Kunstgriff des Kontrasts,

um implizit die Protagonisten zu verdeutlichen

 

So stand ich dort, hatte zu Flaubert gewollt und hielt nun Fontane in der Hand. Den Roman aufgeschlagen, die ersten Zeilen gelesen – sogleich beginnt Fontane mit der Etablierung eines Kontrastes im sommerlich-hellen Familienkreis, korrekt erinnert: Hier die Mutter, dort die Tochter, und während Frau von Briest gottergeben und altersweise-gelassen sitzt und an einem Teppich stickt, steht die Tochter wieder und wieder von dieser die leere Zeit tötenden Handarbeit auf, zappelt hierhin und dorthin, nennt ihre Unruhe Zimmerturnen und hofft darauf, dass bald die drei Freundinnen vorbeikommen mögen. Nicht nur damit sie endlich befreit sei – hinaus in den Garten, an den Teich! –, sondern auch um ihnen zu erzählen, dass der Mutter früherer Verehrer, Baron Geert von Innstetten die Familie besuchen werde. Er, der einst  um die noch immer schöne Mutter warb, wurde abgewiesen, da er viel zu jung für eine Familiengründung gewesen sei, weshalb »[…] es kam, wie’s kommen mußte, wie’s immer kommt.« (S. 13): Sie heiratete einen anderen.

Schon wieder hat er mich gepackt, dieser Roman. Unter anderem seiner lebhaften Dialoge wegen. In ihnen spielt sich ein Großteil der Handlung ab, wodurch es dem Autor gelingt, den zu jener Zeit noch immer grassierenden narrativen Modus, die Figuren zu erklären, statt ihnen zu gestatten, sich selbst zu erzählen, gekonnt zu umschiffen.

Den Kontrast als Stilmittel wird Fontane in »Effi Briest« noch häufiger nutzen, verbunden mit da und dort eingestreuten Andeutungen, die teils etwas plump daher staksen, teils gekonnt flüchtig in Szenen eingebettet werden, sodass ihre Bedeutung erst im Rückblick auffällt. Gleich zu Beginn zum Beispiel bereitet uns Fontane darauf vor, dass dies die Geschichte einer untreuen Frau sei:

»›Flut, Flut,

Mach alles wieder gut …‹

Und während Effi diese Litanei feierlich anstimmte, setzten sich alle vier [Mädchen] auf den Steg hin in Bewegung, stiegen in das dort angekettete Boot und ließen von diesem aus die mit einem Kiesel beschwerte Tüte [mit den Stachelbeerschalen] langsam in den Teich niedergleiten. 

›Hertha, nun ist deine Schuld versenkt‹, sagte Effi, ›wobei mir übrigens einfällt, so vom Boot aus sollen früher auch arme unglückliche Frauen versenkt worden sein, natürlich wegen Untreue.‹

›Aber doch nicht hier.‹

›Nein, nicht hier‹, lachte Effi, ›hier kommt so was nicht vor. Aber in Konstantinopel, und du mußt ja, wie mir eben einfällt, auch davon wissen, so gut wie ich, du bist ja mit dabeigewesen, als uns Kandidat Holzapfel in der Geographiestunde davon erzählte.‹

›[…] so was vergißt man doch wieder.‹

›Ich nicht. Ich behalte so was.‹« (S. 15)

 

Wozu heiraten?

 

Deutlich wird in diesen Eingangsszenen – von Teppich über Ankunft der Freundinnen bis zur Steg-Szenerie – neben der Charakterisierung Effis als Naturkind, als Wildfang beinahe, außerdem ihre Kindlichkeit: Sie ist gerade erst 17 geworden, folglich so alt wie damals ihre Mutter in etwa war, als sie Innstetten zum ersten Mal begegnete. Wen sollte es noch wundern, dass der eine Szene später um Effis Hand anhält – bei den Eltern, wie es sich gehört, denn korrekt ist der Baron bis zur Steifheit. Mit der Tochter sprach er zuvor kaum ein Wort, auf jeden Fall keines, welches auch nur im Entferntesten durchblicken ließe, dass er an eine Vermählung dächte. Als die Mutter Effi diese Zukunft mitteilt, späht über den Rand der Szene recht peripher die Frage, Innstetten sei Effi doch nicht zuwider; die Mutter jedenfalls könne den Baron nur wärmstens empfehlen, rechtschaffen sei er, ehrgeizig, solch einen Schwiegersohn wünsche man sich …  Effis Reaktion besteht einerseits aus Folgsamkeit – die Eltern werden es schon wissen –, andererseits aus kindischem Stolz darüber, als erste der Freundinnen verheiratet zu werden – ja, der Mädchen Reaktion auf diese Neuigkeit ist ihr relevanter als der zukünftige Ehemann selbst, weshalb sie auch sogleich zur Verbreitung der freudigen Botschaft davonhuscht, und  die Mutter einer ihrer Freundinnen bringt neidvoll den Sachverhalt auf den Punkt: 

›Ja, ja, so geht es. Natürlich. Wenn’s die Mutter nicht sein konnte, muß es die Tochter sein. […] Alte Familien halten immer zusammen, und wo was is, kommt was dazu.‹ (S. 20) 

Abgesehen von der Missgunst, die aus ihrer Rede geifert, benennen ihre Worte auch klar die damalig dominante gesellschaftliche Funktion: Geheiratet wird aus Vernunft, zur Mehrung des Wohlstandes einer Sippe. Mit Emotionen hat das wenig bis nichts zu tun.

»›[…] er [Innstetten] ist nicht nur ein Mann der feinsten Formen, er ist auch gerecht und verständig und weiß recht gut, was Jugend bedeutet. Er sagt sich das immer und stimmt sich auf das Jugendliche hin, und wenn er in der Ehe so bleibt, so werdet ihr eine Musterehe führen.‹

›Ja, das glaube ich auch, Mama. Aber kannst du dir vorstellen, und ich schäme mich fast, es zu sagen, ich bin nicht so sehr für das, was man eine Musterehe nennt.‹

›Das sieht dir ähnlich. Und nun sage mir, wofür bist du denn eigentlich?‹

›Ich bin … nun, ich bin für gleich und gleich und natürlich auch für Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es  Zärtlichkeit und Liebe nicht sein können, weil Liebe, wie Papa sagt, doch nur ein Papperlapapp ist – was ich aber nicht glaube –, nun, dann bin ich für Reichtum und ein vornehmes Haus […]. Liebe kommt zuerst, aber gleich dahinter kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung – ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen oder weinen muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile.‹« (S. 33)

Wäre die Mutter klug, würde sie nach diesem Gespräch die Hochzeit mit dem weitaus älteren Mann, der in einer Kleinstadt am Rand Deutschlands als Landrat tätig ist, sogleich abblasen. Sie kennt doch den Baron, weiß um sein oberstes Prinzip der Ordnung: Der Rücken immer aufrecht, und verlangt die Karriereleiter vorerst stoisch verlässliche Arbeit für den Kaiser, wird Innstetten dies tun – und derweilen ein ›kleines Haus‹ führen! Keine Bälle, keine Festivitäten, keine Reisen, alles Augenmerk auf den angestrebten sozialen Aufstieg, denn ins Ministerium will er. Und Effi? Wie zahllose andere Frauen jener Schicht gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Provinz hat auch sie als nunmehr Verheiratete kaum anderes zu tun, außer die Hausarbeit, welche Dienstboten erledigen, zu dirigieren und anzuleiten; ein bisschen sticken, ein bisschen nähen. Und sich ansonsten zu Tode fadisieren. Denn abgesehen vom klugen und sympathischen Apotheker Gieshübler, einem verwachsenen Junggesellen in Innstettens Alter, gibt es im Umkreis der Kleinstadt niemanden, mit dem Verkehr gepflogen werden könnte. Gegen die einen spricht ihre niedere soziale Stellung, gegen die anderen ihre nervige Kleinkariertheit: Ja, diese ältlichen Landadelfräulein dort im Norden wirken wie zerzauste Krähen. Hocken in ihren Häusern, jederzeit bereit auf ein neues Opfer zänkisch niederzustoßen, Betschwestern und Moralapostel, die mit Argusaugen über alle in ihrer Umgebung wachen und besserwisserisch kommentieren, wozu keiner sie einlud: Effis überzeugtes ›Bitte nicht!‹ zu solchen gesellschaftlich möglichen Besuchsaktivitäten scheint uns nur zu verständlich.

Weshalb die Mutter also trotz ihres Wissens um Instettens Charakter und Lebensverhältnisse dennoch schwieg, weder Tochter, noch Mann oder Verlobten mit einer Silbe warnte, das werde kaum gut gehen? Nun, weil sie ihre eigenen Ansichten zur Ehe hat: 

»›Jeder [Ehemann] quält seine Frau. Und Kunstenthusiasmus [, wie der Baron ihn hat,] ist noch lange nicht das Schlimmste.‹« (S. 39)

Schließlich hat auch sie sich damit abgefunden, dass ihr eigener Ehemann, Effis Vater, von gänzlich anderem Naturell ist als die Mutter selbst. Ein Landmensch ist er, geerdet, der wenig auf ›die guten Sitten‹ der sogenannten ›höheren Gesellschaft‹ gibt; und dessen joviales und entspanntes Verhalten Effis Mutter immer wieder ungemein peinlich berührt. Lässt er seine Gedanken laut werden, ermahnt sie ihn auch in aller Öffentlichkeit, doch bitte den Mund zu halten – zum Philosophieren sei er nicht klug genug, kommentiert sie alsdann scharf. Der Vater nimmt diese Unverschämtheit gelassen. »Ein weites Feld«, pflegt er gerne zu sagen: Alles sei ein weites Feld …

Oberflächlich ist der gute Mann dennoch keineswegs. Über die für seine Tochter arrangierte Ehe zerbricht er sich von Beginn an den Kopf, er beobachtet und nimmt wahr – und hat im Gegensatz zur Mutter weniger die gesellschaftlichen Konventionen und die Mehrung des Familienbesitzes im Blick als Effis Wohl. Dieses aber ist an Innstettens Seite bald schon gefährdet.

 

 

Mit einem Ehemann? Das tut nie gut!

 

In diese seine Abwesenheiten fällt auch, dass Effi die Dienstbotin Roswitha in einem angeregten Dialog mit einem anderen Hausangestellten überrascht, weshalb sie die Magd warnt, sich ja nicht auf ein Techtelmechtel mit einem Verheirateten einzulassen. Roswitha erklärt unumwunden, an Männern habe sie sowieso kein Interesse, denn als sie als junges Mädchen ledig Mutter wurde, habe sie das gesamte daraus entstehende Elend samt Brutalität, Scheinmoral, Getue und Verstoßen-Werden am eigenen Leib erfahren – genug für ein Leben. Effi verurteilt Roswitha nicht, sie betont einzig nochmals: »›Mit einem Ehemanne … das tut nie gut.‹« (S. 190) 

Wer in der Literatur des 19. Jahrhunderts belesen ist, erinnert sich an dieser Stelle, dass gerne auf der Ebene der Dienstboten gespiegelt wird, was die Herrschaft betrifft; oder aber dass Erzählinhalte, die im Hinblick auf jene gesellschaftlich höher gestellten Persönlichkeiten nicht thematisiert werden können, vorzugsweise mittels ihres jeweiligen Gegenübers aus der Dienstbotenkammer erzählt wurden. Vorerst jedoch scheint weder das eine, noch das andere zu geschehen – nach den Handküssen der Schlittenpartie folgt ja kein weiteres Wort zwischen Crampas und Effi … 

Nur ein paar doppeldeutige Hinweise finden sich in andere Szenerien eingebettet, die für jene selbst gelten mögen – oder eben nicht. So wie an dieser Textstelle: Weil die Husaren in Kessin Quartier bezögen, habe ein Bürger beschlossen, alle seine Fenster zu vergittern, um seiner Töchter willen, damit deren Ehre nicht in Gefahr sei; die jedoch – so Innstetten – sei ohnedies ›hors concours‹, und Effi lacht über ihres Mannes verbale Spitze so herzlich wie lange nicht. Bis er aus dem Zimmer geht, und sie, am Bett ihrer schlafenden Tochter Annie sitzend, haltlos zu weinen beginnt. Sie fühle sich wie eine Gefangene, heißt es nun. Sie leide ›darunter‹ – und unser Gehirn bezieht jenes Adverb sogleich auf die bewachte Enge, Gitter an den Fenstern usw.  Sie wolle sich zwar befreien, doch dazu fehle ihr die Kraft, vielmehr treibe sie durch die Tage:

»[…] heute weil sie’s nicht ändern konnte, morgen weil sie’s nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht über sie. So kam es, daß sie sich, von Natur frei und offen, in ein verstecktes Komödienspiel hineinlebte. Mitunter erschrak sie, wie leicht es ihr wurde. Nur in einem blieb sie sich gleich: sie sah alles klar und beschönigte nichts. Einmal trat sie spätabends vor den Spiegel in ihrer Schlafstube; die Lichter und Schatten flogen hin und her, und Rollo schlug draußen an, und im selben Augenblick war es ihr, als sähe ihr wer über die Schulter. Aber sie besann sich rasch. ›Ich weiß schon, was es ist; es war nicht der‹, und sie wies mit dem Finger nach dem Spukzimmer oben. […] Es ging aber doch weiter so, die Kugel war im Rollen, und was an einem Tage geschah, machte das Tun des andern zur Notwendigkeit.« (S. 180)

Diese auktoriale Passage, in der das Geschehen im Modus des Telling gerafft und zudem erläutert wird, ist übrigens eine der wenigen in diesem Stil, die Fontane einbaut und nicht umschifft …

Effi jedenfalls beginnt, weil der Arzt sie für ›bleichsüchtig‹ (S. 181) hält, Eiswasser zu trinken, und weil er ihr außerdem Bewegung verordnet, schlägt sie vor, ihren Mann im Wagen zu begleiten, bricht er des Morgens auf, bis zur Mühle etwa, um danach zu Fuß allein zurückzuspazieren. ›In den Dünen ist es immer am schönsten.« (S. 182), sagt sie ihm, weshalb Innstetten mit den Spaziergängen als Ersatz für eine Kur einverstanden ist. Mit der treuen Roswitha vereinbart Effi einen Treffpunkt, sobald Annie schlafe, solle die Magd sie von dort abholen. Nur verpasst diese ihre Arbeitsgeberin – ungeschickt wie sie eben sei – jedes Mal aufs Neue. Nicht wichtig, Effi kenne doch die Wege …

 

Aufstieg & Fall

 

Als Innstetten aus Berlin die Nachricht seines Aufstiegs ins Ministerium erhält, wird die Übersiedelung von dem Nordseekaff in die Großstadt zu Effis großer Freude sofort begonnen. Sie schreibt nur einen einzigen Abschiedsbrief, der Adressat bleibt uns Leser*innen vorerst unbekannt: ›Ihr Tun mag entschuldbar sein, aber nicht das meine.‹ (S. 202) Danach lebt sie endlich auf. Reist sogleich mit Annie und Roswitha nach Berlin, um dort – gemeinsam mit ihrer Mutter eine Wohnung anzumieten. Keine ist gut genug, ihre Rückreise nach Kessin wird Tag um Tag aufgeschoben; bis Innstetten nachkommt. Glücklich lebt man nun in der Stadt – so vergehen die Jahre. ›Bleichsüchtig‹ ist Effi trotzdem noch immer. Eines Tages, sie ist zu jenem Zeitpunkt auf Kur und ihre Tochter Annie bereits im Schulalter, eilt die Tochter eine Treppe hoch, fällt und zieht sich bei jenem Sturz eine Kopfverletzung zu. Die Dienstmädchen, auf der Suche nach Verbandsmaterial, brechen daher Effis Nähtisch auf, wissend dass sie darin Stoffbinden aufbewahrt. Innstetten, der just in jenem Moment aus dem Amt zurückkommt, bemerkt das Bündel Briefe darin; und liest sie, sobald Annie verarztet ist. Danach quält ihn primär eine Frage und die betrifft nicht das verletzte Kind. Er zieht einen Freund hinzu, unterbreitet jenem die Frage, ob eine Verführung verjähre – oder sei sie auch sechs Jahre später ein Grund für ein Duell? Er sei doch korrekt, er müsse das wissen – obwohl er seiner Frau verzeihe. Und vor unser aller Augen werden die bittenden Briefe des Majors an Effi ausgebreitet, die belegen, dass sie einander einst in den Dünen getroffen hatten. Final kommt er zu dem Entschluss, diese Begegnung mit Crampas auf Leben und Tod tue not – nicht um Innstettens Ehre wegen, sondern weil von nun an ein anderer Mensch darüber Bescheid wisse; es müsse geschehen, was zu geschehen habe, um der Gesellschaft willen. Was der Einzelne dabei empfinde? Das tue nichts zur Sache:

»›Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm.‹« (S. 251)

Er fordert daher den ehemaligen Freund Crampas, erschießt ihn, informiert seine Frau von der eingeleiteten Scheidung und erklärt ihr, sie habe nie mehr in sein Haus zurückzukommen. Roswitha hingegen schließt sich Innstettens Sichtweise nicht an, sie wechselt als Einzige die Seiten und lebt fürderhin mit der von aller Gesellschaft ausgestoßenen und verarmten Effi, kümmert sich loyal um die Frau, die sie einst in ihrem Elend aufgelesen hatte. 

 

Oh gewiss, wenn ich darf … Oder Erziehungsstrategien, die Zweite

 

Zumindest gewähren Effis Eltern der Tochter einen geringen finanziellen Zuschuss, verwehren ihr jedoch gleichfalls den Zutritt zum Haus, um einer gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen, welche die Mutter fürchtet. Über Innstetten, dem sich Effi Zeit ihrer Ehe nicht nur der Altersdifferenz wegen unterlegen fühlte, sondern der sie vor allem auch stets klein zu halten bestrebt war, urteilt Effi zum ersten Mal in aller Klarheit Jahre später, nachdem es ihr gelingt, ein ersehntes Wiedersehen mit ihrer Tochter mittels einer Fürsprache der Ehefrau des Ministers durchzusetzen. Um nicht das Gesicht vor der Gattin seines Arbeitgebers zu verlieren, gewährt Innstetten diese Gunst, trichtert jedoch dem Mädchen ein, jede Frage mit dem Satz ›Oh gewiß, wenn ich darf.‹ zu beantworten, eine Wiederholung, die nicht nur jedweden Versuch eines Dialogs unsinnig werden lässt, sondern Effi außerdem seine brutale Erziehungsmethode verdeutlicht, aus der Tochter nun jene Gefangene seines Willens zu machen, weil es ihm bei Effi nicht gelang: »›[…] jetzt weiß ich, daß er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Das hat er dem Kinde beigebracht. […] Du brauchst nicht zu dürfen […]. ‹«, fügt sie an die Tochter gewandt verzweifelt und kraftlos hinzu, doch sinnlos bleibt der Dialog, denn das Mädchen fährt just mit jenem Satz fort, weshalb Effi das ›Gespräch‹ erschöpft abbricht. (S. 293) Nie mehr wieder wird sie versuchen, ihre Tochter sehen zu dürfen; lieber erträgt sie die Sehnsucht nach ihr als seine stupiden Erziehungsmethoden mitverfolgen zu müssen.

Sie, die seit der Geburt ihrer Tochter stets kränkelte, wird nun zusehends anämischer. Es geht Tag für Tag bergab – bis jener Arzt, der sie langjährig nun schon behandelt und ihr trotz aller gesellschaftlichen Ächtung die Treue hielt, Effis Eltern kontaktiert: Sie werde an der Schwindsucht sterben, die einzige Rettung, die er sich vorstellen könne, sei eine Heimkehr.

Endlich werden die Eltern aktiv, weil der Vater sich durchsetzt: Gesellschaft hin oder her – wie oft hätten sie denn mit denen zu tun gehabt? Außerdem sei die Ernte gut ausgefallen, man sei beinahe von den Spießbürgern rundum unabhängig, das sei alles zu überstehen, der Tod der Tochter nicht. An der Tatsache ihres nahenden Todes vermag jedoch auch der nunmehrige Umzug ins Elternhaus nichts mehr zu ändern. Ebensowenig die Ankunft des treuen Familienhundes, um den Roswitha Innstetten bittet, weil er Effi zuvor wohlgetan hat, ihre Angst vor dem spukenden Chinesen milderte, ihr jahrelang Gesellschaft leistete – als Jagdbegleiter des Barons tauge der Hund ob seines Alters doch ohnedies nicht mehr. Zumindest dazu ist Innstetten fähig; und dem treuen Tier, so ist man versucht hinzuzufügen, lässt sich keine Automatenantwort eintrichtern … 

Am Sterbebett wird Effi den Charakter ihres ehemaligen Mannes nochmals thematisieren, versöhnlich klingt es nur auf den ersten Blick: Er »›[…] war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist.‹« (S. 314) Die Frage, wie man mit einem rechtschaffenen, gesetzestreuen, aber lieblosen Gatten leben solle, stellt Effi nur implizit. Die Mutter nimmt diese Spitze nicht einmal wahr; an ihr Loblied auf den zukünftigen Schwiegersohn samt Musterehe wird man an dieser Stelle dennoch erinnert. 

Bedauerlicherweise endet Theodor Fontane nicht an dieser kraftvollen Stelle, da alles gesagt ist, sondern schiebt einen weiteren elterlichen Dialog nach: Die Mutter wälzt die Frage, ob die Eltern nicht mitverantwortlich an allen Geschehnissen gewesen seien, da sie Effi mit zu viel Zuneigung und zu wenig Strenge begegnet wären, Effi bei ihrer Hochzeit vielleicht zu jung gewesen sei. Der Vater antwortet so, wie er sich stets aus der Affäre zieht, will er auf etwas nicht eingehen: »›Ach, Luise, laß … das ist ein zu weites Feld.‹« (S. 315)

Wer sich von Fontane ein bombastisches Eheszenario mit Eklat à la Soap Opera erwartet, wird also sicherlich von diesem Roman enttäuscht sein.  Es ist viel mehr ein Psychogramm einer von Beginn an misslungenen Eheschließung, in deren Zentrum eine Frau – oder vielmehr eines jungen Mädchen – steht, dass weder weiß, was sie erwartet, noch die mit jener Realität alsdann umgehen kann. Ihr an die Seite gestellt findet sich ein Mann, dem Ordnung über alles geht, ein kleinkarierter Beamter, aufrecht und eisern, sich selbst diszipliniert, beinahe hart, der mit Vorliebe seine ›kleine reizende Frau‹ wie ein Püppchen ausstellt und allseits bewundert wissen will, als wolle er der Welt sagen: ›Ist sie nicht schön? Ist sie nicht entzückend? Dieser mein Besitz?‹ Denn nichts anderes ist sie ihm. Zudem belächelt er sie gerne, berauscht sich persönlich an ihrer Fähigkeit zu Emotionen und erzieht sie trotzdem, damit sie diesen Wesenszug hurtig ablegen möge; weil sie ihm Kind und nicht Partnerin ist. Ein Mann, dem auch final ›die Gesellschaft‹ und ihre Meinung über ihn wichtiger sind als seine Frau; oder sein Kind. Bloß nicht belächelt werden, sich keine Blöße geben, und jedes Gesetz, jede Norm, jede Regel eisern erfüllen. Er scheint jedenfalls das Bibelwort, »Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.«, nicht gekannt zu haben … Trifft Innstetten also die Verantwortung? Mitnichten. Sein Tun ist seines, ihr Tun bleibt ihres – was auch immer es gewesen sein mag, was sie dem Major außerehelich gewährte. Fontane überlässt diese Leerstelle ja unserer Phantasie. Und das ist gut so, trägt zum Reichtum dieses Romans bei. Aber aus dem Ehedilemma der beiden Charaktere hätte es so oder so keinen Ausweg gegeben, mit oder ohne Fremdgang. Nichts Gutes hätte aus dieser Verbindung entstehen können – höchstens, dass seine innere Kälte, seine lieblose Korrektheit auf sie abgefärbt hätte. Das aber kann keineswegs ›gut‹ genannt werden.

 

Das Dilemma der Inspiration

 

Wie auch Flauberts »Madame Bovary« wird Fontanes »Effi Briest« durch ein reales Ereignis inspiriert. Elisabeth von Ardennes, genannt Else, lernt – sieben Jahre nach ihrer Hochzeit mit Armand von Ardennes – einen Amtsrichter namens Emil Hartwich kennen. Zwischen Else und Emil entwickelt sich ein Briefwechsel, der auch fortbesteht, als Armand ins Kriegsministerium kommandiert wird und die Familie nach Berlin übersiedelt. Hartwich, der ab und an nach Berlin kommt, besucht alsdann das Paar, und im Sommer 1886, in welchem sich Armand in einem Manöver fern von Zuhause befindet, beschließen Else und Emil, ihre jeweiligen Partner*innen zu verlassen, um endlich miteinander zu leben. Armand jedoch, der argwöhnisch geworden ist, beschafft sich einen Nachschlüssel zu Elses privater Kassette, stößt darin auf Briefe, die Emil ihr geschrieben hat, fordert den Kontrahenten daher zum Duell und verwundet ihn dabei derart, dass Emil seinen Verletzungen erliegt. Seiner Scheidungsklage legt Armand die eine Seite der Korrespondenz als Beweisstück bei. Ihr wird stattgegeben, schließlich hatte sich der andere an Armands ›Besitz‹ vergriffen. Die beiden Kinder des Paares werden – gemäß damals gängiger Praxis – dem Vater zugesprochen. Zu jenem Zeitpunkt ist Armand, der wegen des Duells zur Festungshaft verurteilt worden war, bereits wieder begnadigt. Rasch steigt der gute Mann alsdann die Karriereleiter hoch, wird Generalleutnant. Und Else? Pflegerin in einer Heilanstalt.

Fontane erfuhr von jenem Duell-Drama, welches in den Zeitungen thematisiert worden war, rund drei Jahre später durch Emma Lessing. Weshalb ihm die Begebenheit in den Presseberichten zuvor entging, ist nicht bekannt. Ausgelöst durch Fontanes Frage, wohin es Armand von Ardenne verschlagen habe, er verkehre ja gar nicht mehr bei Lessings, begann Frau Lessings Narration – vielleicht rückte diese in ihrer Fabel Else mehr in den Blick, als es die Zeitungsmeldungen taten, ließ sie erzählend die Persönlichkeiten hinter dem Drama ahnen? Jedenfalls machte Fontane selbst in einem Brief an Hans Hertz, Sohn seines Berliner Verlegers, insbesondere eine Szene in Frau Lessings Darstellung für den Entschluss, sich diesem Stoff zu widmen, verantwortlich: Else-Effi, gerade eben der Verlobung zustimmend, wird von ihren Freundinnen, die sich unter dem Fenster verbergen, durch das Weinlaub zugerufen: ›Effi, komm!‹ – bevor die Mädchen lachend davonhuschen (Reuter: Anmerkungen. S. 320). Man könnte diesen Hinweis auf die Bedeutung wie auch die entsprechende Szene im zweiten Kapitel des Romans überlesen, würde Fontane die Inspirationskraft nicht mehrfach in seiner Korrespondenz betonen, oder in der Szene selbst der nüchternen Figur Innstettens eine irritierende Ahnung zuschreibt, dieser Ruf und Effis Hellhörigkeit darauf sei ein böses Omen. In jenen wenigen Sätzen bildet sich vor allem auch Fontanes Sicht auf seine Interpretation der Effi ab, die ihm aus Emma Lessings Erzählung entstand: Sie ist kaum mehr als ein Kind, ein höchst lebhaftes junges Mädchen, dem der Schabernack mit Gleichaltrigen näher liegt als das Gefühl irgendeiner romantischen Verliebtheit und die in sich (noch?) keine ruhige Stetigkeit kennt. Sie geht in eine Ehe, weil die Mama dazu rät, ja, man könnte sagen: anstatt ebenjener und deren Jugendtraum.

Jedenfalls führten Frau Lessings Worte dazu, dass Fontane Elses Geschichte – bemäntelt und verkleidet zwar, doch eindeutig erkennbar, da er als einzige eklatante Abweichung, Effi mit Crampas lange vor einer Entdeckung brechen ließ – regelrecht »träumerisch« (a.a.O.. S. 319) niederschrieb; sie habe sich ihm »wie von selbst« (a.a.O., S. 320) erzählt, meinte Fontane rückblickend. Vorbild für die visuelle Ausgestaltung ›seiner‹ Effi wurde ihm eine Beobachtung, die er während eines Hotelaufenthalts machte: Er sah ein wohl britisches Geschwisterpaar, welches auf den Balkon hinaustrat: 

»Das Mädchen war genauso gekleidet, wie ich Effi in den allerersten und dann auch wieder in den allerletzten Kapiteln geschildert habe: Hänger, blau und weiß gestreifter Kattun, Ledergürtel und Matrosenkragen. Ich glaube, daß ich für meine Heldin keine bessere Erscheinung und Einkleidung finden konnte, und wenn es nicht anmaßend wäre, das Schicksal als ein einem für jeden Kleinkram zu Diensten stehendes Etwas anzusehen, so möchte ich beinahe sagen: das Schicksal schickte mir die kleine Methodistin.« (ebenda) 

Der Ort Kessin ist als solcher erfunden, doch nährte Fontane dessen fiktive Beschaffenheit mit Kindheitserinnerungen sowie mit Beobachtungen seiner Reise 1889 ins Westhavelland (a.a.O. S. 321). Julius Rodenberg, Herausgeber der »Deutschen Rundschau«, druckte »Effi Briest« in Fortsetzungen von Oktober 1894 bis März 1895, bevor der Roman als Buch erschien. 

 

Vom Erfolg in Fortsetzungen

 

Im 18. sowie 19. Jahrhundert eine übliche Publikationsmethode, die durch das enorme Echo entstanden war, welche die Buchpublikation des »Robinson Crusoe« von Daniel Defoe 1719 auslöste. Jene Abenteuergeschichte erschien wegen ihres Erfolgs noch im gleichen Jahr in der »Original London Post« als Fortsetzungsroman: Eine neue Vermarktungsidee für Literatur war geboren … Erst in weiterer Folge drehte sich die Reihung zugunsten der Periodika um. Zu einem regelrechten Boom des Fortsetzungsromans kam es insbesondere nach der Französischen Revolution; aus mehreren Gründen: Die fortgeschrittenere Technik machte es möglich, das gehobenere Bildungsniveau nährte zudem den Hunger nach Lektüre und die zeitweise liberaleren Pressegesetze kamen den Romaninhalten entgegen. Derjenige unter den Kolleg*innen, der diese Entwicklung gekonnt für seinen Erfolg nutzte, war Alexandre Dumas der Ältere: Er entwickelte einen regelrechten Industriezweig und beschäftigte bis zu siebzig Schreibende, denen er die Fabel grob erzählte, damit sie alsdann einen lebendigen Plot daraus gestalten konnten. Bezahlt wurden die Schreiberlinge mittels Stundenhonorar. Dumas hingegen per Zeilenhonorar, das er geschickt zu erhöhen verstand, indem er Stotterer und Schweigsame Zeile um Zeile an Honorarraum gewinnen ließ - und kam man ihm auf die Schliche, fand er einen neuen Trick …

Auch der gute Pinocchio erschien 1881 zuerst als Fortsetzungsroman und zwar in der italienischen Wochenzeitschrift »Giornale per i bambini«. Als Collodi seine Figur und die Arbeit an dessen Abenteuern nach gut vier Monaten satt hatte, er seinen Pinocchio daher ›so gut wie tot‹ an einen Baumast hängte, protestieren die Leser*innen der Zeitschrift so heftig, dass Collodi unter dem Zeichen der Soap Opera-Wiederauferstehung, so rasch sterbe schließlich kein hölzerner Gesell, einen zweiten Teil der Abenteuer zu schreiben hatte. Er wurde seine verlogene Holzpuppe erst im Jänner 1883 los. Manche dieser Fortsetzungsromane wurden überhaupt der Beweggrund, eine Zeitungen zu kaufen – so verhielt es sich zum Beispiel bei Charles Dickens. Dieser Boom des ›Fortsetzung folgt! war ortsunabhängig, sei es in Nordamerika, England, Frankreich, Italien oder im deutschsprachigen Raum: Bis ins 20. Jahrhundert war der  periodisch erscheinende Forstetzungsroman ein Erfolgsmodell. Als jedoch Verleger 1995 an diese Vermarktungs-Variante anzuknüpfen versuchten und den Thriller-Star Stephen King zu Taschenbüchern mit je 96 Seiten verpflichteten, die entlang eines roten Fadens (1932, Zuchthaus, Südstaaten, zum Tode verurteilte Insassen) erscheinen sollten, ›misslang‹ der ambitionierte Versuch – das heißt: verglichen mit anderen Einspielergebnissen Stephen Kings in die Verlagskasse waren die Einnahmen der Zuchthaus-Serie zu gering, weshalb sie nach dem dritten Band eingestellt wurde. Die Ursache dafür vermutet man in ebenjenem Problem, mit welchem wir deutschsprachige Literat*innen erst heutzutage zu kämpfen haben: dem kurzen ›Shelf Life‹ der Literatur in Zeiten der Überproduktion und hoher Lagerkosten. Oder auf Deutsch: Wie viele Tage werden einem Werk als Bewährungsfrist in den Auslagen und auf den Präsentationsflächen der Buchhandlungen eingeräumt? Wann wandert es ins Regal – und wie lange darf es dort – bereits ein wenig dem Vergessen anheim fallend – noch auf dennoch interessierte Blicke warten, bis es gnadenlos remittiert wird und damit endgültig von der Bildfläche verschwindet …? Was einst ein halbes bis ein ganzes Jahr währte, beläuft sich nun auf nicht einmal mehr einen Monat. 

Noch eine Anmerkung zur Inspiration: Nicht nur Collodi bekam ihre Crux zu spüren, wobei sein Muss des Weiterschreibens vielleicht nicht seiner Intention entsprach, ihn jedoch als Autor unsterblich machte. Jack London behauptete, es gäbe sie überhaupt nicht, sondern bloß das beharrliche Schürfen – so gesehen hat er natürlich Recht! – denn Inspiration ist ein winziger Moment, die Ausarbeitung der Fabel hingegen pure Knochenarbeit, aus Recherche, niederschreiben, bearbeiten und umschreiben. Kein Kuss einer Muse, der einem einfach so auf den Mund oder in den Schoß fällt; im Gegenteil: fortwährende geistige Präsenz, die den ziehenden Gedanken dennoch ihre Freiräume lässt, Ruhezeiten, in denen das Unbewusste arbeiten darf, sich Fäden verbinden und knoten. Und wahrnehmen, was um einen geschieht. Darin liegt jedoch auch manchmal das Inspirations-Dilemma: Jene ›Effi, komm‹-Weinlaub-Kichern-Huschen-Szene, die Fontane so anregte, dass er sich monatelang jenem Stoff widmete, hatte er – um ihre Kraft nicht zu mindern –, mehr oder weniger unverändert aus Emma Lessings Erzählung übernommen, was ihm später naturgemäß Sorgen bereitete. So schrieb er 1895 in einem Brief: 

»Es ist eine Geschichte nach dem Leben, und die Heldin lebt noch. Ich erschrecke mitunter bei dem Gedanken, daß ihr das Buch – so relativ schmeichelhaft die Umgestaltung darin ist – zu Gesicht kommen könnte.« (a.a.O. S. 321) 

Und wenige Monate danach, im Februar 1896, an einen Berliner Kollegen noch deutlicher werdend: 

»An dieser einen Szene können auch Baron A. und die Dame erkennen, daß ihre Geschichte den Stoff gab.« (a.a.O. S. 321) 

Nun, Reaktionen Else von Ardennes oder ihres Mannes auf den Roman sind der Literaturgeschichte nicht bekannt, sehr wohl jedoch die Reaktionen der zeitgenössischen Rezipient*innen, die Fontane zu dem erstaunten Kommentar bewogen: »Alle Leute sympathisieren mit ihr [Effi].« (a.a.O. S. 323) Hatte er wirklich mit anderem gerechnet? Vielleicht sogar mit einem Skandal à la Flaubert, der seine ehebrecherische Heldin ja regelrecht anklagt, während Fontane sie verteidigt? Vielleicht weil auch er selbst mit ihr sympathisiert? So zumindest vermerkte er es in einem anderen Brief zwei Wochen davor: 

»Ich war nie ein Lebemann, aber ich freue mich, wenn andere leben, Männlein wie Fräulein. Der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte von einem gewissen, aber immer zweifelhaft bleibenden Wert, weil es an Echtheit und Natürlichkeit fehlt. Dies Natürliche hat es mir seit lange [sic] angetan, ich lege nur darauf Gewicht, fühle mich nur dadurch angezogen, und dies ist wohl der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knax weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten, d. h. um ihrer Schwächen und Sünden willen. Sehr viel gilt mir auch die Ehrlichkeit, der man bei den Magdalenen mehr begegnet als bei den Genoveven. Dies alles, um Cécile und Effi ein wenig zu erklären.« (a.a.O. S. 322) 

Weshalb er dies für nötig hielt? Keine Ahnung. Die Leser*innen brachen den Stab jedenfalls nicht über Effi sondern über Innstetten, den sie als ›altes Ekel‹ titulierten, was Fontane Ende Oktober des gleichen Jahres mit Unverständnis brieflich kommentierte: 

»Das amüsiert mich natürlich, gibt mir aber zu denken, weil es wieder beweist, wie wenig den Menschen an der sogenannten ›Moral‹ liegt und wie die liebenswürdigen Naturen dem Menschenherzen sympathischer sind … […] sonderbar, alle korrekten Leute werden schon bloß um ihrer Korrektheit willen mit Mißtrauen, oft mit Abneigung betrachtet.« (a.a.O. S. 323.) 

Vielmehr jedoch – und zurecht! – ärgerte Fontane sich darüber, dass sein »Drehpunkt für die ganze Geschichte« (ebenda) in der zeitgenössischen Kritik mehrheitlich vollständig unterging: der Chinese! Das gesamte Drama um jene Figur stünde doch, so Fontane, ›nicht zum Spaß‹ da (Vgl.: ebenda). Ja, manchmal kann man angesichts der Blindheit der Kritik schon verzweifeln; ein Wüten dagegen hilft bekanntlich ohnedies nichts … 

 

Lesenswert, weil …

 

Auch nicht gegen jene Stimmen unserer heutigen Zeitgenoss*innen, die der guten Effi nichts mehr abgewinnen können, zwar einräumen, dass ihre Lektüre viele Jahre her sei, doch sei Effi ihnen damals schon langweilig gewesen. Mag sein, dass zahlreiche mit dem Szenario aus Fremdgang, Duell und Verstoß aus der Gesellschaft kaum mehr etwas anzufangen wissen – heute ließe man sich eben scheiden; heirate erneut, reiche wiederum die Scheidung ein – bis man eben irgendwann klüger geworden sei. Oder frustrierter. Oder gar nicht erst vor einen Traualtar trete. Und ein Fremdgang interessiert sowieso einzig den Gehörnten. Bevor man jedoch einem Klassiker das Etikett ›Lesenswert!‹ abspricht, sollte man bedenken, dass sein Corpus nicht nur aus Inhalt besteht. Solch eine verkürzte – und meines Erachtens ignorante – Sichtweise auf einen Roman lässt mehrere relevante Aspekte gänzlich außer Acht. Beginnen wir bei dem Roman als sozialgeschichtliche Quelle, als Abbildung einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit, die unser Faktenwissen mit ihrer Fiktion [!] illustrieren und ergänzen kann [!]. Fremdgang gab es immer schon. Betraf es die Herren der Schöpfung verkaufte man es seit jeher als keine Ursache für einen Bahö, es liege eben ›in ihrer Natur‹ (Vgl.: W. Somerset Maughams Theaterstück »The Constant Wife«). Mit gesellschaftlichem Mitleid durften betrogene Frauen daher auch nicht rechnen. Ebenso wenig jedoch mit Spott; der bestimmte  im vice-versa-Fall die Reaktionen: Der Hahnrei sei eben nicht Manns genug gewesen, seinen ›Besitz‹ zu verteidigen …

 

Der Boom der Seitensprünge

 

Sozialhistorisch interessant ist, dass jenes Thema des Ehebruchs/Seitensprungs durch die Frau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche männliche Kollegen beschäftigte (Hier nur eine Auswahl der Bekanntesten: Hawthorne: Scharlachrote Buchstabe, 1850;  Flaubert: Madame Bovary, 1857; Tolstoi: Krieg und Frieden, 1868; Tolstoi: Anna Karenina, 1877; Fontane: Effi Briest 1894; Čechov: Die Dame mit dem Hündchen, 1899 … ). 

Mir scheint der Verdacht naheliegend, dies habe auch mit den sich verändernden gesellschaftlichen Normen und Rollenbildern zu tun, dem Aufbruch in die Moderne und hierdurch eben gleichermaßen mit einer sich verändernden Moral, welche naturgemäß Verunsicherung mit sich brachte; wie auch mit einer phasenweise weniger mächtigen Zensur. Während um 1850 herum noch die Verurteilung der Ehebrecherin durch den Romancier erfolgte, die Zensur Flaubert dennoch massive Schwierigkeiten verursachte und zugleich dem Roman »Madame Bovary« durch den Skandal kostenfreie Bewerbung verschaffte, versuchen die Werke um 1900 eher ein Verständnis für die Protagonistinnen zu wecken, verteidigen sie in gewisser Weise und versuchen, vor allem die Dynamiken in solch einem Drei- oder Vieleck verständlich zu zeichnen: Der Fokus hat sich also verschoben.

 

Die Weiterentwicklung perspektivischer Erzählhaltung

 

Womit wir gleichsam beim dritten relevanten Aspekt dieses Alterswerks Fontanes wären: die Weiterentwicklung der perspektivischen Erzählhaltung. Kaum je fällt er in den kommentierenden Erklärungsgestus, die ältere Werke oftmals mit jedweder erdenklichen Schwere belastete. Literat*innen, welche vor Etablierung der Er/Sie-Personale oder der Ich-Perspektive, die Innenwelt ihrer Protagonist*innen vermitteln wollten, hatten aufgrund der begrenzten Kompetenzen der auktorialen Erzählerstimme hierbei selten eine andere Möglichkeit gesehen, als diese Innenwelten zu erläutern, zu erklären. Dadurch, dass Fontane dies kaum mehr tut, sondern Effis Veränderung mehrheitlich über kurze Beobachtungen, szenische Manöver und Dialoge darstellt, wird ihr Wesen perspektivisch deutlich und zudem das Unbewusste unterstrichen: Sie gleitet gleichsam immer tiefer in jenen Strudel hinein. Andeutungen genügen, um zu verstehen, die Leerstellen füllt Leser*in mit eigenen Lebenserfahrungen. Flaubert hingegen erläutert in seinem Jugendwerk über Emma Bovary 37 Jahre früher noch nach Strich und Faden. 

 

Die Ironie und der Dialog

 

Die Komik, die in Fontanes Dialogen – insbesondere zwischen Effis Eltern – liegt, die Ironie darin, spricht außerdem für Fontane. Sie glauben mir nicht? Dann hören Sie mal zu, es beginnt Herr von Briest, bevor Frau von Briest ihren unabdingbar nötigen Senf dazugibt (S. 38–39):

»[…] nichts bekomme einem so gut wie eine Hochzeit, natürlich die eigene ausgenommen.«

»Ich weiß nicht, Briest […]. Mir war ganz neu, daß du darunter gelitten haben willst. Ich wüßte auch nicht, warum.«

» Luise, du bist eine Spielverderberin. Aber ich nehme nichts übel, auch nicht einmal so was. Im übrigen, was wollen wir von uns sprechen, die wir nicht einmal eine Hochzeitsreise gemacht haben. Dein Vater war dagegen. Aber Effi macht nun eine Hochzeitsreise. Beneidenswert. Mit dem Zehnuhrzug ab. […] Innstetten ist ein vorzüglicher Kerl, aber er hat so was von einem Kunstfex, und Effi, Gott, unsere arme Effi, ist ein Naturkind. Ich fürchte, daß er sie mit seinem Kunstenthusiasmus etwas quälen wird.«

»Jeder quält seine Frau. Und Kunstenthusiasmus ist noch lange nicht das Schlimmste.«

»Nein, gewiß nicht; jedenfalls wollen wir darüber nicht streiten; es ist ein weites Feld. Und dann sind auch die Menschen so verschieden. Du, nun ja, du hättest dazu getaugt. Überhaupt hättest du besser zu Innstetten gepaßt als Effi. Schade, nun ist es zu spät.«

»Überaus galant, abgesehen davon, daß es nicht paßt. Unter allen Umständen aber, was gewesen ist, ist gewesen. Jetzt ist er mein Schwiegersohn, und es kann zu nichts führen, immer auf Jugendlichkeiten zurückzuweisen.«

»Ich habe dich nur in eine animierte Stimmung bringen wollen.«

»Sehr gütig. Übrigens nicht nötig. Ich bin in animierter Stimmung.«

»Und auch in guter?«

»Ich kann es fast sagen. Aber du darfst sie nicht verderben.«

Und so weiter und so fort, denn wiewohl die beiden Alten kaum je einer Meinung, ist es ihnen ein Bedürfnis, ihre Beobachtungen und Sorgen zu teilen – und sollte nichts mehr helfen, rettet sich von Briest in seine Lebensphilosophie: Es ist eben alles ein weites Feld …

   

 

Quellen:

Fontane: Effi Briest. Zürich: Diogenes Taschenbuch 1983.

Reuter, Hans-Heinrich: Anmerkungen. Zürich: Diogenes Taschenbuch 1983. S. 319–339.

 

Schmitz, Rainer: Was geschah mit Schillers Schädel? Frankfurt a. M.: Eichborn 2008. S. 172–173. / S. 450–453.