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Jean Amérys »Charles Bovary Landarzt«. Oder: Von der Wirklichkeit einer Kunstfigur – »Je vous accuse!«

So wie auch Flauberts Roman »Madame Bovary« – Vordergründig! – bei der Figur Charles' beginnt, setzt Amérys wütende Klage gegen den Unverstand der Welt im Allgemeinen und denjenigen Flauberts im Besonderen bei diesem Protagonisten an: Ein innerer Monolog des schmerzerfüllten Ehegatten muss dem Vergiftungstod der begehrten Frau folgen dürfen, damit ihm Gerechtigkeit widerfahre. Sein Wehklagen und sein Wahn können doch nicht – wie Flaubert dies tut – ausgespart werden, eine Unverschämtheit sei das, so Améry, eine Zumutung für den armen Charles.

Soweit so gut.

Darin mag Améry durchaus Recht haben. Zudem der Versuch, eine Randfigur im Werk eines Kollegen in einer eigenen Ausgestaltung eines Erzähluniversums ins Zentrum zu rücken, nur legitim ist.

Und beeindruckend sind die ersten Seiten dieses vorerst innerlichen, lautstarken Wütens des Améryschen Charles, welches auch dazu angetan ist, manche der Flaubertschen Auslassungen im Leben jenes Protagonisten mit (möglichen) Details zu füllen: Zum Beispiel das Entdecken der Briefe, welche die Liebhaber Emmas an sie schrieben; und die Charles nun Wort für Wort studiert, um zu beurteilen, ob jene Männer ihr gerecht werden. Ausgefeilte Liebesschwüre sind es, zu denen Charles selbst nie fähig wäre. Es würden ihm die Wörter fehlen, der Esprit – selbst wenn er nach langem Ritt über Land und getätigten Konsultationen nicht schlicht zu müde wäre, um seine Zuneigung verbal zu bekunden, er würde keine Formulierung finden, um Emmas Hunger zu stillen …

Nein, urteilt der Amérysche Charles, gerecht werden diese Liebhaber seiner begehrten Emma nicht. Weder in ihren Worten noch in ihren Taten. Nur deshalb sinnt Charles im Améryschen Monolog auf Rache, malt sich ihre Ermordung im Detail aus. Schließlich verfügt er doch als Landarzt über so manche Kenntnisse der Pharmazie: Töten will er diese Männer! Nicht weil sie mit ihr intim waren, sondern weil sie als Menschen nichts taugen. Schöne Wörter, die hatten sie parat, doch als Emma Hilfe gebraucht hätte, ließen sie ›die Göttliche‹ aus purer Feigheit im Stich. Nicht einmal Mann genug seien sie, um seiner Frau die Schnürsenkel zu binden – ganz davon zu schweigen, dass sie auch nur daran hätten denken dürfen, ihr Strumpfband zu berühren. Ja, und weil dem so sei, hätten diese Kerle ihr Recht auf Leben verwirkt, wütet Charles, wird in seiner Imagination zum Mörder aus Schmerz, zum Rächer des Lebenselends seiner Frau. Denn Emmas Untergang (und in weiterer Folge seinen eigenen), sieht er in keiner Weise durch sie beide selbst verursacht.

Amérys Verstehen des Schmerzes an und für sich zeigt sich in diesem Monolog, auch wenn er manchmal tief in die Pathoskiste des letzten Jahrhunderts greifen mag, doch verbraucht sich die Kraft der Worte in den seitenlangen Tiraden des von Gram zerfressenen Mannes. So ist kein Darstellen, welches sich vermittelt möglich. Hinzu kommen außerdem die damit verwobenen Reflexionen Amérys über das Schreiben an und für sich, über Flaubert und seine spöttische Abscheu vor dem Bürgertum. Sie kulminieren unter anderem darin, dass Améry auf Basis des elenden Endes der fiktiven Protagonistin Emma Bovary, eine Vorahnung Gustave Flauberts eigenen Untergangs konstruiert. Versieht Améry solche Kommentare auch noch mit einem hämischen Unterton, wird aus der Skepsis, die man lesend empfindet,  Abwehr. Amérys Ätzen, Seite um Seite, wird zum Lektürehindernis. In etwa klingt Améry darin nämlich wie folgt: Da hast du’s, lieber Gustave, der du dich Zeit deines Lebens für etwas Besseres hieltest und mit Verachtung über das Bürgertum spottetest, der du dein »Dictionnaire des idées reçues« anlegtest, um darin über die Dummheit der Bourgeoisie, ihre Sprachklischees und Gemeinplätze herzuziehen, eine Bevölkerungsschicht, zu der du selbst gehörtest, ob dir das nun gefallen mochte oder nicht: Gustave Flaubert, du snobistischer Bürger, mich hast du in deinem Charles nicht porträtiert!

Und Améry krönt verweisend seine Tirade mit einer Verformung des bekannten Zitates ›J'accuse‹ aus dem offenen Brief Émile Zolas zur Dreyfus-Affäre, ein Schreiben, welches damals das Ziel verfolgte, den Fall Dreyfus im mutigen Aufschrei gegen Machtmissbrauch auf eine allgemeinere Ebene zu heben. Améry formuliert zu ›Je your accuse‹ um, und klagt folglich Flaubert als Gestalter eines Erzähluniversums des Machtmissbrauchs gegenüber seinen Protagonist*innen an, stellt fiktive Figuren und reale Personen indirekt auf eine Ebene.    

Darf man es sich so einfach machen? Den Untergang fiktiver Protagonisten und realer Personen auf eine Ebene stellen, Fiktion und Leben vermengen, um die Brühe, die bei dieser Mischung herauskommt, alsdann zynisch zu kommentieren? Gewürzt mit ein bisschen Homoerotik,  wird Emmazum gespiegelten Alter Ego erklärt, und Améry setzt sich in Flauberts Klassenzimmer, wird Teil des Beginns des Flaubertschen Werks: Gustave habe ihn, Jean, schon immer ausgeschlossen, seiner gespottet, weil Amérys gesellschaftlicher Rang niedriger war, ihn verachtet und verlacht – wie Charles vom Wir verspottet wird.

So fordert Améry, dass die Wirklichkeit jeder erdachten Kunstfigur erfasst zu werden habe: Charles dürfe von Flaubert per se nicht als »[…] quantité négligeable […]« (S. 110) behandelt werden.

Wie, so frage ich mich, kann einer sich erdreisten, einem anderen Literaten die Perspektive und die (daraus resultierende) Verteilung des Raumes im Erzähluniversum vorzuschreiben? Wo kommen wir da hin, außer in Teufelsküche? Amérys Vorliebe für die Polemik in allen Ehren, aber es ist doch wohl einzig und allein Sache des Autors, der Autorin zu entscheiden, auf welchen Protagonist*innen der hauptsächliche Fokus liegt, wessen Perspektive er oder sie sich wählt. (Und – von mir aus – mag es Sache der Kritik sein, sich dazu zu äußern, ob dies gelungen sei.)

Was Améry nämlich zu entgehen scheint, ist die Tatsache, dass Gustave Flaubert mit Bedacht nie Charles' Blickwinkel fokussiert; auch nicht am Beginn des Romans, in der bereits erwähnten berühmten Schulszene, die vom ›Wir‹ der Klassengemeinschaft bestimmt wird. Ein Wir, das sich entscheidet, im Chor mit dem mächtigen Lehrenden, den ungeschickten Neuling Charles mit seiner albernen Mütze zu verlachen. In Flauberts Werk hat dieses Erzählkonstrukt seinen Grund. Es stellt nicht bloß Machtverhältnisse und Feigheit gekonnt dar, sondern es ist außerdem ein verborgener Vorbote dessen, was später geschehen wird: Die Tragödie des Charles Bovary ist – gemäß Flauberts Darstellung und in der jener Figur impliziten Erzählsprache –, dass dieser Mann durch ambitionierte Frauen seiner Umgebung von Kindheit an in ein Umfeld hineingestoßen wurde und wird, in dem er sich nicht behaupten kann. Und mit dem er sich auch nicht auseinandersetzen möchte! Weder will Charles eine gymnasiale Ausbildung noch anerkannter Mediziner werden, weder will er sozial aufsteigen noch mit dem Adel verkehren … Diese Geschichte des Nicht-Wollens ließe sich ellenlang fortsetzen, denn Flauberts Charles wünscht schlicht eines: seine Ruhe. Und die Freiheit, Emmas Schönheit anzubeten, falls er gerade daran denkt. Das hat eine eigene Logik, und diese wird beginnend mit den ersten Zeilen des Romans psychologisch schlüssig ausgebreitet. Und trotzdem am Rand belassen. Denn wie wäre von einem Mann, der sich selbst keinen Raum verschaffen kann, aus sich selbst heraus zu erzählen? Zumindest nicht ohne Erzählkommentare. Solche jedoch waren Gustave Flaubert ein Gräuel; ein kommentarloses Erzählen fern der Auktoriale, schwebte Flaubert vor – was ihm in seiner »Madame Bovary« zwar nicht immer gelingt, zugegeben, doch erste Ansätze dazu sind klar erkennbar. Die einzige denkbare Alternative, soll die Auktoriale nicht zum Einsatz kommen, um von einem Protagonisten zu erzählen, der sich selbst keinen Raum verschaffen will, ist seine Beleuchtung am Rand des Erzählens einer anderen Figur: Immer dann wenn Charles in seiner zufriedenen Lethargie als Störfaktor in Emmas Sein kratzt und Spuren hinterlässt. 

Améry jedoch gebärdet sich in seinen Reflexionen über das Flaubertsche Werk, als hätte er einen Roman in der Auktoriale vor sich: Er unterstellt Flaubert sich aufgrund seiner Ablehnung des Bürgertums dafür entschieden zu haben, den auktorialen Erzähler Charles’ Wirklichkeit unterschlagen zu lassen. Andere Ursachen lässt Améry gar nicht erst zu.  Zusätzlich  spricht Améry in seiner Polemik Gustave Flaubert schlicht und ergreifend ab, einen realistischen Roman geschaffen zu haben: Weil er nicht auch Charles' Realität fokussiert habe! Da Charles ein Tölpel sei, hätte jeder realistische Erzähler für ihn Wort ergreifen müssen, hätte seine Leere füllen müssen (Vgl.: S. 124). Diese Forderung Amérys gibt zu erkennen, dass er verkennt, was Flaubert schaffen wollte und schuf. Ein Widerspruch zudem zu Amérys klugem Vermerk: »Die Literatur hat keine Sprache, in die intersubjektive Wirklichkeit sich einfangen ließe.« (S. 120) Denn Sprache sei immer »[…] zugleich Brücke und unüberbrückbare Kluft« (S. 121).

Dass auch das Schweigen einer Figur, ihr Verstummen ›Sprache‹ ist, die Leerstelle sowie die Auslassung als beunruhigendes Element gestaltet werden können, ignoriert Améry ebenso wie die Tatsache, dass beide ihren Stachel verlören, würde sie mit Worten gefüllt werden, und belegt indirekt genau diese These mit dem Lektüreeffekt, den sein seitenlanger Monolog Charles' bewirkt: Wir verschließen uns irgendwann vor dem ausgebreiteten Schmerz, er beginnt zuerst, uns kalt zu lassen, ödet uns später bloß noch an. Im Gegensatz dazu steht Flauberts Gestaltung: Gerade weil Charles dort bloß an den Rändern des Erzähluniversums auftaucht, beschäftigen wir uns in Gedanken mit jener Figur.

 

(Améry, Jean: Charles Bovary, Landarzt. Porträt eines einfachen Mannes. Klett-Cotta Verlag 1997.)