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Cantú »No Man's Land«. Oder: Wie menschlich vermag ein Grenzschützer zu bleiben?

Was uns prägt …

 

»Ich werde mich nicht in einen anderen Menschen verwandeln«, verspricht ein junger Mann mit mexikanischen Wurzeln seinem sozialen Umfeld, da er – nach seinem Studium der Internationalen Beziehungen – beim nordamerikanischen Grenzschutz Dienst tun will. Schon ist unser Argwohn geweckt. Bevor wir ihn als Mitglied der U.S. Border Patrol zu seinem neuen Arbeitsort begleiten, erzählt Francisco Cantú eine weitere Szene: Er und seine Mutter verbringen gemeinsam einige Tage in El Paso, passieren die Grenze nach Ciudad Juárez, obgleich man sie zuvor auf nordamerikanischer Seite warnte, dass Kriminalität diese Stadt dominiere. Beim Überqueren einer mehrspurigen Fahrbahn stolpert seine Mutter aufgrund eines Schlaglochs, prellt sich den Knöchel, sodass sie alleine nicht mehr aufstehen kann. Hilfe eilt sogleich herbei, aus Autos, aus Geschäften: Gelebte Mitmenschlichkeit an einem Ort, der einen anderen Ruf hat. 

 

Wenn Grauenhaftes Alltag wird …

 

Mit beiden Szenen im Gedächtnis begeben wir uns im Jahr 2008 an die Grenze. Der Wüstenstreifen zwischen den beiden Staaten ist Cantús erster Einsatzort. Drogen- und Menschenschmuggel prägen nun sein Alltagsleben; und bald schon seine Träume. Es sind meist einzelne Einwanderer, die sie in der Wüste aufgreifen, weil jene ihrem Schlepper zu langsam wurden. Oder weil sie es von vornherein und oft zum x-ten Mal auf eigene Faust versuchten, dies unwirtliche Land zu durchqueren, ungenügend ausgerüstet, orientierungslos, verängstigt, geschwächt durch Hitze, Durst, Hunger. Man bringt sie in die Grenzschutzstation, reicht ihnen – während der Aufnahme ihrer Personalien – Saft, Cracker. Dann werden sie an die nächste Instanz weitergereicht, final abgeschoben. Findet man nur ihre Habseligkeiten, wird Wasser ausgeleert, werden Lebensmittel zertrampelt oder darauf gepisst, um sie zu demotivieren. So läuft diese internationale Beziehung. So gestaltet sich Alltagsleben an der Grenze. Ganz zu schweigen von Massengräbern. Oder den Pathologen, die sich mit der ›Sprache‹ der Drogenkartelle beschäftigen: Was erzählen die Leichen? Was bedeuten in die Mundhöhle gesteckte Gliedmaßen, abgetrennte Köpfe, amputierte Beine, was die unzähligen Frauenleichen? 

 

 

 

 

Nordamerikanische Politik und ihre Konsequenzen

 

 

 

Cantú thematisiert in dieser Reflexion Konsequenzen der Politik, die weit über den nordamerikanischen Raum hinaus relevant sind, eine bereichernde Lektüre zur aktuellen globalen Situation. Es ist sein Verdienst, dass er in »No Man’s Land« dezent die Gegebenheiten nebeneinander stellt, kommentarlos, ohne je direkte Wertungen vorzunehmen. Wobei er natürlich indirekt durchaus wertet; siehe beide Eingangsszenen. Sie legen eine Lesart, eine Deutung nahe. Trotzdem bleibt sein Bericht eher eine Reflexion der Verhältnisse, angereichert mit Sachtexten. Seine Motivation war und ist es, die Grenze als solche zu verstehen, das Leben diesseits und jenseits. Vor allem aber der Frage nachzuspüren: Wie verändert die Konfrontation damit Menschen?

 

Was bleibt …

 

Den Albträumen folgen das Schweigen, die Verschlossenheit, alsbald eine Gereiztheit. Cantú lässt sich in den Innendienst versetzen. Sein Zahnarzt informiert ihn, er zermalme offenbar im Schlaf seine Zähne. Außendienst erneut; in El Paso ist er für den Nachrichtendienst tätig. Befürchtete er zu Beginn noch, die Gewalt würde ihn eines Tages nicht mehr erschüttern, stellt er vier Jahre später fest, dass ihre Mechanismen ihn so sehr beschäftigen, dass er nicht mehr in der Lage ist, die Schönheit der Natur zu empfinden. Daher trifft er die Entscheidung, den Dienst zu quittieren, studiert Kreatives Schreiben. Langsam nimmt er den Dialog mit seinem sozialen Umfeld wieder auf, spricht zum ersten Mal von diesen Erfahrungen, deren Quintessenz  lautet: Man könne nicht Teil eines Systems sein, ohne dass man früher oder später mitmache und das Gift in sich aufnehme.

 

 

Quelle:

Cantú, Francisco: No Man's Land. Leben an der mexikanischen Grenze. München: Carl Hanser 2018.

 

(Der Artikel erschien 2018 in »Die Presse«.)