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D.H. Lawrence »John Thomas & Lady Jane«. Oder: Schwanz und Möse. Ein Skandalroman & seine Literaturgeschichte.

Es war eine Dame der gehobenen Gesellschaft, der Lawrence sein jüngstes Kind zur Lektüre anvertraute, über dessen ›verruchten‹ Charakter er sich damals kaum noch Illusionen machte:  Schwer unterzubringen, werde dieser Roman sein. Sehr schwer. Das glaubte seine Erstleserin auch, wiewohl aus etwas anderen Gründen als der Autor: Bezugnehmend auf eine gängige Formulierung der englischen Umgangssprache, welche unter ›John Thomas & Lady Jane‹ nichts anderes versteht, als die Geschlechtsteile, meinte sie entrüstet, dies Geschreibsel sei ›Zumpferl und Muschi‹. D. H. Lawrence amüsierte ihr Statement in seiner Scheinheiligkeit sehr; ebenso ihr Entsetzen über seine explizite Darstellung weiblicher Sexualität inklusive Orgasmus, weshalb er lakonisch für sich selbst entschied: »[…] so manches wahre Wort wird in Gehässigkeit gesprochen […]« (Nw, S. 496). Mit der Kunst der Ironie, die Lawrence eigen war, und im Wissen, dass der Hintergrund seines Erzähluniversums die sogenannte gute Gesellschaft und deren ungutes Verhalten ist, schien ihm jener Ausspruch als  Titel mehr denn bloß passend. 

 

Gereinigt, geglättet – und verzerrt

 

Die Publikation des Werkes sollte Lawrence wider Erwarten trotz hohen Alters und Publikationsproblematik noch erleben; auf eigene Kosten, als Privatdruck wohlgemerkt, ließ er 1928 seine »Lady Chatterley« in einer italienischen Druckerei, in der man des Englischen nicht mächtig war, publizieren. Bald danach fluteten Raubdrucke den Markt, weshalb D. H. Lawrence 1929 noch eine gekürzte und der Zensur wegen ›gereinigte‹ Volksausgabe in Paris herausgab (S., S. 1123). Wenige Monate später verstarb Lawrence, der erste, der als erstes Arbeiterkind englische Literaturgeschichte schrieb; und der seit 1979 die Cambridge University Press bemüht: Eine wissenschaftliche Edition seines Gesamtwerks ist in Arbeit, die nicht bloß alle publizierten und verworfenen Textvarianten beleuchtet, sondern obendrein eine Rekonstruktion derjenigen Textversionen versucht, die Lawrence veröffentlicht hätte, wenn Zensur und Bedenken der Verleger ihn nicht eingeengt und behindert haben würden. 

Auch seine Witwe, um den Nachlass bemüht, trug zu jener Flut an Textvarianten das ihre bei. Sie gab zu einer weiteren Version der Romanhandlung 1932 ihr Einverständnis. Wiederholt und in mehreren Ländern schaffte es der Skandalroman auf die Liste der verbotenen Werke, wurde beschlagnahmt und eingezogen – wobei solche Sendungen alsdann gerne  niemals ihren Bestimmungsort ›Vernichtung‹ erreichten, sondern die Buchexemplare schlicht und ergreifend auf dem Weg in die Behörden ›verschwanden‹.

 

Die prüden Briten oder ein kalkulierter Skandal?

 

1960 sorgte der Roman ein weiteres Mal für Aufsehen. Erstmals erschien auch in England eine vollständige Fassung der »Lady Chatterley« bei Pinguin Books, für die sich der Verlag sogleich gegen den Vorwurf der ›Veröffentlichung einer obszönen Ware‹ vor Gericht zu verantworten hatte. Indiz dafür gebe das Vokabular des Werkes, so der Staatsanwalt, der aufzählte: »Dreißig Mal käme das Wort ›fuck‹ oder ›fucking‹ vor, vierzehn Mal sogar das Wort ›cunt‹, dreizehn Mal ›Hoden‹. ›Scheiße‹ und ›Arsch‹ je sechs Mal, vier Mal ›Schwanz‹, drei Mal ›Pissen‹.« Ach du meine Güte! Doch DAS corpus delicti schlechthin »[…] waren vor allem jene dreizehn ›Nummern‹ […]« (Nw., S. 220), von denen Lawrence freimütig erzählte und die er in der Liebesbeziehung zwischen dem ›umstandesgemäßen‹ Wildhüter und der adeligen Constance geschehen ließ. Jener Rechtsstreit rund um diese Publikation wurde vielfach als eine gezielte Marketingaktion zur Bewerbung des Werkes interpretiert – sei es wie es sei: Penguin wurde freigesprochen, übernahm großzügig die Prozesskosten, die in jenem Fall zulasten der Staatskasse gegangen wären, und einen Monat nach Prozessende waren bereits anderthalb Millionen Exemplare verkauft (S., S. 222)

Ein detaillierter Vergleich der unterschiedlichsten Versionen dieses Romans ist auch für nicht-literaturwissenschaftliche Leser*innen, die sich für Sozialgeschichte interessieren, durchaus spannend. Allgemein lässt sich sagen, die jeweiligen Fassungen differieren vor allem in der Charakterdarstellung der Hauptfigur Constance. Ist sie in der zweiten Textversion sehr fraulich, spricht in direkten Worten über Sexualität und über ihr Erleben derselbigen, so verhält sie sich in späteren oder gereinigten Varianten eher wie Lawrences Erstleserin: als versnobte Dame von Welt, die das Wort ›Sexualität‹ lieber nicht in den Mund nehmen möchte. Ganz zu schweigen von anderen üblichen Termini die zum Erleben eines sexuellen Aktes gehören. Ihr Liebhaber spricht gemäß Constances Empfinden in der zweiten Fassung zwar wiederholt in seinem derben Heimatdialekt, doch wird kaum ein Redebeitrag direkt wiedergegeben, der jenes Adjektiv verdienen würde, sondern solche Sprechakte werden meist paraphrasiert. Auch die dialogische Übermacht verändert sich von Bearbeitung zu Bearbeitung. Ebenso das Romanende. Im Gegensatz zur zweiten Fassung lässt sich in der 1960 vor Gericht diskutierten dritten Fassung Lord Chatterley empört scheiden. Nicht des Ehebruchs wegen, sondern weil dieser Fremdgang unter seinem Stand geschah und ihn deshalb entehrt habe. Die zweite Fassung hingegen lässt das Ende offen, Lord Chatterley wird zu einer irrelevanten Größe deklariert, wir nur in den Plan zwischen Constance und Parkin eingeweiht.

 

Von wegen »Shades of Grey«!

 

Unsere zeitgenössische Rezipient*innen punkten gerne durch eine Vergleichssetzung mit »Shades of Grey«, was meines Erachtens zwar der Aufmerksamkeit ihres Beitrages dienen mag, doch an den Haaren herbeigezogen ist. Lawrences Roman ist nämlich vor allem eine Darstellung der Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die Psyche und ein vernichtendes Porträt des britischen Landadels. Dieser ist in Lawrences Darstellung nicht bloß im metaphorischen wie wortwörtlichen Sinn krank, sondern er besteht vielmehr aus lebendigen Toten, die unfähig sind, irgendetwas zu empfinden und die daher nichts Menschliches mehr an sich haben. Ihr Extrem stellt Lawrence im Minenbesitzer Lord Clifford Chatterley dar, der während des ersten Weltkriegs relativ überhastet Constance, die Tochter eines Künstlers und Freigeists namens Sir Malcolm heiratete, mit ihr einen Monat Flitterwochen erlebte, um sich danach erneut ins Kriegsgeschehen zu stürzen und »[…] sechs Monate später, mehr oder weniger zerschossen, nach England zurückgebracht zu werden.« (S. 5) 

Die bestechende Lakonie, welche wie eben gezeigt den Beginn des Romans dominiert und einen sogleich für dieses Werk vereinnahmt, verliert sich als Erzählhaltung bedauerlicherweise rasch. Sie wird auf den nächsten vierzig Seiten vor allem durch das erläuternde Kommentar abgelöst, was auch deshalb frappiert, da die »Lady Chatterley« Mitte der 1920er-Jahre entstand und Erzählmanöver wie zum Beispiel die implizite Darstellung oder auch der innere Monolog, die Bewusstseinsstromtechnik sowie weitere Varianten kommentarfreien Erzählens seit Flaubert, Joyce und Woolf, seit Schnitzler und Proust durchaus bekannt waren.

 

Unnötig und holprig oder die Crux der Erzählkommentare

 

Wir erleben Constances Ersticken an der Seite ihres nunmehr gelähmten Mannes, der alles Lebendige zu hassen beginnt, nicht bloß mit und sind als mündige Leser*innen aufgefordert, unsere Schlüsse zu ziehen, sondern es wird außerdem auch noch als Faktum wiederholt behauptet. Was einen gänzlich anderen Effekt im Werkerleben erzielt als die Darstellung. Der Inhalt, der so transportiert werden soll, verliert an Sprengkraft und erreicht den Lesenden nicht, was insbesondere heutigen Rezipient*innen den Zugang zu diesem Werk erschweren mag, da die Kommentare dem Gesamten eine betuliche Schwere auferlegen, die nervtötend wirkt. Trotz dieses Mankos lohnt sich aber die Lektüre, hat man für die ersten rund fünfzig Seiten ein wenig Geduld; nicht bloß weil Cliffords Agieren einem Verhalten entspricht, das gerade heute die Psychologie beschäftigt: Die gekonnte Ausübung psychischer Gewalt durch einen Menschen. Eine Dynamik, die er oder sie einsetzt, weil er oder sie ansonsten Machtverlust fürchtet. Im Falle Cliffords sind die Hintergründe hierfür das Einbrechen des eigenen Status’ als omnipotenter Adeliger aufgrund der Wirtschaftskrise, die sich verändernden sozialen Rollen durch die Industrialisierung und eine kriegsbedingte Versehrtheit seiner maskulinen Potenz. 

 

Des Impotenten Rache ob seiner Ohnmacht

 

Dadurch dass Clifford vorerst glaubt, niemanden mehr dominieren zu können, steigert sich seine von Beginn an existente Grausamkeit zusehends. Mit der Zeit setzt er die Abwertung aller Personen seiner Umgebung geradezu strategisch ein, um die eigene Ohnmacht nicht empfinden zu müssen. Sein Verhaltensspektrum reicht von verbalen Attacken über Häme bis zur vollständigen Ignoranz jener Person, die er wenige Minuten zuvor noch als helfende Hand in sein Zimmer bat und die er nun neben sich stehen lässt, minutenlang, als wäre die Existenz jenes Menschen vollständig getilgt. An seiner Seite schwindet Constances Lebenskraft, sie erfriert an seiner Kälte.

Diese Dynamik stellte Lawrence offenbar vor ein erzählerisches Problem, welches er damit zu lösen trachtete, dass er die ohnedies verständliche Entwicklung zwischen den beiden Hauptfiguren Clifford und Constance nicht bloß über ihre Redebeiträge, ihr Agieren, ihre physische Veränderung darstellt, sondern sie uns obendrein auch noch erklärt! Das klingt dann zum Beispiel so: 

»»Warum?« [Constance]

»Für deine Gesundheit – für deine Nerven – für deine Laune. Ich fürchte, du könntest deprimiert werden.« [Clifford]

Sie runzelte die Stirn unter den wiederholten kleinen Schlägen seiner Beharrlichkeit. Er erzwang sich ihre Aufmerksamkeit.

»Ich werde nicht deprimiert«, sagte sie, denn jetzt wußte sie, daß er sie nicht in Ruhe lassen würde, und so antwortete sie grob: »Was würde es nützen, wenn ich wegginge? Ich würde immer an dich denken. Meine Gedanken würden nicht wirklich mitgehen. Du weißt, daß deine Gedanken immer bei mir sein würden, ich würde die ganze Zeit an dich denken müssen. Du würdest mich mit deinem Willen festhalten, wie weit ich auch ginge. Es wäre kein richtiges Weggehen.« Sie sprach ungeduldig und fast bitter. Aber das schien ihn zu stimulieren. Er richtete sich ganz fröhlich in seinem Stuhl auf.« (S. 32)

Zahllos sind jene Kommentare und sie erschweren – neben den manchmal langatmigen Dialogen, in denen Gleiches mehrfach gesagt und obendrein alsdann auch noch erläutert wird – den Zugang. 

 

Implizite Erzählmanöver und Spiegelszenen

 

Es irritiert nicht nur der antiquierte Dunst dieser Erzählhaltung zu Beginn des Romans, die vor Flaubert gang und gäbe war, sondern weil D. H. Lawrence außerdem während der nachfolgenden Erzählabschnitte erkennen lässt, dass er implizite Erzählmanöver durchaus beherrscht: Nebenher wird der Wildhüter Parkin eingeführt, ein Naturbursche, geradlinig, ein wenig wortkarg und – im Verlauf des weiteren Romans – der einzige Mensch, der in diesem Roman nicht bloß Cliffords Taktik durchschaut, sondern ihm Paroli bieten kann. An Parkin verpufft, was andere wie Constance oder die Pflegerin Ivy zerstört. Dabei erkennen Außenstehende sehr wohl, was in dieser Ehe vor sich geht, doch der einzige Rat, den Sir Malcolm oder Hilda, Constances Schwester, der jungen Frau geben, ist derjenige, dass sie die Ablenkung suchen solle. Sie solle auf Reisen gehen; und unterwegs einen Liebhaber finden. Von jenem brauche ihr Gatte ja nie zu erfahren. Naturgemäß solle dieser Flirt einen ihres Standes zum Ziel haben; an andere? Denke man nicht einmal! Und Constance? Tut, was man ihr sagt – und tut es doch auf ihre eigene Art: Sie verliebt sich. Und dies nicht fern des eigenen Heimes, sondern in unmittelbarer Nachbarschaft. Auch nicht in einen weiteren lebendigen Toten der Upperclass, sondern in einen Vertreter der einzigen lebendigen Individuum in diesem Erzähluniversum: in ebenjenen Wildhüter ihres Mannes. 

 

Es liegt in der Natur …

 

Während eines ersten Spaziergangs des Ehepaares in den Wald klingt schon implizit an, was in diesem Lebensraum der Natur gefunden werden wird:

»»Solange ich lebe«, sagte er [Clifford], »werde ich natürlich niemanden in den Wald lassen, außer wenn ich ihn dazu auffordere. Aber wie soll man bei einer Bevölkerung, die jährlich um Millionen wächst, die schließliche Verwüstung verhindern? Sie werden alle Schranken durchbrechen, rein durch das Gewicht der Zahlen, und es wird ein Sumpf von vulgären Leuten, von ordinärer Gewöhnlichkeit sein. Gott sei Dank werde ich das Schlimmste wohl nicht mehr erleben. Ich wollte, wir hätten genug starke Männer, um eine kleine Aristokratie zu bilden und die anderen in die Sklaverei zurückzustoßen, wohin sie gehören.«

Aber sie [Constance] wollte nicht zuhören. All diese trockenen, materialistischen Zukunftsvisionen ärgerten sie. Irgendwo im Wald spürte sie einen anderen Einfluß, etwas geheimnisvoll Lebendiges. Und durch sein Gerede ließ er sie das nicht spüren.« (S. 30)

Am Ende jenes Spaziergangs tritt Parkin erstmals in Erscheinung. Vorerst wird er einzig als ein besonders kräftiger, wortkarger und geduldiger Untergebener, der sich dennoch nicht triezen lässt, während er Cliffords Rollstuhl den Weg aus dem Wald hinaus (!) schiebt, wahrgenommen. Die Ordnung ist wiederhergestellt, mag Clifford noch so oft betonen, er bestimme, wer den Wald betrete. Bei seinem zweiten Auftauchen wird der Wildhüter jedoch zum rohen Menschen, der eine wildernde Katze tötet, und den Zusammenhang zwischen dieser Maßnahme und dem restlichen Tierbestand weder seiner heulenden Tochter aus erster Ehe noch Constance zu erklären vermag. Eine Situation, die Constance mit Geld löst. Das Geheul verstummt, Constances Welt ist gerettet, doch eine Düsternis bleibt zurück, eine Verstimmung.  

Die Ahnung von ›etwas geheimnisvoll Lebendigem im Wald‹ kehrt bald schon über Fauna und Flora wieder, welche implizit die Vorarbeiten für den ersten großen Auftritt des Wildhüters leisten: Eine geniale szenische Komposition, die dadurch entwickelt wird, dass Constance ihn zuerst aus der Ferne beobachtet, wie er sich im Garten seines Hauses den entblößten Oberkörper wäscht. Constance flieht mitsamt ihrem Begehren, das sie empfindet. Um wenig später zum Haus des Wildhüters offiziell zurückzukehren, denn schließlich habe sie ihm etwas von Clifford zu bestellen. Der nachfolgende Dialog kontrastiert die vorherige Erregung durch die innere Herabsetzung des Wildhüters in Constances Denken: Alles Auffallende wird zur Abwertung genutzt, sei es eine Nebensächlichkeit wie Herkunft oder Benimm, Dialekt oder mangelnder Status; und die Kraft wird zur Rohheit. Lesend folgen wir Constances Abwehrreaktion inklusive ihrer verzerrten Wahrnehmung seiner Person und ahnen zeitgleich seinen wahren Charakter; und den ihren. Dass Lawrence uns lange über die Beweggründe beider in Schwebe hält, ist ein genialer erzählerischer Schachzug.

 

Begehren und Ablehnung

 

Der besagte Kontrast zwischen ihrer instinktiven Anerkennung seiner Individualität und Charakterstärke und der bewussten Abwehr aufgrund seines mangelhaften sozialen Status’ lässt aus dieser Szene im Zusammenspiel mit anderen Szenen, deren Spiegel sie ist, eine der besten des gesamten Romans werden. Die Technik der Spiegelszene, partial oder total, ist übrigens ein Erzählmanöver, welches Lawrence wiederholt nutzt. Übrigens setzte auch E. M. Forster, der seinen Kollegen in einem Nachruf als „the greatest imaginative novelist of our generation“ („der größte einfallsreiche Romancier unserer Generation“) bezeichnete, diesen Kunstgriff einander durch Ähnlichkeit sowie Kontrast implizit erläuternder Szenen sehr gerne ein. 

Parkins Antwort auf oben erwähnte Spiegelszene  erinnert an die wunderbare Lakonie des Beginns und lautet übrigens: »Schon gut, Mylady! Ich werde dafür sorgen, daß es so geschieht, wie Sir Clifford wünscht.« (64) Wer soll hierbei nicht an die dreißig Seiten zuvor abgeschlossene verblüffende Vereinbarung zwischen Clifford und Constance denken? Um dem Haus Wragby, Cliffords Familiensitz, trotz der kriegsbedingten Impotenz ihres letzten Familienmitglieds einen Erben und somit eine Zukunft zu schenken, werde sich Constance einen Liebhaber suchen – ob Clifford etwas dagegen einzuwenden hätte? Hat er nicht – schließlich ist es ihm nur ein Gedankenspiel ohne reale Komponente, denn mit wem solle sie sich in ihrem von ihm kontrollierten Alltagsleben einlassen, wenn sie ohnedies keinen Umgang mit anderen Personen von Stand hätten? Im existenten Außerhalb des Dorfes und der Kleinstadt gebe es doch nur ›Sklaven‹, ›Minderwertige‹ wie Clifford sie mehrfach abschätzig nennt.

Dass sich Constance ausgerechnet in ›so einen‹ verliebt, ist Clifford sowieso unvorstellbar. Dass ›so einer‹ obendrein anzubieten habe, was Clifford fehlt, käme ihm auch nie in den Sinn: Integer ist Parkin, ehrlich, wo Clifford taktiert; wortkarg, wo Clifford schwafelt; vor allem aber ein fühlender Mensch, wo Clifford tot ist. Nicht zufällig wird Contance mit Parkin ihren ersten Orgasmus erleben, wird von Begegnung zu Begegnung mehr Frau werden, weicher, lebendiger. Innert weniger Wochen fällt alles Verknöcherte, Vereiste von ihr ab – was zwar Cliffords Misstrauen weckt, doch nicht genug, damit er, gesättigt durch seine Egozentrik, aktiv würde. Seine Pflegerin Ivy hingegen zählt bald schon eins und eins zusammen, und nutzt dieses Wissen samt implizit versprochener Verschwiegenheit, um ihre Machtposition im Haushalt zu festigen. Als Constance ahnt, dass sie mit Parkin Kind schwanger ist, bringt sie Clifford dazu, die Zusage zu äußern, er würde keine Scheidung anstreben, er würde ein etwaiges Kind mit Sicherheit als sein eigenes anerkennen. Zu diesem Zeitpunkt geht es Constance jedoch noch immer primär um das Lebendige in sich. Nicht um Parkin als Mensch.

 

Trennung oder wer ist da der Prolet?

 

Mit ihrer Schwester Hilda und ihrem Vater bricht sie wenig später zu einer vierwöchigen Reise nach Frankreich und Spanien auf. Man könnte auch sagen, sie sucht die Distanz, um Klarheit zu gewinnen, denn Parkin leidenschaftlich zu lieben ist eines. Zu jener Zuneigung auch in feindlicher Umgebung gelassen zu stehen, etwas ganz anderes, mag dieser eisige Wind nun von Seiten des Landadels oder der Arbeiter*innen wehen.  

In der Ferne geschieht, womit Constance nicht rechnete: Sie empfindet überwältigenden Abschiedsschmerz, eine tiefe Sehnsucht nach Parkin, welche just dadurch genährt wird, dass die Schwester, die Constance ins Vertrauen zog, ihre Ablehnung ›solch einer Mesalliance‹ allzu direkt äußert. Hinzu kommt, dass Constance die oberflächliche und vergnügungssüchtige  Lebens[un]art der versammelten Gruppe vom Leben gelangweilter Adeliger abzulehnen beginnt.  

Der Kommentar eines befreundeten Künstlers bietet ihr eine Lösung des inneren Konfliktes: Die Gesellschaft, so sagt er, werde von abgestumpften Proletariern dominiert. Keineswegs seien diese jedoch an ihrem sozialen Status zu erkennen, denn zahlreich seien darunter die besitzenden Proletarier; weshalb das Gegenstück zu ihnen schlicht »ein warmherziger Mensch« (S. 382) sei – wie Parkin, schlussfolgert Constance.

 

Wie aber einer Gesellschaft entkommen,

deren Wertungskriterien einem selbst

in Fleisch und Blut übergegangen sind?

 

Noch vor ihrer Rückkehr erfährt Constance durch die hämischen Briefe ihres Mannes sowie seiner Pflegerin Ivy, dass just die Menschlichkeit jenes Mannes, den sie liebt, in Gefahr ist, an den Lebensumständen und der Machtbesessenheit anderer zu zerbrechen: als dürfe es keine glücklichen und in sich ruhenden Wesen geben …! 

In weiterer Folge zeigt sich, dass Constance, die man bislang eher als vom Leben gebeutelte Frau erlebte, durchaus einen Plan verfolgen und seine Umsetzung sukzessive anstreben kann. Weder soll ihr Kind Cliffords Psychospielchen ausgesetzt werden noch will sie Parkins Untergang zusehen, denn jener verlor ob der Machenschaften seiner ersten Gattin, die ihn zuvor wegen eines anderen Mannes verließ, seinen Posten als Wildhüter, hatte danach als Minenarbeiter anzuheuern, um bald von der täglichen Ausbeutung Untertags ebenso grau und leblos zu werden wie zahllose andere Arbeiter auch. Die ersten beiden Begegnungen mit Parkin nach ihrer Rückkehr sind daher ein Schock für Constance, weshalb sie auf ihrem zuvor schon nebenher eingebrachten Vorschlag zu insistieren beginnt: Sie habe aufgrund ihres Erbes mütterlicherseits ein kleines Vermögen, zu dem sie ihrem Gatten bislang erfolgreich jeden Zugang verwehrte, obgleich er dieses Geld so gerne in seine Minen stecken wollte, um noch mehr Vermögen aus den abgerackerten Arbeitern herauszuholen. Mit diesem Erbe wolle sie nun eine kleine Farm kaufen, die Parkin, als sein eigener Herr, bewirtschaften solle. Und lautete vor ihrer Abreise gen Süden der Plan noch, sie werde ihn dort ab und an zu einem Schäferstündchen besuchen, ihren Mann jedoch nicht verlassen, denn die Ehe und das Miteinander eines Alltags zerstöre jede Liebe, so wird diese Zukunftsidee nach ihrer Rückkehr gänzlich umgewandelt: Sie werde nach Schottland zurückkehren, woher sie stamme, dort besitze sie jene Grundstücke, dort werde sie ihr Kind zur Welt bringen und auf ihn warten, dort wollen sie einander wiedersehen, sobald Parkin seine Verhältnisse geordnet habe und die Scheidung ausgesprochen sei.

Auch Parkin Antwort hat sich durch die Lebensumstände veränderte. Lehnte sein ›Ehrbegriff‹ zuerst den Grunderwerb durch eine Frau als undenkbar ab, ist er mittlerweile zu der Erkenntnis gelangt, es sei egal, an wen er sich verdinge, an einen Minenbesitzer oder an eine Frau, denn die Hoffnung, in herkömmlichen Arbeitsverhältnissen je ausreichend zu verdienen, um irgendwann eigenen Grund und Boden zu erwerben, diese Hoffnung habe er mittlerweile begraben müssen. Sobald Constance ihn rufe, werde er kommen. Damit endet der Roman in seiner zweiten Fassung – relativ abrupt, um die Wahrheit zu sagen. Vieles bleibt final offen:  Es ist durchaus fraglich, ob Constance es schaffen wird, Clifford zu verlassen, es ist fraglich, ob Parkin und sie als neues Paar trotz aller Ablehnung rundum werden bestehen können. Es ist fraglich, ob der Wandel, der in den beiden Hauptcharakteren begann, eine Fortsetzung findet … Das Werk selbst jedenfalls schon – es erschien 1934 in Paris eine wirkliche Fortsetzung der Geschichte, verfasst  von Jehanne D’Orliac unter dem Titel »Le Deuxième Mai de Lady Chatterley«  (S., S. 446), welche die Zeit nach Constanzes Trennung von Clifford fokussiert.

Und dennoch: Dieser Roman schließt genau an der richtigen Stelle, denn jenes Erzähluniversum bedarf des finalen Fragezeichens. Und der nächste Krieg droht bereits … 

       

 

 

Quellen:

Lawrence, D. H.: Lady Chatterley’s Lover. London: Macmillan Collector’s Library 2017.

Lawrence, D. H.: John Thomas & Lady Jane. Die zweite und beste Fassung der ›Lady Chatterley‹ Zürich: Diogenes 1978. 

Gart, Roland: Nachwort. In: John Thomas & Lady Jane. Die zweite und beste Fassung der ›Lady Chatterley‹ Zürich: Diogenes 1978. S. 495–499. (Nw.) 

Schmitz, Rainer: Was geschah mit Schillers Schädel? München: Wilhelm Heyne Verlag 2008. (S.)