Seethaler »Das Feld«. Oder: Das Einzelne ohne Fallhöhe und das Gesamte als Zufall

Die Schwierigkeit, auf die man bald stößt, liest man dieses Werk nicht an dreißig Tagen abschnittsweise zur knappen Einschlaflektüre und legt jede Erwartungen an eine Gesamtkomposition von vornherein ad acta, ist die mangelhaft verwobene Textur. Die Fäden dieser Miniaturen sind kaum miteinander verflochten. Sie flattern nebeneinander im Wind oder reißen just dort ab, wo ein Muster durch unterschiedliche Gesichtspunkte oder Wissensstände entstünde. Hinzu kommt, dass zahlreiche dieser Momentaufnahmen kein Echo im Lesenden auslösen, brechen sie doch just dort ab, wenn ein Bezug zu jenem Protagonisten entwickelt werden könnte. Folglich wird kaum eine Fallhöhe aufgebaut. Fazit ist daher, dass die Lebensgeschichten dieser Figuren einen kalt lassen; nicht alle – doch mehrheitlich. Dies ist insbesondere deshalb schade, da es in diesen dreißig Miniaturen einige wahrlich poetische Passagen gibt. Jene versprechen Nähe zur Figur, doch kaum sind sie gelesen, diese Wortbilder oder Einzelsätze, schon sind sie wieder vorbeigezogen; die Enttäuschung folgt ihnen auf den Fuß, so wie der versprochenen Nähe oder der Tiefe eben nichts als frustrierende Ernüchterung folgt.

Die Miniaturen lassen sich auch nicht wie ein poème en prose, ein Prosagedicht, zum Beispiel von Beaudelaire, lesen, bei dem wir bei einzelnen Passagen innehalten und das Wort selbst in uns nachklingt. Dazu fehlt es ihnen – auch an den poetischeren Stellen – an sprachlicher und inhaltlicher Tiefe. Sie ähneln eher den Statusmeldungen der Social Media Foren.

Um dieses Lektüreerlebnis exemplarisch zu verdeutlichen, sehen wir uns doch das Eingangsszenario an: Ein alter Mann spaziert Tag für Tag zum Friedhof, der in der Sprache der nahen Kleinstadt nur ›das Feld‹ genannt wird. Inmitten der Gräber setzt er sich jedes Mal auf eine Bank, die er zu der seinen erkoren hat, um seinem Tag, gemäß seinem Alter, eine Ruhepause zu gönnen. Er sitzt und vermeint, die Stimmen der Toten zu hören - fern und trotzdem deutlich, zugleich unverständlich, wie das Vogelgezwitscher, welches einem weitab anderer Menschen, ihrem Lärmen und Werken stärker denn sonst auffallen mag, selbst wenn man von Vögeln keinen blassen Schimmer hat und ihre Einzelstimmen nicht erkennt:

»Als junger Mann wollte er die Zeit vertreiben, später wollte er sie anhalten, und nun, da er alt war, wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie zurückzugewinnen.« (S. 15)

Der nächste Satz jedoch knallt uns wie eine nicht inszenierte Ohrfeige um den Kopf, er ist schon eher ein Fußtritt, der uns aus allem wirft, was im Absatz zuvor aufgebaut wurde. Er lautet:

»Das war der Gedanke des alten Mannes.« (S. 15)

Na no na ned!

Was denn bitte sonst?

Leider aber ist das kein Ausrutscher in der Textarbeit, die Autor wie Lektor übersehen hätten. Es kehrt nämlich wieder. Und wieder. Und wieder. Es ist ein Problem des fehlenden Gesamtkonstrukts.

Fortwährend wird uns da oder dort ein Versprechen gegeben, auf Nähe zur Figur, auf etwaige Tiefe, auf einen Bogen – die Aufzählung ließe sich ellenlang fortsetzen –, um alsdann nie eingelöst zu werden. Bis man dieses Werk über hat … Danach tröpfelt und wabert das Erzähluniversum, welches eher ›gescheiterter Versuch‹ genannt werden sollte, bloß noch am Lesenden vorbei. Wer zu oft von Versprechen enttäuscht wird, glaubt ihnen eben nicht mehr, auch dann nicht, wenn der auktoriale Erzähler uns nochmals einzuweihen versucht: »Er [, der alte Mann,] war nämlich der Meinung, nur auf diese Weise, mit dem Rücken zur Welt, in aller Ruhe und ganz ohne Ablenkung, ließe sich ein Gedanke zu Ende denken.« (16) 

Doch ebenjenen Gedanken – uns versprochen –, den erfahren wir niemals.

Genau so verhält es sich mit den weiteren 29 Stimmen der Toten, die alsdann an der Reihe sind. Während der Lektüre dieses Parts, hofft man noch von Miniatur zu Miniatur auf eine Grande Finale, eine frappierende Auflösung, auf die eventuell alles hinauslaufe, um irgendwann die letzte Seite zu wenden und damit zu schließen, dass dieser Paukenschlag nicht kam. Keine Klimax. Keine Rahmenhandlung. Kein Bogen. Nichts.  Ob diese Nicht-Komposition einer Komposition – und das sollte ein literarisches Werk doch sein, Szene für Szene sowie im Ganzen –, ob dieses – nenne wir es lieber: Konstrukt, ob dieses Konstrukt so eine gute Idee war? Das fragt man sich am Ende, vor allem auch weil man beim besten Willen keine Auswahlkriterien unter all den für dieses Setting vorstellbaren Erzählinhalten ausmachen kann. Die Zusammenstellung wirkt nur beliebig, allzu beliebig.

Hinzu kommt, dass die 30 Erzählstimmen kaum voneinander variieren. Mitnichten weist ein jede/r seinen eigenen Duktus auf. Weshalb man wahrlich versucht ist, mit der Miniatur Sophie Breyers zu schließen, die nur ein Wort beisteuert – »Idioten.«  (S. 242) – denn ordentlich veräppelt fühlt man sich am Schluss …