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Čechovs »Die Dame mit dem Hündchen« oder: Wenn Leerstellen das Erwähnenswerteste sind

Anton Čechov gelang mit einer kurzen Erzählung von rund 40 Seiten, wovon zahlreiche Literat*innen träumen: Das eigene Werk möge nicht bloß verfilmt werden, es möge nicht nur Stoff für Auseinandersetzungen liefern, sondern obendrein Kolleg*innen dazu anregen, jenen Plot gleichfalls aufzugreifen. Mit einem Wort: Es solle Wellen schlagen. Vorzugsweise Ewigkeiten über die eigene Zeit hinaus.

 

Die Handlung dieser Erzählung ist denkbar simpel: Der 40-jährige Moskauer Philologe Dmitri Dmitritsch Gurow, der in einer Bank angestellt ist, macht – ohne Frau und Tochter – Urlaub in Jalta. In jenem Kurort der Krim lernt er Anna kennen, die gleichfalls ohne Ehepartner, begleitet einzig von ihrem weißen Spitz, ebenda zur Erholung residiert. Die beiden beginnen eine Sommerliebe, welche jäh endet, als Annas Mann schreibt, er werde bedauerlicherweise nicht nachkommen können, da er sich eine Augenentzündung zugezogen habe. Auf seine flehentliche Bitte, sie möge  eher nach Hause zurückkehren, reist Anna also verfrüht ab. Gurow begleitet sie zum Zug. Schicksal, sei dieses abrupte Ende ihrer Zweisamkeit, und gut so: Gott behüte Sie, es hätte nie geschehen dürfen, sagt sie, beschwört den Abschied ›für immer‹ und dass sie sich erinnern werde. Am Bahnsteig weht schon der Herbstwind, der lässt Gurow aus seiner »[…] süßen Träumerei, diesem Wahnsinn […]« aufwachen: Auch für ihn sei es nun an der Zeit für Ehefrau und Tochter. So kehrt er nach Moskau zurück, wo ihm Jalta entschwindet; doch die Erinnerung an Anna selbst scheint ihm von Tag zu Tag präsenter, nicht nur das: Anna wird ihm schöner, verführerischer, edler und welche Steigerung einem sonst noch einfallen mag. Der Small Talk mit den Kollegen hingegen, die Kartenrunden und Herrenabende, welche zuvor seinen Alltag strukturierten, öden ihn an, von seiner Ehegattin schweigen wir lieber – er tut es ja auch:

»Was für ungehobelte Sitten! Was für stumpfsinnige Nächte, welch uninteressante, nichtssagende Tage! Dieses hemmungslose Kartenspiel, das Fressen, das Saufen und dauernd die Gespräche über immer dasselbe. Die unnötigen Geschäfte und Gespräche über immer dasselbe, sie rauben die beste Zeit, die besten Kräfte, und was dir am Ende bleibt, ist ein verstümmeltes, flügellahmes Leben, eine Sinnlosigkeit, der du nicht entgehen, nicht entfliehen kannst, wie wenn du im Irrsinn säßest oder in der Strafkolonie!«

Deshalb beschließt Gurow, unter dem Vorwand einer notwendigen Dienstreise nach S. zu fahren, um Anna aufzusuchen. Das zufällige Wiedersehen im Foyer des dortigen Theaters – man spielt die  amoureuse Verwechslungs-Operette »Die Geisha« von Sidney Jones – endet mit einem Hasten durch zahllose Gänge, treppauf, treppab, bis Anna ihm das Versprechen gibt, nach Moskau zu kommen, denn auch sie könne Gurow nicht vergessen, kenne keinen glücklichen Tag seither. Scherzkekserl, denken wir, denn Anna erschien wohl niemandem bislang als Kind der Fröhlichkeit, und sollten wir trotzdem ihren Worten glauben, so wurde ihr die Leichtigkeit mit ihrer Eheschließung in sehr jungen Jahren zum Fremdwort. Bei ihrem Wiedersehen in S. jedenfalls repetiert Anna zuerst fortwährend die gleichen, abwehrenden Sätze, um Sekunden später das Gegenteil davon zu sagen und zusehends theatralischer werdend eine Aussicht zu eröffnen: 

»Was machen Sie, was machen Sie! […] Fahren Sie weg, noch heute, fahren Sie gleich … […] Ich bin nie glücklich gewesen, ich bin jetzt unglücklich und werde niemals, niemals glücklich sein, niemals! Machen Sie mich nicht noch mehr leiden. Ich schwöre es, ich komme nach Moskau.«

Fürderhin wird sie also alle zwei bis drei Monate für einige Tage im »Slawjanski Basar«, einem legendären Hotel in der Moskauer Nikolskaya-Straße, absteigen. Renommiert, nicht nur weil Anton Čechov dort selbst gerne speiste, das Lokal literarisch verewigte oder der Kulturadel seiner Zeit ebenda verkehrte, sondern weil dieser Ort Kulturgeschichte schrieb: Der Schauspieler Konstantin Stanislawski und der Dramaturg Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko trafen einander im Sommer 1897 im »Slawjanski Basar« zum Frühstück und verwickelten einander haltlos in eine Debatte über die Notwendigkeit einer Theaterreform; eine Diskussion, die achtzehn Stunden währte und selbst den Umzug in Stanislawskis Datscha überstand, bis die beiden Herren endlich am Punkt waren: eine Bühne für das Volk tue not! Ein Jahr später, 1898, öffnete bereits das MKhAT, das Moskauer Künstlertheater, seine Tore, der Rest ist Geschichte … Die rettete »Slawjanski Basar« auch nicht vor dem Zahn der Zeit. Sollten Sie also Moskau besuchen, seien Sie nicht enttäuscht, dass die Gegenwart unaufhaltsam voranschreitet und in ihrem Getöse nichts von jenem legendären Hotel blieb – außer der photographischen Erinnerung auf einer Postkarte; und einige Zeilen in Erzählungen. Bei Čechov lauten diese:

»Nachdem Gurow seine Tochter zum Gymnasium gebracht hatte, begab er sich zum ›Slawjanski Basar‹. Er nahm unten den Pelz ab, ging nach oben und klopfte leise an die Tür.«

Für diesen Treffpunkt hat Anna ihrem Ehemann, von Diederitz mit Namen, dem sie schließlich irgendeine sinnvolle Erklärung zu geben hatte, ›Frauenleiden‹ genannt. Man könnte es ebenso ›unschlüssige Zerrissenheit‹ bezeichnen; oder: ›auf das Leben warten‹ … Der gute Mann jedenfalls entscheidet sich, Annas Wort zu glauben, obgleich er vermutet, dass es eine Lüge sei. Seiner Ahnung nachzugehen? Dazu interessiert ihn weder sein Verdacht noch seine Frau genügend. Er beschließt folglich, die Hände in den Schoß zu falten und sich keinen Millimeter zu bewegen. Ebenso wenig wie ihr Ehemann interessiert sich auch Anna nicht für ihn; einen Lakaien nannte sie von Diederitz zu Beginn, und nicht einmal seinen Beruf kann sie im Dialog mit ihrem Liebhaber Gurow benennen: 

»Mein Mann ist vielleicht ein redlicher, guter Mensch, aber er ist doch ein Lakai! Ich weiß nicht, was er dort macht, wie er im Amt ist, ich weiß nur, dass er ein Lakai ist.«

Man könnte einwenden, diese Unwissenheit sei der erzählerischen Gegenwart, in der die Handlung angesiedelt ist, geschuldet, der damals üblichen separierten Lebenspraxis von Mann und Frau; mag sein. Andererseits übernimmt der Erzähler selbst Annas Geringschätzung für von Diederitz. Vielleicht ist sein knechtischer Charakter der Grund dafür, dass der Erzähler diesen Ehegatten nicht wesentlich genug findet, um uns Näheres über ihn zu verraten? Dass Gurow sich keineswegs für diesen Kerl interessiert, dass er von Annas Reden, an deren Rändern der Gatte auftaucht, bloß gelangweilt ist, mag hingegen weniger erstaunlich sein. Wir, die Lesenden, erhaschen später nur einen Blick durch Gurows Augen auf einen jungen Kerl mit Backenbart und beginnender Glatze, sehr groß, etwas gebückt, sodass er den Eindruck erweckt, er würde sich fortwährend verneigen, wozu sein süßliches Lächeln, wie Čechov es nennt, gut passt: jedermanns Knecht eben. Dieser Mann könnte Annas Gatte sein, vielleicht auch nicht – der Erzähler überlässt es uns, zu entscheiden, mit wem Anna die Aufführung der »Geisha« vermutlich besucht. So oder so – Annas Mann wird in dieser Erzählung weiter keine Rolle spielen, außer derjenigen, dass er Annas Erwartungen an das Füllhorn ›Leben‹ nicht erfüllte. Wie denn auch, möchte man gerne fragen: Wie solle ein Ehevertrag ein Dasein plötzlich zum Strahlen bringen? Das vermag ja nicht einmal ein Doppelleben als Ehefrau und Geliebte, wie Anna es im »Slawjanski Basar« mit Gurow beginnt. Der stellt übrigens eine Verschiebung fest: Alles, was ihm wichtig ist, verankert sich nun im geheimen Teil seines Seins. Mehr noch, er erklärt in seiner Weltbetrachtung das zweigeteilte Leben nicht bloß zur Normalität, sondern das Geheimnis an und für sich zum Torhüter des wirklich Relevanten: 

»Von sich schloss er auf andere, glaubte nicht dem, was er sah, sondern ging davon aus, dass bei jedem Menschen das wahre, das wirklich interessante Leben im Schutze der Geheimnisse verläuft wie im Schutze der Nacht.« 

Nicht so Anna. Sie bedrückt die Notwendigkeit, etwas Schönes vor aller Welt zu verbergen, ihrer beider Leben sei zerstört, vermutet sie. Weshalb ein Gesprächsreigen über das Wie des Sich-Befreiens zu beginnen hat, der final in folgender Andeutung kulminiert: 

»Und es schien, nur noch ein bisschen – und die Lösung würde gefunden, und dann würde ein neues, wunderbares Leben beginnen; und beiden war doch klar, dass es bis zum Ende noch weit, sehr weit war und dass das Komplizierteste und Schwierigste gerade erst begann.« 

Damit endet Čechovs Erzählung. Nicht jedoch ihre Wirkungsgeschichte. Wieso dem so sei, fragen Sie? Schließlich ist die Fabel ja bitte schön nichts Besonderes, in keiner Weise, vielmehr tausendfach erzählt, und wo sei überhaupt das titeltragende Hündchen abgeblieben, wie könne ich Ihnen das unterschlagen? 

Alles der Reihe nach, antworte ich. Und natürlich haben Sie recht: Dieser Plot ist mitnichten originell oder innovativ – weder heute noch zu Čechovs Zeiten – doch sind die Inhalte einer Geschichte nie die Erzählung selbst. Vielmehr besteht unsere Kunst aus der Gestaltung, dem Arrangement der Fabel, der Wortwahl … – aus all den Strukturmitteln also, die folglich immer auch Entscheidungen sind. Čechov wählte für seine Inhalte gerne die Knappheit, regelrecht skizzenhaft könnte man diese Art der Darstellung nennen, in der vor allem eines dominiert: die Leerstelle, das Nicht-Erzählte, sondern einzig Angedeutete. In der kleinen Form der Prosa, der Kurzgeschichte, der Erzählung, wurde er damit Meister: Handlungsarm, ohne dramatische Höhen, was sich ereignet, wird verhalten erzählt, vorzugsweise.  

Es ist, als hätte Alexandre Dumas der Ältere nur mal grob und eines Abends die Handlung skizziert, und alsdann seine Schreiberlinge zu hurtiger Arbeit angehalten, Zeit sei schließlich Geld, und morgen Früh habe geliefert zu werden: So saust der Stoff durch Leser*innen-Gehirne; selbst nach der Lektüre.

Um diese Leerstellenkunst auf die Spitze zu treiben, haben wir es außerdem mit einem offenen Schluss zu tun: Das Ende sei noch weit und das Schwierigste beginne gerade erst, das ist ja wohl kaum mehr als der Verweis des Lesenden auf seine eigene Lebenserfahrung, die ihm sagt, Verliebtheit sei gut und schön, der Reiz des Geheimen nähre sie vielleicht sogar, aber irgendwann werde alles Beziehungsalltag; und den Rest dürfen Sie sich ausdenken … So wirft uns Čechov in aller Ungewissheit auf uns selbst und unser Urteil zurück.

Mit dem offenen Ende verfolgte dieser Autor zu Beginn keine besonders originelle eigene Theorie, kein wie auch immer betiteltes Manifest und keine poetologische Überzeugung. Im Gegenteil: Sein offenes Ende, für welches er berühmt wurde, war ein Zufallsprodukt. Es entstand schlicht und ergreifend, weil ihm seine Erzählungen, die er für das Feuilleton schrieb, immer zu lange gerieten, weshalb er, der vorgeschriebenen Zeichenzahl wegen, begann, das Ende wegzulassen. Und den Anfang. Et voilà: Der offene Schluss war geboren! 

Zu den zahlreichen Leerstellen, die diese Erzählung »Die Dame mit dem Hündchen« aufweist, und die einerseits ihre Anziehungskraft, andererseits die Frustration ausmachen, welche die Lektüre auslöst, zählt vor allem das große Thema der Motivation: Weshalb verliebt Anna sich in den wesentlich älteren Gurow? Weil er sie zu Beginn mit seinem Satz über ihre Langeweile zum Lachen bringt, bevor sie miteinander über das Wetter und ihr bisheriges Leben reden? Und wieso verliebt sich Gurow, der noch nie einem Techtelmechtel abgeneigt war, ausgerechnet und zum ersten Mal ernsthaft?

Doch sehen wir uns zuerst das Setting der Geschichte und die Rolle des verschwundenen Hündchens noch etwas genauer an:

Den Urlaubs- und Kurort Jalta suchte Čechov 1898 erstmals auf; nicht wirklich freiwillig. Seit 1884 litt er zusehends unter seiner Tuberkulose-Erkrankung, hatte bislang, obgleich oder weil er selbst ausgebildeter Arzt war, jede Behandlung verweigert. Ebenso die Provinz und ihre Langeweile, ein Leben fernab der Metropole und ihren tausend Erzählanregungen mochte für eine Sommerresidenz genügen, nicht jedoch für einen Jahresalltag. Dazu bedurfte es einer wahrhaft heftigen Lungenblutung samt Krankenhausaufenthalt. Des milden Klimas wegen, rieten ihm die Ärzte alsdann zur Schwarzmeer-Halbinsel; daher verbrachte er seine letzten Jahre in der eigens für ihn in Jalta erbauten Weißen Datscha, wo er mit Mutter und Schwester Maria von 1899 bis 1904 mehrheitlich lebte, unterbrochen von Reisen nach Moskau. Schon 1895 hatte Čechov behauptet, er werde – wenn überhaupt! – höchstens aus Liebe heiraten, und dass ihn diese ereile, das könne dauern – bis um 1899, um ungenau genau zu sein; jenes Jahr, in dem er in Jalta »Die Dame mit dem Hündchen schrieb«, welche erstmals im Dezember des gleichen Jahres in der Zeitschrift »Russkaja Mysl« erschien; jenes Jahr, als er in Moskau den Ensemblemitgliedern des Künstlertheaters, das – wie bereits erwähnt – im »Slawjanski Basar« seinen Anfang nahm, und welches »Die Möwe« neu inszenieren wollten, sein Stück vorlas. So lernte er die deutsch-russische Schauspielerin Olga von Knipper kennen – und lieben. Sie, eines der Gründungsmitglieder dieses Theaters, sollte die Rolle der Arkadina in der »Möwe« spielen; also ebenjener Mutter, die selbst Schauspielerin ist, beständig das künstlerische Vertrauen des schreibenden Sohnes in sein Talent untergräbt, bis es zum Eklat kommt … 

Čechovs »Möwe«, welche zuvor in Sankt Petersburg ein absoluter Flop gewesen war, begründet nun mit einem unerwarteten Sensationserfolg das Renommee dieses Theaters und steht darüber hinaus am Beginn einer mehrjährigen fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Čechov und dem Ensemble. 1901 heiraten Anton Čechov und Olga von Knipper. Beredet erzählen zahllose Briefe von dieser Liebe, sprechen vom Schreiben, von der Kunst der Inszenierung, des Schauspiels, von Theater- und Gesundheitssorgen, gewähren Einblicke – nicht nur in das örtlich getrennte Zusammenleben eines Paares aus beruflichen sowie gesundheitlichen Gründen, sondern in das Innenleben zweier Menschen, die ihr künstlerisches Schaffen lieben! Čechov selbst soll gesagt haben, die Medizin sei seine gesetzliche Ehefrau, die Literatur hingegen seine Geliebte. Und die zog er bekanntlich von Beginn an vor. Sogar als es bereits absehbar war, dass er an seiner Lungenkrankheit sterben werde, plante er noch eine Novelle. Ihr Inhalt? Hotelgäste sitzen in einem Speisesaal versammelt, warten auf ihr Dinner und ahnen keineswegs, dass der Koch lange schon über alle Berge sei … 

Wenige Tage bevor Čechov 1904 starb, verließ er Jalta, reiste zur Kur nach Badenweiler, wo er nochmals seine Frau Olga traf. Eines Nachts rief sie den Arzt, alarmiert ob seines schlechten Zustandes, und als jener erkannte, dass nichts mehr zu tun sei, ließ er eine Flasche Champagner kommen – einem damaligen Brauch unter russischen und deutschen Ärzten folgend, sollten sie an ein Bett gerufen werden, an dem sie nur noch ihre Hilflosigkeit eingestehen können: Čechov wurde eingeschenkt; er betrachtete das Glas, den prickelnden Alkohol darin, lächelte seiner Frau zu: ›Ich sterbe.‹, sagte er – auf Deutsch, und trank mit Genuss, bevor er sich wieder in die Kissen legte und war alsbald tot … – so will es zumindest die von seiner Frau kolportierte Fama.

Die Weiße Datscha vermachte Čechov brieflich seiner Schwester Maria, die darin ein Museum zu Ehren ihres Bruders etablierte, den Nachlass sichtete und sicherte und keinerlei Veränderungen am Inventar des Hauses akzeptierte: Alles solle so bleiben, als sei er gerade eben erst in seinen geliebten Obstgarten gegangen. Vielleicht mit einer der zahllosen verheirateten Frauen, deren Liebesschwüre er sich anhörte, sie auch selbst zu lieben meinte, mit denen er schlief, nur um bei Anbruch des nächsten Tages festzustellen, alles sei ein Irrtum gewesen. Vor Olga – um der Wahrheit die Ehre zu geben. Oder so.

Wer nicht nur das Museum besucht, sondern durch Jalta selbst spaziert, wird unweigerlich dem Denkmal, welches man Čechovs literarischer Thematisierung des verliebten Begehrens errichtete, begegnen: Im Vordergrund steht – mit schmaler Taille, auf einen Schirm gestützt – die junge Anna, deren Blick in die Ferne schweift, als wolle sie wahrhaftig sogleich sagen, dies könne doch nicht alles gewesen sein, im Leben. Zu ihren Füßen hockt der kleine Hund. Schräg hinter ihr lehnt ein Mann am Geländer, dessen Augen irgendeinen Punkt zwischen ihrem Nacken und ihrem Po fokussieren. Sicher gilt sein Schauen jedenfalls nicht dem Spitz; selbst wenn Gurow in der Erzählung die Anwesenheit des Hundes zur Kontaktaufnahme nutzt, um so den Flirt mit Anna zu beginnen.

Dieses Hündchen verschwindet übrigens spurlos aus der Jalta-Erzählwelt, sobald es nicht mehr vonnöten ist; Čechov, der Hundeliebhaber, wirft damit seiner Geschichte nur einen Knochen: 

»Einschmeichelnd lockte er den Spitz, und als der zu ihm kam, drohte er ihm mit dem Finger. Der Spitz knurrte. Gurow drohte noch einmal.

Die Dame warf ihm einen Blick zu, senkte aber gleich wieder die Augen.

›Er beißt nicht‹, sagte sie und errötete.

›Darf man ihm einen Knochen geben?› Und als sie bestätigend nickte, fragte er liebenswürdig:

›Sie sind schon länger in Jalta?

›Fünf Tage.‹

›Und ich harre hier schon die zweite Woche aus.‹

Dann schwiegen beide.

›Die Zeit läuft, dabei ist es hier so langweilig!‹, sagte sie, ohne ihn anzusehen.

›Das sagt man doch immer nur so, dass es hier langweilig sei. Da ist einer irgendwo in Beljowo oder Schisdra zu Hause und hat keine Langweile, aber kommt er hierher: ›Ach, wie langweilig! Ach, dieser Staub!‹ Man könnte meinen, er sei aus Granada angereist.‹

Sie lachte. Dann aßen beide schweigend weiter, wie Fremde; doch nach dem Essen gingen sie nebeneinanderher – und es begann das scherzhafte, leichte Geplauder zufriedener, freier Menschen, denen vollkommen einerlei war, wohin ihr Weg sie führte und worüber sie plauderten.«

Kein Wort mehr von jenem Spitz, der doch weiterhin anwesend sein muss. Er fällt aus der Geschichte und kehrt als Figur erst in S. wieder, als Gurow vor Annas Haus in der Hoffnung verharrt, sie würde eventuell herauskommen, also Anbahnung-die-Zweite am Spielplan steht. Die Tür öffnet sich, der Vierbeiner begleitet nun ein »altes Weiblein«. Nicht Anna. Dennoch könnte Gurow den Hund rufen, wäre ihm bloß der Name des Tieres erinnerlich, doch klopft ihm das Herz im Hals, und auch wir können ihm des Hundes Namen nicht zuflüstern, schließlich haben wir ihn nie erfahren. Jener Knochen ist und bleibt verloren, ungenützt verstreicht die Situation, der angebliche Verführer versagt, weil sich in Gurow eine Veränderung anbahnte, die er zuerst selbst noch nicht benennen kann. Wir entsinnen uns, dass Gurows Ehegattin vor seiner Abreise spitz kommentierte:

»›Die Rolle eines Don Juan steht dir überhaupt nicht, Dimitri.‹«

Und es dennoch in Anbetracht des abfahrenden Zuges hieß:

Gurow »[…] dachte daran, dass es da jetzt in seinem Leben eine weitere Begebenheit oder Affäre gab, die auch schon zu Ende war, und geblieben war nur die Erinnerung … Er war gerührt, traurig und empfand leichte Reue; war doch diese junge Frau […] nicht glücklich mit ihm gewesen; er war freundlich zu ihr und herzlich, und doch schimmerte im Umgang mit ihr, in seinem Ton, seinen Liebkosungen ein leichter Spott durch, das etwas plumpe Überlegenheitsgefühl des glücklichen Mannes, der zudem noch fast doppelt so alt war wie sie. Die ganze Zeit hatte sie ihn gütig, ungewöhnlich, hochstehend genannt; offenbar erschien er ihr nicht als derjenige, der er wirklich war, also hatte er sie unwillentlich betrogen …« 

Dieses Verb ist – neben der offensichtlichen Bedeutung des Fremdgangs – in der Hinsicht interessant, dass Čechov es in dieser Erzählung in drei Kontexten verwendet: Zu Beginn heißt es lakonisch, er betrüge seine Ehefrau – gewohnheitsmäßig:

»Betrogen hatte er sie schon lange, häufig betrogen, und vermutlich deshalb ließ er sich nahezu immer schlecht über Frauen aus und nannte sie, wenn man in seiner Gegenwart über sie sprach, ›die minderwertige Rasse‹. Er meinte, er habe genug gelernt aus bitterer Erfahrung, um Frauen nennen zu dürfen, wie es ihm passe, doch konnte er es ohne die ›minderwertige Rasse‹ keine zwei Tage aushalten. In Gesellschaft von Männern war ihm langweilig, unbehaglich, er war dann wortkarg, kühl, aber wenn er sich unter Frauen aufhielt, fühlte er sich frei und wusste, worüber er mit ihnen sprechen konnte und wie sich verhalten; sogar schweigen mit ihnen fiel ihm leicht.«

Alsdann wechselt der Fokus, nicht mehr vom Ehebruch ist die Rede, wenn gesagt wird, Gurow habe Anna während ihrer ersten Tage in Jalta betrogen, weil es ihm nicht gelungen sei, sich ihr in seiner Ganzheit eines schillernden, brüchigen Ichs zu erkennen zu geben; ebenso wenig seiner Ehefrau gegenüber, könnten wir ergänzen …

Der dritte Teilaspekt des Verbes ›betrügen‹ taucht erstmals zwischen den beiden bereits erwähnten Gurow-Passagen zum Thema des Betrugs auf und meint eine andere Nuance des Wortes: die Selbsttäuschung. Diese bringt bezeichnenderweise Anna ins Spiel, wenige Minuten, nachdem sie zum ersten Mal mit Gurow schlief:

»Ich bin eine gemeine, eine schlechte Frau, ich verachte mich und denke nicht an Rechtfertigung. Nicht meinen Mann habe ich betrogen, sondern mich selbst. Und nicht erst jetzt, sondern schon seit langem betrüge ich mich.«

Die Selbsttäuschung, die Anna kritisiert, bezieht sich auf den Umstand, dass sie von Diederitz  heiratete, da sie »[…] die Neugier […]« quälte: 

»[…] ich wollte etwas Besseres; es gibt doch noch, sagte ich mir, ein anderes Leben. Ich wollte doch leben! Leben, leben … […]«

Was sie sich jedoch von dieser Ehe versprach, trat nie ein. Im Gegenteil. Ihre Empfindung einer Rastlosigkeit, einer hoffnungslosen Öde erinnern an Gurows spätere Sicht auf sein Leben an der Seite seiner Ehefrau, seinen Kartenrunden, im Zuge seiner inneren Entwicklung durch die Begegnung mit Anna in Jalta; seine ›Strafkolonie‹, sein Gefühl eines ›verstümmelten, flügellahmen Lebens‹ sind das maskuline Pendant zu Annas früher Erfahrung einer Ausweglosigkeit. 

Das Elend, welches sie empfand, bedingte ihre Jalta-Reise, die Flucht genannt werden kann. Und selbst dort sei sie bis zum Kennenlernen Gurows wie im »Taumel, wie eine Wahnsinnige …« herumgelaufen; er werde, meint Anna, solche Emotionen sicherlich nicht verstehen … Damals nicht, später schon. 

Wir könnten ihr sagen, sie habe sich offenbar im goldenen Käfig gefangen gefühlt, mit dem Urteil ›lebenslänglich‹ an einen ungeliebten Mann gekettet in Erwartung ›des Lebens‹. Solch eine Rechnung kann unmöglich aufgehen. Wo sollte es denn auch daherkommen, das Leben? Zwischen seinen Löchern im Socken? Oder in der Hoffnung auf ein Kindbett? In der blubbernden Marmelade im Topf, die sie ihm einkocht? Dass sie sich in jener Enttäuschung alsdann selbst verloren habe, wundert wohl niemanden. Schließlich ist es niemals unser Gegenüber, das uns leben lässt, verstehen wir selbst nichts davon – eine ganz normale Geschichte also; die teilt sie übrigens nicht nur mit Flauberts Protagonistin Emma Bovary oder Fontanes Effi Briest, sondern mit zahllosen Frauen, die sich früh verheirateten, ohne das Leben je kennenzulernen; oder vielmehr: sich selbst.

Dünkt uns Gurows angedeutete Entwicklung interessanter, von seinem anfänglichen Gleichmut, seinem Sich-Arrangieren mit den Verhältnissen bis zur Frustration über die ›Strafkolonie‹? Auf den ersten Blick: ja. Der Leerstelle wegen. Denn was in seiner Persönlichkeit geschah, wird vorerst nur angedeutet. Als Anna und Gurow ihr Doppelleben in Moskau zu führen beginnen, heißt es:

»Und aus einem seltsamen Zusammentreffen von Umständen, zufällig vielleicht, geschah alles, was für ihn wichtig, interessant und notwendig war, worin er aufrichtig war und sich nicht selbst betrog, was den Kern seines Lebens ausmachte – geschah all das heimlich vor den anderen, hingegen alles, was seine Lüge, seine Hülle war, hinter der er sich versteckte, um die Wahrheit zu verbergen, wie zum Beispiel sein Dienst bei der Bank, die Streitigkeiten im Klub, seine ›minderwertige Rasse‹, sein Besuch von Jubiläen mit seiner Frau – all das war offen sichtbar.« 

Implizit macht Čechov hier sein Verständnis von Treue deutlich, von einer Lebensehrlichkeit, die nichts mit dem allgemeinen Eheschwur zu tun hat. Dass Gurow und Anna ihre jeweiligen Partner*innen betrügen, wird unwesentlich – verglichen mit jenem Betrug am anderen, den man begeht, weil man sich in seinem ureigenen Sein nicht zu erkennen gibt, weil man sich selbst betrügt, um nicht handeln zu müssen. Ein erstaunlicher Gedanke für ein Werk, welches gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand. Zu einer Zeit also, da andere Literaten ihre Protagonistinnen ob drohender Gefahr des Ehrverlustes, einem Auffliegen aller Lügengeschichten oder der Einseitigkeit ihrer Amour fou, in den Selbstmord schickten. Ob nun Wasser, Zug oder Gift, ihr Leben hatte der bürgerlichen Moral wegen zerstört zu sein. Und Čechovs Anna? Sie darf ein wenig weinen, an allen markanten Stellen dieser Erzählung; mehr nicht – nach der ersten Nacht in Jalta, beinahe bei jenem Wiedersehen im Theater, vor allem jedoch in Moskau, im Zimmer des »Slawjanski Basars«. Dort denkt sich Gurow, soll sie ruhig ihren Tränen freien Lauf lassen, und bestellt sich während seines Wartens darauf, dass sie sich wieder beruhige, geduldig eine Tasse Tee. Und Anna? Darf es sich zumindest fragen:

»Sie weinte vor Erregung, vor leidvoller Erkenntnis, dass ihr Leben sich so traurig gefügt hatte; sie konnten sich nur heimlich sehen, versteckten sich vor den Menschen wie Diebe! War nicht ihrer beider Leben zerstört?

›Lass nun gut sein!›, sagte er.

Für ihn war offen sichtbar, dass diese ihre Liebe noch nicht so bald enden würde, niemand wusste, wann. Anna Sergejewna fasste eine immer stärkere Zuneigung zu ihm, sie vergöttere ihn, und es wäre undenkbar, ihr zu sagen, dass all das doch irgendwann ein Ende haben müsse; ja, sie hätte es auch gar nicht geglaubt.«

Damit wird eine Deutung des Endes dieser Erzählung nahegelegt: Es wird bei der Affäre bleiben, er wird nicht seine Ehefrau, sie nicht ihren Ehemann verlassen, er wird Anna nach einiger Zeit gegen die Nächste austauschen – korrekt, würde auf obig zitierte Passage nicht eine befremdliche Stelle folgen: Gurow, der Anna aufmuntern möchte, sie liebkosen, erblickt über ihre Schulter hinweg, sein eigenes Spiegelbild. Mit aller Härte wirft dieses ihm sein Altern, welches so plötzlich nach Jalta begann, an den grau werdenden Kopf; mehr noch: »[H]ässlich« sei er geworden.  Blickt auf Anna hinab, jung, schön, und versteht nicht, weshalb sie ausgerechnet ihn liebe – vielleicht irre sie sich ja, denkt er, frühere Erfahrungen miteinbeziehend:

»Immer erschien er den Frauen nicht als derjenige, der er war, sie liebten an ihm nicht ihn selbst, sondern den Menschen den sich ihre Vorstellung geschaffen hatte und den sie in ihrem Leben so sehnsüchtig gesucht hatten; später, wenn sie ihren Fehler erkannten, liebten sie ihn dennoch. Und nicht eine von ihnen war glücklich mit ihm. Die Zeit verging, er schloss Bekanntschaften, ging Verhältnisse ein, trennte sich wieder, aber nicht ein einziges Mal hatte er geliebt; es war alles Mögliche, nur keine Liebe.

Und erst jetzt, wo sein Kopf grau wurde, liebte er richtig, ganz so, wie es sein muss – zum ersten Mal in seinem Leben.«

Damit ist gesagt, was zuvor nur angedeutet, damit hat die innere Entwicklung Gurows endlich einen Namen. In einer seiner Tagebuchnotizen meinte Čechov: »Verliebtsein zeigt dem Menschen wie er sein soll […].« – und weist damit implizit einen Weg zur Deutung dieser Erzählung. Wir erinnern uns an jenen Abschnitt, nach Jalta, da Anna in Gurows Erinnerung zusehends schöner, edler und verführerischer erschien? Mehr noch: Sie war ihm allüberall, denn er hatte sich verliebt:

»Anna Sergejewna erschien ihm nicht im Traum, sie ging wie sein Schatten überall mit ihm hin, folgte ihm. Schloss er die Augen, dann sah er sie lebendig vor sich, sie schien schöner, jünger, weicher, als sie gewesen war; auch er selbst kam sich besser vor als damals, in Jalta. Sie blickte ihn abends aus dem Bücherschrank an, aus dem Kamin, aus der Ecke, er spürte ihren Atem, das zärtliche Rascheln ihres Kleides. Auf der Straße schaute er den Frauen nach, immer auf der Suche, ob nicht eine ihr ähnelte …«

Dennoch wartet Gurow in seiner Verliebtheit von Beginn an auf das ihm vertraute Empfinden der Kälte, Vorbote des nahenden Endes. So heißt es bei dem Wiedersehen in S.: 

»Aber wie weit war es noch bis zum Ende!« 

Daraus wird bei ihrem ersten Treffen in Moskau ein »[…]  nicht so bald […]« (S. 44), um alsdann in ein »[…] weit, sehr weit […].« zu münden. Die Verliebtheit lehrte Gurow seine eigene Vergänglichkeit, ließ ihn den Wunsch empfinden, sich in seinem eigentlichen Selbst zeigen zu dürfen, Anna und aller Welt gegenüber, ließ ihn die Leere eines Lebens ohne sie an seiner Seite als ›Strafkolonie‹ betiteln.  

Auf den Blick in den Spiegel – hässlich und alt – folgt nicht bloß die Frage, weshalb Anna ihn so sehr liebe, sondern die Erkenntnis zum ersten, allerersten Mal in seinem Leben liebe er:

»Anna Sergejewna und er liebten einander wie sehr nahe, teure Menschen, wie Mann und Frau, wie liebevolle Freunde; sie glaubten, dass das Schicksal selbst sie füreinander bestimmt habe, und es war nicht zu verstehen, weshalb er mit einer anderen Frau verheiratet war und sie mit einem anderen Mann; es war wie bei zwei Zugvögeln, einem Männchen und einem Weibchen, die man gefangen und in zwei getrennte Käfige gesperrt hatte. Sie verziehen einander all das, wessen sie sich in ihrer Vergangenheit schämten, verziehen alles in der Gegenwart und spürten, dass diese ihre Liebe sie beide verändert hatte.«

Die alsdann artikulierte ›Wie?‹-Reflexion am Ende dieser Erzählung, wie sich aus dieser Lage befreien, findet keine explizite Antwort im darauffolgenden Schlusssatz:

»Und es schien, nur noch ein bisschen – und die Lösung würde gefunden, und dann würde ein neues, wunderbares Leben beginnen; und beiden war doch klar, dass es bis zum Ende noch weit, sehr weit war und dass das Komplizierteste und Schwerste gerade erst begann.«

Wie wir Lesenden dieses offene Ende, zurückgeworfen auf uns selbst, deuten, sagt wohl mehr über uns selbst, denn über Anna und Gurow aus. Und was denken Sie?

Ich jedenfalls weiß, dass es diese Leerstellen sind, die klug sich steigernden Andeutungen und Čechovs Kunst, Stimmungen darzustellen, welche symbolisch für etwas Größeres stehen und zugleich auf die zentrale Thematik der Geschichte verweisen – all das verankert diese »Dame mit dem Hündchen« im Gedächtnis des Lesenden, sie lässt einem keine Ruhe und bewirkt, dass man am Ende angekommen, zurückblättert, nachsinnt, nochmals liest, vielleicht ist einem ja etwas entgangen? Um sich währenddessen Fragen mit und ohne Antworten zu stellen: Lieben die beiden einander wirklich? Oder ist es bloß das Abenteuer, welches sie suchen? Werden sie sich auf Basis der letzten uns erzählten Szene entschließen, niemanden mehr weiterhin zu betrügen – weder sich noch andere? Oder hieße dies zu viel hoffen? Und schon beginnt man die Fabel nochmals zu erzählen …

Wie Ljudmila Petruschewskaja. Sie schuf eine Variante gleichen Titels wie Čechov ihn wählte, diese ist im Band »Der schwarze Mantel« in deutscher Übersetzung enthalten: Eine Frau, die nichts aus ihrem Leben machte, wartet auf den Tod; dazu später mehr …

William Boyd fügte zu seiner Benennung den Strand hinzu und betitelte seine Plot-Ausgestaltung »The Woman on the Beach with a Dog«. Er verlegte die Handlung in die USA und wählt sich den New Yorker Garrett als zentrale Figur. Garrett beschließt spontan, er müsse ans Meer – ohne jedoch begründen zu können, weshalb er seinem Eheleben flieht. Was bei Čechov nur »das gewisse Etwas« ist, welches Frauen zu Gurow lockt, wird bei Boyd zur Nase:

»[…] his nose was small and fine with a pronounced flare to the nostrils. Many women had told him that it was his small fine nose that made them look at him a second time.«

Zeitlich setzt Boyd seine Erzählung 1941 an, ›Hitlers‹ Bombardement der Stadt London wird in den Zeitungen, in welchen Garrett blättert, als solches thematisiert. Sein Frauenbild – Hauptfokus von rund zwei Drittel des Erzählungsraumes – wird erstmals anhand seiner Verknüpfung der beiden Orte Hotel und Bordell erwähnt: 

»He had been a rich man in Germany with his American dollars, he remembered; he'd never felt so rich since. In London on the way back he had stayed in the Hyde Park Hotel, and he wondered vaguely if it had been hit by the bombs. He remembered the girl he had taken to his room. One pound, 10 shillings she charged him. What was that? Ten dollars? Sweet girl – what was her name? Kitty? Mary? Hotel rooms always made him think of sex, which was not that surprising, he reminded himself with a brief warm flare of shame, as the only sex he experienced these days tended to take place in hotel rooms.«

Nicht nur, dass Garrett offenbar mit seiner Frau nicht mehr schläft, die Lüge ist ihnen Alltag geworden, was durchaus Erinnerungen an Gurow weckt, diesen Meister des Fremdgangs, den er sich während der Ehejahre zur Gewohnheit machte, samt seinem Explikationsgerüst, das die Bedeutung des Aktes negierte und die Frauen aufgrund ihrer Bereitschaft pauschal zur ›minderwertigen Rasse‹ erklärte – bloß, weil er selbst vor Anna niemals jemanden zu lieben vermochte …

Was gleichfalls eine Konstante bleibt, ist der Hund als Element der ersten Kontaktaufnahme, die Boyd jedoch an den Strand verlegt: Das Tier hat gerettet zu werden. Boyds Pendant zu Anna entstammt – entsprechend seiner erzählerischen Gegenwart, die ja rund 45 Jahre später angesetzt ist – einem anderen Frauentypus: Tief ist ihre Stimme, ”[…] a voice that was full of confidence, the confidence of money, he thought […]«. Für eine Zigarette würde sie töten, erklärt Boyds Anna, die sich sogar in ihrem Alter an den Mann annähern darf und die treibende Kraft des Flirts ist, weiß sie doch im Gegensatz zu Garrett, was sie will (oder vielmehr wen). Sie ist es, die Garrett – ein sprechender Name, weil er ›der Entschlossene mit dem Speer‹ bedeutet – bei ihrer zweiten Begegnung fragt:

»“Drive me home?"

In the car, just as they passed through Wellfleet, she reached over and felt the hard ridge of his penis through the flannel of his pants.«

Nach dem Sex steht sie auf und geht – als wäre nichts gewesen. Es ist Garrett, der eine Fortsetzung urgiert, indem er betont, sie gehe ihm nicht mehr aus dem Sinn; die klassische Rolle wird dieser Anna erst nach einigen weiteren geheimen Treffen zugeschrieben, indem sie es zu sein hat, die den Status quo infrage stellt:

»“What kind of a life is that?"

"It's better than a life of not meeting."

"But what's the point?"

"What's the point otherwise? We'll see each other, that's the only thing that's important.“«

Wenig später wird Anna sich erkundigen, was sie nun tun sollen, in dieser vertrackten Lage, in der sie sich befinden, und er antwortet:

"I'll think of something."

"What?"

"I don't know", he said, staring at the knights on their prancing chargers. "I don't know."

Damit endet Boyds Plot-Variante, ebenso unvermittelt und dennoch eindeutiger als Čechovs; diese beiden werden gar nichts tun, eine Zeit lang wird die Affäre ihnen genügen. Danach werden sie in ihre früheren Leben zurückkehren, nichts wird sich ändern, da in ihnen keine innere Entwicklung begann, sie fügten ihrem Leben bloß Erinnerungen hinzu. Was diese Interpretation stützt, ist Boyds Verweis auf den Maler Edward Hopper als weitere inspirierende Kraft. Und wahrlich, in dieser Erzählung herrscht die gleiche angespannte Erstarrung wie in den Gemälden jenes Vertreters des amerikanischen Realismus!

Bei Joyce Carol Oates wird »The Lady with the Pet Dog« daraus, ein Schoßhündchen also, was ebenso den (weinerlichen) Ton mitprägt wie die Auktoriale, welche bei Oates Annas Sicht folgt; den primären Fokus ihrer Erzählung legte Oates außerdem nicht auf Anbahnung und Beginn der Affäre, sondern auf deren Wiederaufnahme sechs Monate später. Dazu später mehr …

Neben diesen Prosabearbeitungen wird die Fabel zudem zwei Mal verfilmt: 1960 von Iossif Cheifiz (Regie) mit Ija Savvina; 1987 unter dem Titel »Schwarze Augen« von Nikita Michalkow, wobei für den letzteren Spielfilm mehrere Erzählungen Čechovs miteinander verwoben wurden. Der »Dame mit dem Hündchen« verdankt der Film das russische Wort für ›kleiner Hund‹, welches in einer skurrilen Szene der alternde Bonvivant, den Marcello Mastroianni gekonnt verkörpert, von seiner Angebeteten zu erlernen versucht; nicht jedoch das titelgebende Augenpaar, denn Annas Iris ist nach Čechov grau …

Schwarze Augen gehören jedoch zu den Protagonist*innen in zahlreichen anderen Werken des Literaten, sei es nun »Die Nacht vor der Verhandlung«, in der sich ein Ich-Erzähler im Kreisgericht von S. wegen Bigamie verantworten muss und die Kontaktaufnahme mit der Schönen hinter Spanischer Wand, die leider nicht allein ist, sondern einen Herren mitgebracht hat, via Insektenpulver erfolgt. Schließlich sind die blutsaugenden Wanzen wirklich gar zu lästig, da stört alsdann auch die Lüge kaum, der Ich-Erzähler sei Arzt, welche am nächsten Tag schon auffliegen muss. Oder aber zu Warwara Petrowna in »Der Kater«, um nur zwei Beispiele für den verführerisch dunklen Blick zu nennen … Den kennt gleichfalls ein sehr bekanntes russisches Volkslied – »Schwarze Augen« werden darin nicht bloß im Titel thematisiert. Dieses Lied ist die Vertonung  eines Gedichts des Ukrainers Jewhen Hrebinka, welches 1843 erstmals in der »Literaturnaja Gaseta« veröffentlicht wurde. Die Melodie des Liedes stammt aus dem Stück »Hommage Valse« Opus 21 des Deutschen Florian Hermann. Zahllose Interpreten regte diese populäre Liebeshymne zu eigenen Intonationsvarianten an, sei es Django Reinhardt, Louis Armstrong oder die Flying Balalaika Brothers:

»Schwarze Augen, leidenschaftliche Augen, 

brennende, schöne Augen, 

wie ich euch liebe, wie ich euch fürchte! 

Seit ich euch sah, habe ich keine gute Stunde mehr.

Ach, ihr seid nicht umsonst von so dunkler Tiefe! 

Ich sehe in euch die Trauer über meine Seele, 

ich sehe in euch das unbezwingbare Feuer, 

auf dem mein armes Herz verbrennt.

Doch ich bin nicht traurig, nicht bedrückt, 

glücklich erscheint mir mein Schicksal. 

Alles, was Gott uns Gutes im Leben gegeben hat, 

hab ich geopfert für diese feurigen Augen.« 

Lässt sich das über Gurow sagen? Er habe, was an Gutem in seinem Leben sei, wegen Anna geopfert? Oder sie um seinetwillen? Sieht sie ihn überhaupt, wie er wahrhaftig ist? Wird sie von ihm in Bälde ebenso enttäuscht sein, wie zuvor von ihrem Mann? Wir haben keine Ahnung. Wir wissen nur, dass keiner von beiden, was zuvor ihr jeweiliges Sein ausmachte, mit dem Adjektiv ›gut‹ bezeichnen würde. Relevant scheint final einzig die Tatsache, dass Gurow sich verändert hat: Er liebt. Zum ersten Mal. Spät aber doch. Was soll sonst noch wichtig sein?

 

Quellen:

Primärliteratur:

  • Boyd, William: The Woman on the Beach with a Dog. – https://www.theguardian.com/books/2003/may/10/featuresreviews.guardianreview31 – Zuletzt eingesehen am 14.08.2018.
  • Oates, Joyce Carol: The Lady with the Pet Dog – https://docs.google.com/viewer?a=v&pid=sites&srcid=bWFpbC5jY3NmLmVkdXxtaWNoZWxsZS1zaW1vdGFzLWNvdXJzZS1yZXNvdXJjZXN8Z3g6MjI0MzYwMzNkYzk4MjExYQ – Zuletzt eingesehen am 14.08.2018.
  • Tschechow, Anton: Der Kater. http://gutenberg.spiegel.de/buch/lustige-geschichten-3976/12 – Zuletzt eingesehen am 14.08.2018.
  • Tschechow, Anton: Die Dame mit dem Hündchen. Übersetzt von Barbara Conrad. Berlin: Insel Verlag 2013.
  • Tschechow, Anton: Die Nacht vor der Verhandlung. http://gutenberg.spiegel.de/buch/lustige-geschichten-3976/5 – Zuletzt eingesehen am 14.08.2018.

Sekundärliteratur:

 

  • Čechov-Museum in Yalta. http://chekhov-yalta.org/en/index.html – Zuletzt eingesehen am 14.08.2018. Sowie: https://de.wikipedia.org/wiki/Tschechow-Museum_Jalta – Zuletzt eingesehen am 14.08.2018.
  • Moskauer Künstlertheater – http://www.mxat.ru/english/history/ – Zuletzt eingesehen am 14.08.2018.
  • Schlink, Bernhard: Fast ein Gottesbeweis. In: Die Dame mit dem Hündchen. Berlin: Insel Verlag 2013.
  • Schmitz, Rainer: Was geschah mit Schillers Schädel? Alles, was Sie über Literatur nicht wissen. München: Wilhelm Heyne Verlag 2008.
  • Schwarze Augen (Russisches Volkslied) – https://www.zillich.com/musik/schwarze-augen.htm – Zuletzt eingesehen am 14.08.2018.
  • Schwarze Augen (Filmausschnitt/Bericht) – https://www.youtube.com/watch?v=60qnHqcPYUo – Zuletzt eingesehen am 14.08.2018.
  • Timofejtschew, Alexej: Moskaus unbekannte Seiten. https://de.rbth.com/lifestyle/79209-moskaus-unbekannte-seiten-geschichte – Zuletzt eingesehen am 14.08.2018.
  • Wunderlich, Dieter: Anton Tschechow: Die Dame mit dem Hündchen. https://dieterwunderlich.de/Tschechow-dame-huendchen.htm – Zuletzt eingesehen am 14.08.2018.