Ich war noch keine 18, als ich Heinrich Böll durch Zufall entdeckte. Im Fernsehen würde eine Verfilmung von »Ansichten eines Clowns« gezeigt werden, und meine Mutter legte Wert darauf, diese zu sehen; in Ruhe. Mahnte sie solche ein, kam eine ganz bestimmter Blick ergänzt um eine besondere Stimmlage hinzu, tat man gut daran, der Aufforderung zu entsprechen. Nicht bloß um einer Strafpredigt zu entgehen, sondern weil diese eingemahnte Achtsamkeit das Kommende bereits im Vorfeld über Alltägliches hob. Den gleichen besonderen Ausdruck bekam sie übrigens auch, war von Romy Schneider in »Die Spaziergängerin von Sans Souci« die Rede, er verdichtete sich bei Oskar Werner im Allgemeinen und dem »Narrenschiff« im Besonderen, um im »Scharlachroten Buchstaben« seine Klimax – doch in einer völlig anderen Nuancierung – zu erreichen. Ihre Variationen der Wichtigkeit nahm ich als Kind und Jugendliche zwar wahr, fragte mich trotzdem des öfteren, was sie – abgesehen von jenen Künstler*innen – noch sah, wanderte ihr Blick im Erinnern nach rechts unten. Heute frage ich schlicht nach; so ändern sich die Zeiten.
Die Verfilmung von »Ansichten eines Clowns« bewirkte jedenfalls beim nächsten Gang in die Bibliothek, die ich von Kindheit an wöchentlich frequentierte, die Mitnahme eines Stapels Heinrich Böll; Romane und Erzählungen, von ›A‹ wie ›Ansichten‹ bis ›W‹ wie »Wanderer, kommst du nach Spa …«. Ich erinnere mich gut an aufwühlende Lektüre, an völlige Auflösung meiner gegenwärtigen Zeit und meines Ichs während des Versinkens im Akt des Lesens. Diese Form jugendlichen Lesegenusses ist seit meinem Studiums der Literaturwissenschaft passé; oder um es positiv zu formulieren: Sie ergänzte sich um den Blick, der ständig fragt, wie dieses Werk denn gemacht sei und welches Echo dadurch ausgelöst werde. Damals empfand ich primär Wut und Traurigkeit, ergänzt um ein verzweifeltes Hoffen auf einen befriedeten Ausgang, den ich von der Jugendliteratur her gewöhnt war, um am Ende zu realisieren, dass dieser für jene Protagonist*innen in jenem Erzähluniversum absolut unmöglich bleiben muss. Dennoch genoss ich die Lektüre; vor allem »Haus ohne Hüter«, um die Wahrheit zu sagen. Mit »Billard um halbzehn« hingegen tat ich mir schwer. Zwar fand ich dessen kunstfertigen strukturellen Aufbau instinktiv ›irgendwie toll‹, hätte aber das Warum nicht zu begründen gewusst. Ich hätte auch nicht sagen können, weshalb mein Lesetempo sich in »Billard« verlangsamen musste oder wieso mir der Zugang zu jenem Werk im Vergleich zu anderen des gleichen Autors ›mühsam‹ erschienen war: Grund genug für eine Re-Lektüre rund 33 Jahre später.
Frei von mütterlicher Wertschätzung, frei von kollegialer Abwertung; denn diesen einst von mir so geschätzten Autor fanden in den 1990er in universitären Kreisen viele ebenso wenig ›toll‹ wie Erich Kästner oder Ernest Hemingway. In jenem Umfeld galt Heinrich Böll plötzlich nicht mehr als reflektierender Geist, die Gesellschaft seiner Zeit betrachtend, als politisch engagierter Mensch, der in seinem Werk die Welt spiegelt, sondern als Moralist. Weshalb ich ihn ›interessant‹ fand und gleiches in aller Ruhe für Bernhard oder Bachmann behaupten konnte, ihnen Droste Hülshoff und Marie von Ebner-Eschenbach an die Seite stellte, das verstanden meine Studienfreund*innen nicht unbedingt.
Mit rund 20+ kommt der ›Moralist‹ einem Todesurteil gleich; wer will schon so einen gut finden? Von famos ganz zu schweigen. Und den Einwand, Böll habe Relevantes zu sagen, wischt man in jenem Alter noch ganz phantastisch mit ›alter Hut‹ vom Tisch: Ermüdend, sein ewiges Mahnen, es gäbe in Übersee – oder wo auch immer – weitaus Fulminanteres zu entdecken, auf jeden Fall dasjenige Werk, welches den oder die Studienkolleg*in gerade eben persönlich beschäftigte … Ja, Anfang der eigenen 20er-Jahre ist man noch leicht zu beeinflussen und zu beeindrucken. Und ich im Besonderen vertraute viel zu wenig eigener Einschätzung, die ich nach jedwedem Einspruch lieber für mich behielt, zudem es doch obendrein noch die Weite einer ganzen Welt und ihrer Literatur zu entdecken galt.
All dies und noch vieles mehr schwingt bei einer Re-Lektüre mit. Sie ist – bei Literat*innen, die einem wesentlich waren – immer auch ein Aufbruch in eigene Vergangenheiten; und um es sogleich auf den Punkt zu bringen: Heinrich Bölls »Billard um halbzehn« überzeugte mich ein weiteres Mal!
Dominanter Figurenduktus
Jeder Protagonist und jede Protagonistin hat in »Billard um halbzehn« seine oder ihre eigene Sprechart, einen eigenen Ton, was in diesem multiperspektivischen Roman die Persönlichkeitscharakteristik unterstützt. Figurenduktus in diesem Sinn reicht von der Wortwahl bis zur Interpunktion, die das Sprechtempo aktiv mitgestaltet. Bildlich könnte man diesen Erzählmodus also mit einer mehrstimmigen Partitur vergleichen. Sprache wird in »Billard um halbzehn« nicht bloß dazu verwendet, um einen Inhalt wiederzugeben; dafür wäre jede Synopsis sowieso das weitaus geeignetere Vehikel.
So sehr ich den eigenständigen Ton eines Protagonisten, einer Protagonistin schätze, so wenig kann ich damit anfangen, wird über einen Autor, eine Autorin gesagt, er oder sie habe ›seinen oder ihren Ton gefunden‹; wir sind doch bitte keine Figuren und hoffentlich doch zu mehr in der Lage, als nur eine einzigen Tonfall anzuschlagen – um jenen alsdann von Werk zu Werk wiederzukäuen.
Im Figurenduktus eines Werkes hingegen wird Sprache zum gestalteten Kunstwerk in der Polyphonie der Stimmen. Zudem wirkt sie sich final auf die Klaviatur des Lektüreerlebnisses aus, sie erzeugt eine unterschiedliche Resonanz. Je brüchiger ein Protagonist ist, desto sperriger wird auch sein Sprechen – in »Billard um halbzehn« wird dies wunderbar an der Figur der Mutter verdeutlicht.
Backstory und Vorausschau in der Multiperspektive
Die erzählerische Gegenwart dieses Romans umfasst bloß einige wenige Stunden vor dem runden Geburtstag des hochbetagten Ahnherren der Familie Fähmel. Das Abgleiten in vergangene Details durch die erzählenden Figuren ist eine logische Konsequenz; Böll gestaltet dies als inneren Monolog sowie teilweise auch als Erlebte Rede. In »Billard« flutet die Vergangenheit regelrecht in die Gegenwart, durchtränkt sie – wie auch die Geschichte der Zwischenkriegszeit und des Nationalsozialismus’ nicht 1945 vorbei war, sondern Denken, Prägungen und Schmerz in folgenden Jahren fortwirkten.
Dass dies in »Billard« in kunstfertiger Verwobenheit geschieht und nie als aufgepropfter Fremdkörper, ist Bölls Erzähltalent und dem Grundkonzept des Nouveau Romans zuzuschreiben.
Dieses in den 1950er-Jahren von französischen Literat*innen etablierte Erzählkonzept legte sein hauptsächliches Augenmerk vor allem auf eine Weiterentwicklung der narrativen Konzepte des ausgehenden 19./beginnenden 20. Jahrhunderts, fühlte sich Flaubert, Dostojewski, Proust, Kafka, Joyce, Faulkner und Beckett zwar verpflichtet, doch habe die Erzählkunst im Sinne jener Altvorderen voranzuschreiten, um auch die eigene Gegenwart einfangen zu können: Der Roman, eingeengt auf einen Moment erzählerischer Gegenwart, soll die Wirklichkeitskenntnis kritisch untersuchen, so Michel Butor, einer der Vordenker des Nouveau Roman. In Konsequenz des engen zeitlichen Fokus' wird das Wie der Darstellung dieser inhaltlichen Begrenzung zentrales Thema.
Andeutung wird behutsam auf Andeutung geschichtet, sie umfassen Lebensdetails und -verhängnisse, sodass im Fortschreiten der Handlung zusehends ein dichteres Gewebe entsteht, was Spannung evoziert. Zudem nutzt Böll die Vorausschau und die damit verbundene Technik der Ahnungssteigerung gekonnt zur Intensivierung der Spannung. Und irgendwann wird eine dritte oder siebte Figur Klarheit zur Andeutung aus dem Mund der ersten etablieren, man habe ein wenig Geduld … Diese Technik des Verwebens lässt sich exzellent an »Billard um halbzehn« studieren.
In seiner Gesamtheit würde Bölls Spiel mit der Zeit in diesem Werk eines eigenen Essays bedürfen, der bei der indirekten, impliziten zeitlichen Verankerung der Erzählhandlung beginnen müsste, bevor diese am Ende sich selbst klar datiert (6. September 1958 / Beginn der Kohle- und Stahlkrise in der BRD). Er würde die Art und Weise der zeitlichen Kontrastierung vor-während-und nach-der-NS-Zeit im Detail fokussieren und bis zu dem finalen Schuss reichen, der in der Erzählhandlung wiederholt stattfindet. Wir hören mit den Ohren unterschiedlicher Protagonist*innen quasi mehrfach, ein Kunstgriff, der im Empfinden des Lesenden diese Tat vervielfacht. Implizit wird so ihr Nachhall in den Fokus gerückt…
Wiederholungen
Abgesehen vom Schuss setzt Böll weitere Erzählhinweise refrainartig sich wiederholend ein: das titelgebende Billardspiel, der Protagonist Schrella, von dem lange nur in Andeutungen gesprochen wird, bevor er ›persönlich‹ auftaucht … Oder auch Satzfragmente wie Hindenburg, Schußfeld, Römische Kindergräber, Wozuwozuwozu … Sie dienen der Strukturierung sowie der Schaffung des Klangraumes in diesem Roman.
Showing, Telling, Innerer Monolog, Erlebte Rede
Heinrich Böll zieht alle Register, er verwebt diese bekannten Modi des Erzählens und setzt sie dann ein, wenn ihre jeweiligen spezifischen Charakteristika den für die narrative Ebene gewünschten Effekt erzielen. Hierdurch wird auch verständlich, wie Heinrich Böll sein durchaus umfangreiches Figurenarsenal nachvollziehbar ausgestalten konnte: Einerseits ist ihre Präsenz in ihrem jeweiligen Moment erzählerischer Gegenwart verdichtet; alle anderen Figuren rücken derweilen in die Ferne, ohne sich jedoch aufzulösen. Schemenhaft grüßen sie vom Rand oder werden klar sichtbar im Kontakt mit dem oder der jeweiligen Erzähler*in. Der Einfluss des Nouveau Roman in dieser Handhabung ist eindeutig zu spüren.
Leitmotive
›Sakrament des Lammes‹ und ›Sakrament des Büffels‹ durchziehen als Leitmotive die Handlung. Erläutert wird ihr Kontext an keiner Stelle, doch folgt Interpretationshinweis auf Interpretationshinweis. Es bedarf folglich keines erhobenen Zeigefingers, keiner endgültigen auflösenden Szene. Der oder die Lesende ist zur Mitarbeit aufgefordert. Während das ›Sakrament des Büffels‹ definitiv im gewaltbereiten nationalsozialistischen Denken verankert ist, im populistischen ›Wir‹ versus ›Die Anderen‹, welches der Prämisse folgt, wer zu ›den Anderen‹ zählt, bestimmen ›wir‹, wird als Gegenpol das christlich angelehnte ›Sakrament des Lammes‹ gegenübergestellt; samt gedanklich sich aufdrängender Schlachtbank, auch nicht unbedingt positiv konnotiert. Zu dominant bleibt zudem die grandios absurde Szene in Erinnerung, in der eine kleine Gruppe der Anhänger*innen ›des Lammes‹ ihr scheinheiliges Unwesen treiben. Das Sakrament selbst, per definitionem eine zeichenhafte Handlung, in der in sinnlich wahrnehmbarer Weise die Gnade Gottes übermittelt werde, wird durch diese doppelte Verankerung in der Bandbreite von Lamm (Lamm Gottes, Jesus Christus, Symbol der Auferstehung, die Sünde tilgend) bis Büffel (standhaft, Tradition, Pflicht, Energie, Triebsymbol) ad absurdum geführt: In dieser Welt ist kein Gott, nirgendwo; und was die Menschen als Religion im wortwörtlichen sowie im übertragenen Sinne kreieren, ist nichts als ein Instrumentarium, das eigenen Zwecken dient.
Böll, so würde ich es heute subsumieren, war ein Humanist – sein politisches, publizistisches Engagement mag manchem durchaus auch als Vorwand gedient haben, um den Literaten Böll abzulehnen oder gar zu diffamieren (insbesondere in späteren Jahren im Hinblick auf die nicht von Böll verfasste oder freigegebene »Spiegel«-Schlagzeile zu Ulrike Meinhof). »Billard um halbzehn« jedenfalls ist bis heute ein absolut lesenswerter Roman, dessen Studium im Sinne einer durchdachter und in sich stimmigen Struktur einigen zeitgenössischen Werken absolut zugute käme. Ein Werk, dessen Lektüre ein Nachsinnen über heutige Erzählkunst – ihre Mängel, ihre Chancen – durchaus nähren könnte!