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Ein Stadtbummel mit Virginia Woolf oder: Über die Natur der Imagination und die sich öffnenden Türen der Wahrnehmung

https://www.britannica.com/biography/Virginia-Woolf/media/1/647786/160954
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Eine Frau verlässt ihr Haus an einem Winternachmittag zu später Stunde, um einen Bleistift zu kaufen; nicht dass sie diesen für ihre Schreibarbeit so dringend benötigen würde, sodass dafür ein Gang durch das dämmrige London nötig wäre! Vielmehr verhält es sich so, dass sie einige Minuten des Für-sich-Seins bedarf: Fern ihres privaten Umfeldes, eintauchen in die Anonymität der anderen, die wie sie unterwegs sind – nach Hause oder anderswo hin. Vielleicht auch bereits angekommen, das Licht in ihren Räumen entzündend und hierdurch Einblicke gebend in Salons und Schlafgemache, Küchen und Flure. Eine Flâneuse, so scheint Virginia Woolf zu sagen, bedurfte um 1900 des ›Bleistifts‹, um sich zur Wahrnehmung alleine aufzumachen …

Der Blick der Flanierenden regt die Phantasie an: Es sei »eine Torheit der Natur«, die uns ständig den Kopf wenden lasse, die Zwergin betrachten, die Dame mit der Seehundfelljacke, die beiden Männer unter der Straßenlaterne in zerlumpten Kleidern, die allabendlich auf das große Glück in den neuesten (Wett-)Nachrichten der Zeitung hoffen. Die Natur, so Woolf, hätte sich als sie den Menschen schuf, lieber konzentrieren sollen, statt uns durch ihre Fahrigkeit mit Instinkten und Wünschen zu versorgen, »die völlig uneins sind mit […] [unserem] eigentlichen Wesen, so daß wir gestreift sind, buntscheckig, eine Mischung; die Farben sind zerlaufen.« (S. 357)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dies und nichts anderes führe dazu, dass wir in einer abendlichen Straße im Winter durch den Anblick einer Perlenkette in einer Auslage, und zeitgleich in unserer Imagination angetan mit ebenjener, in einem Seidenkleid um zwei Uhr morgens, glücklich, am Balkon stehen. Oder dass wir uns fragen, wie fühle sich das Sein an, wären wir – die Zwergin im Schuhsalon, die Dame in der Seehundfelljacke oder der alte Papeterie-Besitzer im Streit mit seiner Frau? Wie sich das Leben der beiden Zerlumpten anfühlt, fragen wir lieber nicht, eher schon, ob sie wirklich daran glauben, »daß das Glück jemals ihre Lumpen in Pelz und feinen Wollstoff verwandeln, ihnen Uhrketten anhängen und Diamantnadeln dorthin stecken wird, wo jetzt ein zerfetztes offenes Hemd ist?« (S. 360) 

Doch nicht nur Menschen und Schaufensterobjekte werden in Virginia Woolfs Essay über das Abenteuer des Flanierens nährendes Element der Imagination, auch Bücher, die »wild« und »heimatlos« im Antiquariat auf uns warten, »völlige Fremd[e]«, die sich für uns »[…] mit einigem Glück, in den besten Freund verwandeln […]« (S. 358). Es lohnt sich also allemal, aufzubrechen, langsam und wahrnehmend durch den Ort, der uns gerade umgibt zu wandeln, zu flanieren – selbst wenn wir uns heute vielleicht wieder genötigt sehen, für dieses scheinbare Nichtstun zur nachvollziehbaren Begründung für andere den Kauf eines Bleistifts anzuführen.

 

Quelle: 

Woolf, Virginia: Der Stadtbummel: Ein Londoner Abenteuer. In: Das Lesebuch. S. 350–364. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2006.

 

Bildmaterial:

https://www.britannica.com/biography/Virginia-Woolf/media/1/647786/160954

Jugendbild: Virginia Stephen (Woolf) in 1902, Photo: George Charles Beresford

Buchcover: privat, Ausgaben des S. Fischer Verlags sowie Penguin Books