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Dostojewskij »Verbrechen und Strafe«. Oder: Über die Tat und ihre psychische Konsequenzen oder: Dostojewskijs 17,5%

1865 fand sich Fjodor M. Dostojewskij, spielsüchtig wie er war, in einer wirklich bedrängten Situationen: Den Vorschuss seines Verlegers – immerhin 3000 Rubel – hatte er in die Tasche gesteckt und in Gesellschaft seiner Geliebten, Polina Suslowa, einer Schriftstellerin, an den Spieltischen in Baden-Baden auch gleich wieder verjubelt. (Glücksspiel war in Russland zu jener Zeit verboten, nicht aber in Deutschland.)

Da Dostojewskij jedoch die Verpflichtung unterzeichnet hatte, dafür am 1. November 1866 einen neuen Roman abzuliefern sowie eine dreibändige Werkausgabe zu publizieren, hing das Damoklesschwert tief über seinem Kopf: Falls er diese Frist breche, dürfe der Verleger neun Jahre lang alle Werke Dostojewskijs veröffentlichen, ohne ihm auch nur eine Kopeke an Tantiemen berappen zu müssen. Diabolisch nenne ich das. Und da er außerdem dem Feuilleton zu tausend Seiten eines komplexen psychologischen Romans über das Verbrechen bis November nächsten Jahres verpflichtet war, entschied der Gute kurzerhand, seine Spielsucht zum Thema eines Romans zu machen; in fiebriger Hast schrieb er innerhalb von 26 Tagen den »Spieler« nieder. Kopf gerettet.

»Verbrechen und Strafe«, wie die neueren Übersetzungen allesamt statt »Schuld und Sühne« titulieren, entstand, wie bereits erwähnt, für das Feuilleton: Monatlich hatte er von Jänner bis Dezember 1866 je eine der zwölf Fortsetzungen seines ersten großen Romans an »Russki Westnik« (Russischer Bote) zu liefern, um die Leser*innen der Monatszeitschrift durch das Jahr zu begleiten. 

 

Ein Faktum, welches man diesem Roman anmerkt, denn wiederholt wird zuvor Erzähltes – knapp paraphrasiert – einige Kapitel später nochmals wiedergegeben. Was in anderen Erzähluniversen eventuell nerven könnte, wird bei »Verbrechen und Strafe« zum Pluspunkt: Wiewohl nämlich auf den ersten Blick der Romaninhalt (Story) nicht wirklich komplex ist, wird die psychische Entwicklung der Figuren in der Romanhandlung (Plot) derart detailliert aufbereitet, dass ebenjene Zusammenfassung im Sinne eines ›Ah, ja … Da waren wir!‹ überaus hilfreich sind.

Der Inhalt des Romans ist wohl hinlänglich bekannt: Raskolnikow, ein Student, der aus finanziellen Gründen seine Ausbildung aufgeben musste, erschlägt eine alte Wucherin, bei der er zuvor seine wenigen Erbstücke versetzte. Die Schwester der Frau, die unglücklicherweise zur falschen Zeit an diesen Ort zurückkehrte, muss gleichfalls daran glauben. Keineswegs geschehen die Morde im Affekt, sondern zumindest die erste Tat ist geplant, beruht auf einer Ausgangsüberlegung, die in der Schmalspurvariante wohl die meisten von uns schon einmal gedacht haben: Die Welt wäre besser dran ohne diesen oder jenen Menschen …

Dieser Gedanke ist Ausgangspunkt der Handlung und nimmt rund einhundert Seiten des Romangeschehens ein. Die Hintergründe des Raubmordes sowie die Frage, wie sich diese Tat in weiterer Folge auf die Psyche des Protagonisten auswirkt, diverse Theorien zum Verbrechen und Reflexionen zu gesellschaftlichen Bedingungen, die das Kriminelle begünstigen, dominieren die restlichen 900 Seiten. Dieses Verhältnis macht bereits deutlich, worum es Dostojewskij in seinem Werk geht; nicht das Gruseln über den Raubmord, samt Waten im Blut oder die Gefahr der Überführung stehen im Zentrum, sondern die Psychologie. 

 

Backstory

 

Die Vorgeschichte der Romanhandlung, die zur Tat führt, wird nach und nach beleuchtet, wenn sie in der erzählerischen Gegenwart der Haupthandlung an die Oberfläche drängt; logischerweise, denn da wir die Handlung hauptsächlich aus Raskolnikows Sicht erleben, sind vorher geschehene Grundbedingungen auch nur dann zu erzählen, wenn sie in einem Moment für Raskolnikow erneut Relevanz erlangen. Wie ebenjener Essay, auf den ihn der Staatsanwalt anspricht, in welchem Raskolnikow einst die Idee skizzierte, die Menschheit bestehe aus wenigen außerordentlichen und mehrheitlich normal-begabten Menschen. Während normal-begabte Menschen, laut Raskolnikow, zu keinen neuen Ideen fähig seien, bringen die Außergewöhnlichen alles Innovative in die Gesellschaft ein. Um dies tun zu können, haben sie Grenzen zu überschreiten, seien es diejenigen des Gewohnten oder auch solche zum Verbrechen. Dazu hätten sie ob des finalen Benefits für die Menschheit das volle Recht, müssten sich dafür vor keinem Gesetz verantworten. Zu diesem Schluss sei er, Raskolnikow, gekommen, nachdem er das Leben von solch außergewöhnlichen Männern wie Lykurge (Gesetzgeber von Sparta), Solon (athenischer Staatsmann) oder Mohammed und Napoleon untersucht habe: Allesamt Verbrecher, die das alte, ererbte Gesetz überschritten, um ein Neues zu schaffen. Aufgrund ihrer Singularität wären sie auch nur auf Basis der Annahme, ihre Innovation könne die Menschheit retten, zu einer Übertretung bereit. Niemals würden sie eine Tat leichtfertig oder aus niedrigen Motiven und zur eigenen Bereicherung begehen.

 

Fixe Ideen & der Wahn

 

In weiterer Folge dieses Gedankens, der einmal gedacht, keine Ruhe mehr gewährt, entsteht in Raskolnikow nach und nach die fixe Idee, in der alten Wucherin eine ›Zecke der Menschheit‹ zu ermorden, um die Gegenwart aller von ihr zu befreien. Obendrein wird diese Reflexion Raskolnikows durch die Wahrnehmung der umfassenden Armut in seinem Umfeld genährt, die Frauen zur Prostitution zwingt, andere frühzeitig sterben lässt, da ihnen keinerlei medizinische Behandlung möglich ist. Raskolnikow beschließt folglich die Ermordung der Wucherin, um deren Wertsachen sowie Barschaft für andere nutzbar zu machen; und zögert zugleich. Mitgehörte Gespräche, Zufälle und Begegnungen werden ihm zum orakelhaften Zeichen: Ja, morde, die Frau ist nur ein Schaden für alle anderen …

Hierin wird vor allem auch das Wahnhafte seiner Weltsicht bereits deutlich, das sich nach der Tat zu einer Art Fieberdelirium steigert. Wären nicht Freunde in Raskolnikows privatem Umfeld für ihn da, er würde sich vermutlich den Freitod wählen. 

 

Sprechende Namen & implizite Deutungshinweise

 

Allen voran ist hier sein ehemaliger Kommilitone Rasumichin (im Russischen eine Anspielung auf das Wort ›Verstand‹) zu erwähnen, eine überaus sympathische Figur, die sich engagiert und beherzt jedweden Problems annimmt. 

Apropos sprechende Namen: Auch in Raskolnikow steckt so einer; seiner erinnert an die Verben ›zerspalten, knacken‹ und weckt zudem Assoziationen zu ›der Abergläubische‹, womit bereits eine Interpretation dieses Charakters durch den Autor vorgenommen wird: Raskolnikows Glaube, er sei der Weltenretter, ist nichts als ein Trugbild. Nicht nur sich selbst sieht er verzerrt, sondern ebenso die ihn umgebende Wirklichkeit; und dies nicht bloß im Fieberwahn nach der Tat. Es bedarf Rasumichins Verstand sowie der jungen Sofjas (russische Koseform zu Sonja, die Weise) religiös geprägte Sicht auf Recht und Unrecht, damit Raskolnikow – nun, was eigentlich? Die Realität zu ahnen beginnt? Denn ›erkennen‹ würde ich es lieber nicht nennen wollen.

Nicht aus Reue über zwei Morde, stellt sich Raskolnikow dem Staatsanwalt, sondern wegen des Verlusts des eigenen Lebens!

 

Nochmals 17,5%

 

Da er ob jener Tat und der ewigen Sorge sich zu verraten, mit niemandem mehr ohne Vorbehalte kommunizieren kann, geht ihm die Möglichkeit verlustig, er selbst zu sein. Insbesondere als seine Mutter und seine Schwester Dunja in der Stadt auftauchen, wird Raskolnikow dies bewusst. Dunja, klug, aufmerksam, aufrecht und nicht bereit zum Selbstbetrug, schuf Dostojewskij übrigens nach dem Vorbild der eingangs erwähnten Geliebten namens Polina Suslowa.

Erst das Bekennen der Schuld und damit auch das Verhindern der Inhaftierung eines Unschuldigen, der unter polizeilichem Druck die Tat gestand, ermöglicht Raskolnikow ein Danach, in welches Sofja ihn begleitet. Und seine Schwester Dunja? Stellt er unter Rasumichins Schutz. Der entflammte ohnedies nach dem ersten Blick in Dunjas Augen …

Die Gedankenwelt, welche in diesem Roman im Hintergrund immer wieder aufblitzt – sei es nun die Reflexion in Raskolnikows Essay oder die Debatte der Sozialisten, ob Verbrechen prinzipiell aus Armut entstehe und somit im idealen Staat inexistent seien, ob das Verbrechen den Charakter zerstöre oder der zerstörte Charakter das Verbrechen begehe – wird zwar durch Raskolnikows Entwicklung exemplarisch dargelegt, doch gleitet es durch Raskolnikows deliriöse Zustände zusehends in kaum fassbare Formen. Auch dies der gewählten Hauptperspektive geschuldet. 

Der Roman endet im sibirischen Gefangenenlager. Dostojewskij kannte die dortigen Verhältnisse übrigens aus eigener Erfahrung: Er war 1848 als junger Mann zur Lagerhaft verurteilt worden, weil er Kontakte zum Kreis um Michail Wassiljewitsch Butaschewitsch-Petraschewski pflog. Diese Gruppe diskutierte und vertrat die frühen sozialistischen Theorien Charles Fouriers und protestierte gegen zaristischen Despotismus sowie Leibeigenschaft.

 

Angeblich jene Ausgabe des »Neuen Testaments«, welches Dostojewskij erlaubt wurde
Angeblich jene Ausgabe des »Neuen Testaments«, welches Dostojewskij erlaubt wurde

Auf ebenjenem autobiographischen Element basiert auch die finale Szene des Romans: Dostojewskij, der Atheist, begann in Sibirien in Ermangelung anderer Literatur das Neue Testament zu lesen, um final das Lager als Christ zu verlassen. Im Roman »Verbrechen und Strafe« wird dieses autobiographische Detail in extremer Kürze, ja, beinahe als logisches Faktum der vorherigen Ereignisse, gleichfalls eingebaut. Doch wie jede Romancière weiß, taugt das wahrhaftige Leben nur bedingt zum Erzählinhalt, viel Reales wirkt im Kontext der Narration konstruiert und übertrieben. So auch dieser Bibel-Passus, der zum aufgepfropften Ende wird, welches sich nicht organisch aus Raskolnikow entwickelt. Mal ganz abgesehen davon, dass Religion als Erlösungs-Metapher uns heute doch eher sonderbar dünkt – als stünde bereits der nächste Wahn in Raskolnikows Raum …

 

Quelle:

Dostojewskij, Fjodor M.: Verbrechen und Strafe. Übersetzt von Swetlana Geier. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbibliothek 2017.