Renate Welsh »Kieselsteine«. Edle Kiesel oder Geschichten einer Kindheit

Renate Welsh breitet in diesem schmalen Band vor der Leser*innen Auge unzählige ›Kieselsteine‹ in vierzehn Erzählungen aus, die – wie das reale Geröll auch – höchst unterschiedlich in Größe, Form und Farbgebung sind. Manche weisen Sprenkel auf, andere Brüche, wiederum andere Einschlüsse, und während man lesend in dieses Universum eintaucht, um sie zu betrachten, stellt man fest, dass Zahllose von ihnen im Grunde genommen eine Sammlung weiterer Kiesel sind. Es sind in Wahrheit bezaubernde Miniaturen, oft kaum länger als einige Sätze, die hier zu vierzehn inhaltlich stimmigen Bildnissen einer Kindheit und eines Heranwachsens arrangiert werden. Stets aufs Neue überraschen sie einen. Manche sind hastig skizziert, andere rücken Details in den Blick, allen aber wohnt ein Lächeln inne, welches von leise über lakonisch bis zu schalkhaft reicht. So zum Beispiel wenn es heißt, dass man »in Kirchen und auf Friedhöfen […] gar nicht vorsichtig genug sein [konnte], man trat auf die falsche Stelle, sagte das falsche Wort, und schon war man verloren in Ewigkeit Amen.«

 

Damit sind wir auch auf dem Pfad des roten Fadens angekommen, der sich durch diese vierzehn Bildnisse schlingt: Die Familie ist kein heiler Ort und die Welt noch weitaus unheilvoller. Geheimnisse lasten, sie bilden die Eckpfeiler eines Spießrutenlaufes durch einen Alltag, in welches jedes falsche Wort das KZ bringen kann. Noch so ein Begriff, nach dem man sich tunlichst nicht erkundigen sollte, will man keinen Ärger evozieren. Den wohltuenden Gegenpol zum Verbot der Frage bildet das großväterliche »Und jetzt erzähl!«; oder manchmal das Gelächter der Erwachsenen als Reaktion auf kindliche Weltsicht, zum Beispiel als die Ich-Erzählerin entscheidet, Pfarrer werden zu wollen, da jener offensichtlich fliegen könne. Wie sonst sei er auf die Kanzel gekommen? Als man die Kleine aufklärt, einem Mädchen stehe solch ein Beruf nicht frei, zieht sie den logischen Schluss und kontert: Dann werde sie eben ein Bub! »Ich wurde älter, ging in die Schule, lernte ein paar Dinge und verlernte viele, gewann Fakten und verlor Möglichkeiten.«

 

Je weiter sich das Ich in die Welt hinausbegibt, umso mehr nimmt es die Umgebung außerhalb der Familie war, sei es die alte Hausbesorgerin, die in mehreren Miniaturen porträtiert wird, Patient*innen des Vaters oder des Großvaters Apotheken-Leben, inklusive Ankauf von Heilkräutern bei Bäuerinnen. Während man die »Buchteln«-Geschichte gegen Ende der »Kieselsteine« liest, erinnert man sich an manch zuvor wahrgenommene Miniatur, welche die Jahre in Bad Aussee thematisierte. Was dem einen eine Sommerfrische in Kriegsjahren war und ein Überleben fern der Bomben bedeutete, kam für das kindliche Ich einer umfassenden Entwurzelung gleich. Mit der Stiefmutter zu deren Familie verfrachtet zu werden, die weder jene Heirat noch das hierdurch gewonnene Kind guthießen, obendrein aus allen zwischenmenschlichen bisherigen Bezügen gerissen: Diese Erfahrung hinterlässt ihre Brüchigkeit in mehreren der ›Kieselsteine‹, sie zieht ihre Spur im Akt des Schreibens von »Dieda oder das fremde Kind« bis zur Begegnung mit einer alten Dame viele Jahre später, deren Ziehvater Renate Welsh in »Dieda« porträtiert hatte: Famos zeigt sich, wie die Literatur das Leben aufnimmt, welches wiederum sich selbst darin spiegelt, um alsdann erneut Narration zu werden … So zum Beispiel wenn die Leserin der Autorin mitteilt, wie wichtig jenes Werk für sie gewesen sei, und die Autorin über den vernommenen Satz »Sie wissen ja, wie das ist, wenn man nicht wirklich gewollt ist …« im Hinblick auf die Sprecherin nachsinnt. Revue passieren lassen und Erinnern, beides spielt auch auf der Metaebene eine relevante Rolle in den »Kieselsteinen«: Wie präsent manches über Jahrzehnte bleibt, oft Nichtigkeiten – Kratzer in der Politur, ausgebissene Tassenränder, Verzögerungen im Sprachrhythmus, Halbsätze –: »Und dazwischen lange Leerstellen, als wäre ich nicht dabei gewesen an diesen Tagen und in diesen Wochen meines Lebens.« Während anderes unumstößlich präsent bleibt, obgleich es sich so nie ereignet hat – wie die Wege mit dem Großvater entlang des Weihers und durch Alleen. Jahrelang jenen Ort gesucht, bis das Gegenüber im Museum den eindeutig ›erinnerten‹ Spaziergang samt Gespräch als ›bloßes‹ Bildwerk entlarvt: Alles Imagination. Alles Kunst.

 

Renate Welsh, die hierzulande wohl jedem als Kinder- und Jugendbuchautorin bekannt sein dürfte, deren »Vamperl« und »Johanna« auch Erwachsenen Leser*innen etwas zu sagen haben, verfasste – was manchen weniger geläufig ist – außerdem wunderbare Romane. Wer »Liebe Schwester« oder »Großmutters Schuhe« noch nicht kennt, besuche hurtig seine oder ihre Buchhandlung und ordere beide – gemeinsam mit den »Kieselsteinen«! Nehme sich alsdann in diesem Spätsommer oder Herbst drei Nachmittage samt beginnender Nächte zur Entspannung von allen Verpflichtungen frei und schlage die »Kieselsteine« auf, lege ausgehend vom »Kokon« Schicht um Schicht frei, um irgendwann, mit Erstaunen wahrzunehmen, dass die Reise nach New York führte, es mittlerweile gegen 22:15 ist und die letzte Zeile die Frage stellt, ob sie wirklich angekommen sei, an diesem Ort … 

 

Quelle:

Wels, Renate: Kieselsteine. Geschichten einer Kindheit. Wien: Czernin Verlag 2019.