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Leta Semadeni »Tamangur«. Oder: Eine wahrhaft feine Überraschung aus der Schweiz

Der Pressetext des »Rotpunktverlages« kündigt die erweiterte Neuauflage des 2015 erstmals erschienen Romans Leta Semadenis mit nachfolgendem Text an: 

»Ein Dorf voller Schatten im Tal. Tief hat sich der Fluss in den Felsen eingegraben. Eine Kirche, ein Schulhaus, der Dorfplatz mit der Lügenbank. Hier lebt das Kind zusammen mit der Großmutter. Der dritte Stuhl am Tisch ist leer, der Großvater, der ein Jäger war, ist jetzt in Tamangur. ›Das Dorf ist nicht mehr als ein Fliegendreck auf der Landkarte‹, sagt die Großmutter, und in der Küche hat sie Nadeln an die Weltkarte gesteckt: Venezia, Tumbaco, Havanna, Paris. Dorthin denkt sie sich gern zurück.«

Weiter kam ich gar nicht, denn meine Neugier war ob Fliegendreck und Weltkarte, Lügenbank und Großvater geweckt. So schrieb ich dem Verlag, ich bäte um ein Rezensionsexemplar: Für meine Entdeckungsreise mir bislang unbekannter Kolleg*innen.

Derweilen ich auf die Post wartete, informierte mich die Internetrecherche, ›Tamangur‹ sei nicht bloß ein wohlklingend mystisches Wort, sondern obendrein eine Region in der Schweiz; und Leta Semadeni beileibe keine Newcomerin, die meinem Radar erstaunlicherweise entwischte, sondern eine hochdekorierte Schweizer Lyrikerin von Format! Geboren 1944 in Scuol, im Engadin, studierte sie Sprachen, bereiste die Welt, arbeitete und lebte in Berlin, Paris und Lateinamerika – und in New York, doch das sei ihr verziehen. 

Als »Tamangur« im österreichischen Weinviertel eintrifft, blättere ich darin – und versinke in dieser Sprache, die eine Schönheit hat, welche ich seit langem in zeitgenössischen Werken vermisste! 

Ja, oft schreiben Kritiker*innen, dieser oder jener Roman sei poetisch, die Erzählung weise eine Dichte auf usw. usf. – doch kaum hineingelesen, lässt sich nichts davon finden. Ich kenne diese Enttäuschung; ebenso wie Sie. Aber bitte: Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen schreibe, dieses Werk ist poetisch! Ist dicht! Ist von einer sprachlichen Schönheit, welche die Kunstfertigkeit der Lyrikerin in der Prosa erahnen lässt. 

Und um es gleich vorweg zu nehmen: »Tamangur« nennt sich ›Roman‹; ich hätte ›Bilderbogen‹ treffender gefunden: Ein Spaziergang in der »Wüste durch den Kopf«, entlang der »schwarz gebackenen, hohen Dünen, die nachts eine Sichel tragen« (S. 133). Oder von mir aus ›Erzählung‹. Denn erzählt wird! Durchaus! Und zwar eine Geschichte, die sich nach und nach langsam entwickelt, ein manchmal sich verdickender, manchmal sich aufdröselnder narrativer Faden, der sich zudem immer wieder stimmig verhüllt. Und das ist gut so, da hierdurch das relevante Geschehen, die Vergangenheit, welche in die Gegenwart reicht, in einen diffusen Nebel gehüllt bleibt; wie die dampfigen Nachwehen eines Sommergewitters, die ewig in den Bergspitzen der Alpen hängen. In »Tamangur« ist es die Psyche der beiden zentralen Protagonistinnen, die diese Nebelschwaden um Ereignisse webt, was folglich textimmanent absolut Sinn macht. Die zentralen Figuren sind allesamt namenlos, sie werden nur durch ihre Verwandtschaftsverhältnisse definiert: Da ist ›das Kind‹, da ›die Großmutter‹. In der Ferne: der Großvater. Ebenso Mutter, Vater, Bruder. Im Gegensatz zu all den anderen Dorfbewohner*innen kennen weder Großmutter noch Kind die Individualität eines Namens, denn der Bezug zu einander ist weitaus dominanter, und die Seele »ist ein Gewohnheitstier […], sie ist stark, obschon sie nur ein paar Gramm wiegt, und sie setzt ihren Willen immer durch […]« (S. 8).

Dem Miteinander aus Dorf und zugezogener Großmutter gilt das Augenmerk, erzählt aus der Sicht des Kindes, welches sich nach und nach als Mädchen entpuppt. Entschwunden sind Mutter wie Vater, samt ihrer Liebe zum Kind, die es vielleicht auch nie gab, zumindest ›seither‹ nicht mehr: Dem kleinen Mädchen wird nicht verziehen, dass es den Froschkönig aus Vaters Märchen fangen wollte, dafür des kleinen Bruders Hand losließ. Der treibt jetzt irgendwo im Fluß, Richtung Schwarzes Meer. Damit habe das Kind ungewollt »den Sonnenschein der Mutter ausgelöscht und sie in die Finsternis gestoßen […]« (S. 44). Wäre da nicht die Großmutter, breit, voluminös und großherzig, wäre die Kindwelt wohl seither auf immer in Tristesse eingefärbt. Ist sie aber nicht; auch der bunten Erinnerungen an den Großvater wegen. Der jedoch brach eines Morgens zur Jagd auf, stahl sich davon – und aus ihrem Leben; um nie wiederzukehren, sondern stattdessen auf ewig in Tamangur zu bleiben, im »Paradies der Jäger«, wie die Großmutter sagt (S. 22).

So schön manche der Erinnerungen sind, so schwer sind andere. Besonders in der dunklen Zeit, wenn das Tal eng wird, liegen sie gerne wie schlafende Tiere überall herum, versperren einem den Weg (S. 20). Da kann es dann auch schon einmal vorkommen, dass die Großmutter wütet, der Großvater habe sich »aus dem Staub gemacht, dieser Feigling« (S. 35), und erschrickt das Kind über die Heftigkeit der Emotionen, beruhigt die Großmutter, da sie weiß, Gefühle wärmen wie Feuer. Selbst Hass und Wut haben ihr Recht in seinen Varianten, »schärf[en] die Sinne, förder[n] die Durchblutung und tu[n] einfach gut […]«, denn sie sind »die Würze im Leben! Fürs Schlaraffenland haben wir später noch Zeit.« Intensive Emotionen gehören eben zu »[…] wichtige[n] Menschen und Dinge[n] […], für die anderen lohnt sich der Aufwand nicht.« (S. 84–85) Der zuckersüß lächelnden Nachbarin, die nichts anderes will, als einen auszuforschen, um mit Erfahrenem den Dorftratsch zu nähren, begegne man folglich mit freundlichem Gesicht und mache derweilen sie honiglich plappere »ein inneres Nickerchen« (S. 36): Ihr werde es nicht schaden und dem eigenen Wohlbefinden guttun. Darin ist die Großmutter Meisterin, und ihre Lehren prägen.

Gegen Ende des schmalen Bandes wiegt die Großmutter in ihrem Erinnern fast ein Jahrhundert, selbst wenn ihre Seele noch immer jung sei, wie sie zu dem Kind sagt, nun Frau geworden. Mit ihrer jungen Seele macht auch die Großmutter sich auf den Weg – nach Tamangur …

 

 

Quelle:

Semadeni, Leta: Tamangur. Zürich: Rotpunktverlag 2015.