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Padura »Die Palme und der Stern«. Oder: ¡Feliz cumpleaños, Leonardo! Über einen großartigen Roman des kubanischen Autors, uns zur Relektüre geschenkt

Seine kunstfertig gesetzten Cliffhanger in einer Rezension aufzudecken, ist nicht sinnig, ebenso wenig das finale Tableau zu verraten, in welches die Narration nach zahlreichen Wendungen flutet. Außerdem hat eine Besprechung wohl kaum solch einen großen ›Koffer‹ zur Verfügung wie ein Roman, bildlich gesprochen, um alle relevanten Inhalte unterzubringen. Besonders schwierig wird dies bei »Die Palme und der Stern«, Paduras Meisterwerk über den Themenkreis des Exils in all seinen Facetten. Zudem wird jede Menge kubanische Geschichte im Rahmen dieser Narration miterlebbar, und wer in Mitteleuropa hätte diesbezüglich keinen Nachholbedarf? Insbesondere, wenn die Historie das 19. und frühe 20. Jahrhundert der Karibikinsel betrifft, den langen Kampf um die Unabhängigkeit – zuerst von den Spanier*innen, alsdann von den Amerikaner*innen, danach von den Fidelist*innen. Freimaurer und Freundschaft, Denunziation, Amouren und Eifersucht, Desillusion sowie Trauer sind weitere relevante Themenkreise dieses Romans. Die zwei wesentlichsten Handlungsstränge in »Die Palme und der Stern« erzählen das Leben zweier Männer, einer davon real, einer fiktiv: Beide kreisen um die Liebe zur Literatur und um die Faszination, die Lebenskraft, welche von ihr ausgeht.

Der auf Kuba geborene Literat José María Heredia (1803–1839), der im mexikanischen Exil als gebrochener und vergessener Dichter verstarb, gilt als einer der bedeutendsten Vertreter*innen der kubanischen Romantik. »¡Libertad! ya jamás sobre Cuba / Lucirán tus fulgores divinos«, lautet die erste Zeile seines berühmten Gedichtes »La Estrella de Cuba« (Der Stern Kubas), was in etwa »Freiheit! Nie wieder wird über Kuba / Deine göttliche Helligkeit leuchten« bedeutet. Heredia schloss sich als recht junger Mann noch den kubanischen Freimaurern an, um sich für die Unabhängigkeit Kubas von Spanien zu engagieren und gegen die Machtinteressen der großen Familienclans samt ihren Zuckerrohrplantagen zu stellen, auf denen Sklav*innen für den Reichtum der spanisch-stämmigen Besitzer*innen ausgebeutet wurden. Als die politischen Intentionen der Freimaurer-Gruppe aufflogen, hatte Heredia ins Exil zu fliehen, zuerst in das winterliche New York, alsdann in das klimatisch für ihn aufgrund seiner Tuberkulose verträglichere Mexiko. Das dortige nachrevolutionäre Chaos, der Wunsch, noch einmal nach Kuba zurückzukehren, Familienmitglieder und alte Freunde wiederzusehen, prägten die letzten Lebensjahre. Vier Monate Aufenthalt auf Kuba wurden ihm schließlich seitens des Generalgouverneurs unter der Bedingung gewährt, dass Heredia öffentlich ›seinen Unabhängigkeitsideen‹ abschwöre. Kurz nach seiner Rückkehr nach Mexiko verstarb Heredia, sein lyrisches Werk war zu jenem Zeitpunkt bereits im Vergessen-Werden begriffen. Heute erinnert an seinem Geburtshaus in Santiago de Cuba eine Inschrift an diesen wunderbaren Dichter sowie an dessen zweites überaus berühmtes Langgedicht »Oda al Niágara«, welches einerseits den Eindruck, den die Niagara-Fälle auf ihn machten, wiedergibt, und andererseits jenes Naturschauspiel als Metapher für die Empfindung des im Exil lebenden Dichters nutzt: Nach langer, langer Zeit des Schweigens, in der Einsamkeit eines lieblosen Lebens, habe ihn endlich wieder ein Erlebnis zum Schreiben inspiriert …

Der zweite Haupthandlungsstrang fokussiert Fernando, einen ehemaligen Professor der Literaturwissenschaft, der vor Jahren seine Anstellung ob der Machenschaften eines ambitionierten Polizisten verlor, welcher sich im kommunistischen System hochzudienen beabsichtigte: Die Anschuldigung, Fernando habe von den Fluchtplänen eines Freundes gewusst, diese aber nicht gemeldet, genügte bereits als Strick, der sich um Fernandos Hals schlang, und ebenjenen Freund zuerst in Haft brachte, um ihn nach seiner Entlassung vor einen Lkw ›laufen zu lassen‹. Später wird sich herausstellen, dass die Intrigen, welcher jener Polizist gerne spann, ihn final selbst zu Fall bringen werden. Das effektive und auch Jahre später noch immer Usus seiende Denunziations-Systems hat mehr als bloß einige Leben auf dem Gewissen.

Nach seinem Rauswurf aus der Universität war Fernando ohne Arbeit, was die Gefahr mit sich brachte, als ›asoziales Element‹ gebrandmarkt und angezeigt zu werden. Aus Angst vor weiteren Schwierigkeiten mit dem System verließ er kaum noch seine Wohnung. Sich des drohenden Wahnsinns seiner wachsenden Paranoia bewusst, entschloss sich Fernando schließlich schweren Herzens, Kuba zu verlassen.

Nun, Jahre später – in Fernandos erzählerischer Gegenwart – informiert ihn einer jener ehemaligen Freunde, eine Spur zum sagenumwobenen »Roman meines Lebens« von Heredia, ewig verschollen, sei aufgetaucht. Dreißig Tage werden Fernando erlaubt, und er kehrt auf die Insel zurück, um jenes Werk, zu dem er einst arbeitete zu suchen. Kaum angekommen kann Fernando, der nach wie vor mit seinem Exil hadert und dem die vergehende Zeit seines Visums wie eine Zeitbombe tickt, nicht anders, als da und dort in jener für die ehemaligen Freunde ›alten Geschichte‹ zu stochern: Wer hat ihn damals denunziert? Weshalb hat keiner für ihn gesprochen? Wieso kam der Brief, der zumindest eventuell eine Möglichkeit zu bleiben bedeutet hätte, erst viel zu spät an? Und wie können die ehemaligen Freunde sich erdreisten zu glauben, sein Leben im fernen Spanien sei ein Honiglecken? Was wissen denn die schon, von einem Leben im Exil?

Wie die beiden Erzählstränge um Heredia und Fernando, die eingangs kommentarlos nebeneinander stehen, alsbald ineinander fluten, sich kreuzen und kommentieren, wie der historische Freiermaurer-Erzählstrang sie ergänzt und sich alle mit der Thematik ›Exilleben‹ verbinden, ist ebenso famose Romankunst wie Leonardo Paduras Fähigkeit, den Zwischentönen ihren Raum zu geben: Seine Erzählwelt ist nie Schwarz-Weiß, sondern changiert, und was zuerst eindeutig ›anthrazit‹ war, schillert bald in allen Farben. So wendet sich oben skizzierte Denunziation, der Beweggrund für Fernandos Exil, Seite um Seite, je weiter man lesend durch den Dschungel ihrer aller Leben vordringt. Mit jeder Drehung der Erzählstränge wird Neues sichtbar, das Bild beginnt zuerst zu klaffen, bevor sich eines zum anderen zusammenfügt und ein Panorama erkennbar wird. Folglich ein brillanter Roman; obendrein ein literarischer Thriller, welcher politische Hintergründe in den Blick rückt: Was in aller Welt soll man sich sonst noch wünschen? Vielleicht diesem überaus geschätzten Kollegen alles erdenklich Gute zu seinem 64 Geburtstag am 9. Oktober!

 

 

Quellen:

Padura, Leonardo: Die Palme und der Stern. Zürich: Unionsverlag 2017.

http://www.damisela.com/literatura/pais/cuba/autores/heredia/poesias/estrella.htm

https://www.ecured.cu/Oda_al_Niágara