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Kirchhoff »Die Liebe in groben Zügen«. Oder: Was nutzt dann noch alle Liebe zur Sprache, zum Schreiben? 

Vila und Renz, sie knapp über 50, er hörte irgendwann jenseits der 60 zu zählen auf, doch beide hängen in ihrem Inneren noch jungen Träumen nach, selbst wenn ihre äußere Physis zumindest in den Augen ihrer Umgebung bereits zu signalisieren beginnt, man schaffe sie ›in ihrem Alter‹ doch lieber langsam aufs Abstellgleis: Als Moderatorin der Mitternachtstipps im Fernsehen wird Vila durch eine junge Schmucke ersetzt; die könne mehr Tamtam machen, verstehe ihr Publikum besser und brauche auch nicht den faltigen Hals zu bedecken. Daran ändert auch nichts, dass ihr Chef nach wie vor und vorzugsweise mit Vila flirtet, doch für Mitternacht auf dem Bildschirm, dafür sei sie eben ›zu alt‹. 

Für den TV-Serienschreiber Renz hat das Altern zwar keine berufliche Konsequenz, dafür eine private; und mit der weiß seine Frau meist geduldig umzugehen. Ansonsten gibt es noch immer Sexarbeiterinnen, die zwar erstaunt sind, wenn einer für das Reden zahlen will; oder junge Geliebte, die es aufgrund ihrer Verliebtheit gelassen nehmen …

Vom ersten Setting der Handlung an ist klar, dass sich eine Störung dieser Beziehung Renz-Vila aufbaut. Denn wozu sonst Franz von Assisi und Klara thematisieren, wieso Sexualität und Begehren als Irritation des Lebens etablieren, wozu ein Herr namens Bühl und eine Frau, Marlies mit Namen, einführen? Hinzu kommt des Paares Tochter, die schwanger wird und abtreibt, weil dies Kind nicht in ihr momentanes Lebenskonzept passt: Schließlich erhält man nicht alle Tage die Chance ein Forschungsprojekt im tiefsten Südamerika durchzuführen, und wer weiß schon zu sagen, wie lange jener Indianerstamm noch existiert, der seine Waisenkinder lebendig begräbt …?

Ärgerlich wird der Plot, als sich die Handlungsfäden allzu sehr in Zufällen verstricken: Natürlich verliebt sich Renz in Marlies; doch dass es sich dabei just um die Jugendliebe Bühls handelt, der als neuer Geliebter Vilas das Kleeblatt im Unglück vervollständigt, ist bereits zu viel. Obendrein ist Marlies todkrank; Krebs, das Endstadium naht. Als wäre all dies noch nicht genug, um den Kitsch-Verdacht einer Telenovela aufkommen zu lassen, erscheint auch noch Bühls Internatsfreund Cornelius auf der Bildfläche, weil ihn nach unzähligen Jahren plötzlich der Wunsch umtreibt, aufzudecken und öffentlich zu machen, welcher Lehrer einst Bühl missbrauchte: Das ist zu viel des Guten. Viel zu viel. 

Selbst wenn man bedenkt, dass es nicht um die Protagonist*innen als Individuen gehen kann, sondern um alle denkbaren Spielarten der Liebe wie auch um ihren unliebsamen Varianten – von ehelich, elterlich bis freundschaftlich, von erotisch über gekauft bis verliebt, von missbrauchend über inzestuös bis zu gewalttätig: Es ist und bleibt zu viel, wird dies einem so engen Figureninventar aufgebürdet. 

Noch ein Wort zum missbrauchenden Lehrer, der im See ertrinkt: Wie Bühl als Alter Ego des Autors tauchte auch jene Figur schon einmal im Werk Kirchhoffs auf, physisch sehr ähnlich gezeichnet, und zwar elf Jahre zuvor in »Parlando«. Dort wird der Lehrer noch mit einem Stein erschlagen. In einem interessanten Interview zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern verweigerte Kirchhoff die Verurteilung des eigenen als Kind erfahrenen Täters und betonte stattdessen die Ambivalenz des jugendlichen Erlebens, welche jedoch nachhaltig prägt, wie das Werk des Autors auch hinreichend belegt.

In »Die Liebe in groben Zügen« nun bleibt offen, ob der Protagonist Bühl den Lehrer einst ertränkte oder nicht. Überhaupt eine der wahrlich gelungenen Szenen in ihrem Andeutungscharakter! Die Erinnerung an die Penetration der Mutter durch Bühl wird gleichfalls nur angedeutet: »Sie tut bloß, als würde sie schlafen, und lässt es durch Trägheit und leise Töne so weit kommen, dass er sie erforscht, wie er sonst den Finger in Kuchenteig tauchen darf.« An beiden Beispielen wird sichtbar, wie der Charakter der Andeutung das Werk dominiert.

Katastrophal wird das thematische Potpourri, wenn es sich nach Havanna begibt, und diese Stadt zur unhinterfragten Tourismus-Kulisse, zum Postkarten-Sozial-Kitsch verkommt. Höchst ärgerlich, um es nicht sogar eine Zumutung für jeden denkenden Leser, jede denkende Leserin zu nennen. Wer versucht ist, das Werk an jener Stelle wegzulegen und die Lektüre nicht zu beenden, hat mein vollstes Verständnis!

Kuba taugt auch nicht zum puren Namedropping, wie Kirchhoff es sonst seine Figuren mit Rotweinmarken und Gardaseekulisse treiben lässt, weil man bei Vila sowie bei Renz wohl noch deren Oberflächlichkeit als stimmige Begründung gelten lässt – aber wenn Bühl über Kuba erzählt und keine Sekunde die Verhältnisse hinterfragt, sondern dem aufgemalten Konterfei der Insel für Tourist*innen aufsitzt, so ist das in keiner Weise werkimmanent stimmig und lässt eher den Schluss zu, Kirchhoff habe sich nur höchst oberflächlich mit jenem Land, dem Alltag darin und der politischen Historie der Insel beschäftigt; oder er habe jenen Teil der Handlung eben nach Kuba verlegt, weil Thailand als sexuelles Vergnügungsland von der Karibik-Insel zu Beginn der 2010er Jahre abgelöst wurde. Das aber ist zu wenig, viel zu wenig, um als schlüssige Begründung zu taugen.

Durch diese Kuba-Szenen erhält das Bild Sprünge, die sich wie Krakenarme dahin und dorthin zu verbreiten beginnen: Franz von Assisi dünkt einen plötzlich allzu eingeengt auf das Thema seines sexuellen Begehrens, und wieso muss unbedingt auch noch eheliche Gewalt ins Werk integriert werden? Was an letzterer Thematik verärgert, ist nicht die Rollenverteilung – Vila schlägt nach Renz und demütigt ihn in der Öffentlichkeit –, sondern weil dieses Verhalten unmotiviert bleibt, ihre Ausbrüche zudem nur angerissen, aber nie bearbeitet werden!

Es wäre für mich sogar noch nachvollziehbar gewesen, hätte es sich dabei um einen phantasierten Gewaltakt gehandelt, den Renz sich quasi zur Buße für seine ewigen Fremdgänge auferlegt. Aber dass diese wiederkehrenden Ausbrüche Vilas Eifersucht zugeschoben werden, obwohl Marlies nicht die Erste ist, mit der sich Renz vergnügte, Vila außerdem selbst glücklich fremdgeht und bloß nicht weiß, wie sie Renz mitteilen soll, er möge sich doch bitte in Luft auflösen? Deshalb soll diese in sich ruhende Frau ihn prügeln? Das ist lächerlich.

Ob solcher Ärgernisse, ist man wahrlich versucht, all das zu verdrängen, was an diesem Roman gelungen ist: jede Szene über das Schreiben! Die Erzählsprache, meist, wenn er nicht auch hier im ›Zu-viel‹ badet (siehe obiger Kuchenteig). Oder die Kapitelbögen! Wenn ein Kapitel endet und der Beginn des nächsten sanft den Klang aufnimmt, aus dem man zuerst verabschiedet wurde, manchmal sogar ein Wort oder eine Reflexion … Oder Renz als Figur, in all seiner Brüchigkeit durch das Leben tappend; nicht unähnlich dem geliebten Familienhund Kasper. Vila hingegen ist eine weitaus schwächere Figur: die Frau, die sich im Bad einsperrt. Als solche bleibt sie im Gedächtnis. Ähnliches gilt für die Tochter oder für Marlies: oberflächlich schabloniert im Vergleich zu den maskulinen Vertretern Renz oder Bühl. Die Herren besetzen die Prägnanz der Kirchhoffschen Sprachbilder, von denen viele noch Tage nach der Lektüre präsent bleiben. Als wäre man dabei gewesen, vor Ort, und käme Renz oder Bühl nun ums Eck, könnte man sagen: Weißt du noch, der Wind im Schilf am See, der Geruch im Bootshaus und die harte Kante, Mutters Hautcreme und die Übelkeit danach, deine Schrift im Schnee …

Nein, es hätte die Überfülle nicht gebraucht! Sie steht dem Werk eher im Weg. Auch nicht die Verkettung all der Zufälle, um anhand eines begrenzten Figureninventars das Erleben aller emotionalen Spielarten der Liebe darzustellen - oder anzureißen vielmehr. Es hätte nichts gebraucht als Bühl in dieser Sprache, die wie Regen über das Fenster läuft, manchmal tropfend, manchmal in Güssen.