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»Mother!« Oder der Horror im Literat*innen-Leben

Der Film beginnt, bevor die Filmhandlung beginnt – mit dem Akt des Sich-Verbrennens ebenso wie mit dem verspätet nach dem Titel-Wort »Mother« gesetzten Rufzeichen. Und er endet lange nachdem er bereits geendet hat; nicht bloß des Ringschlusses wegen, sondern auch da die betrachtete Bilderflut und rasche Szenenabfolge mit Sicherheit noch in der Betrachterin, in dem Betrachter nachhallen.

Der Inhalt des Films thematisiert den Arbeitsprozess an einem literarischen Werk: Am Beginn steht der Rückzug eines Schriftstellers in ein ländlich abgelegenes Haus, während er auf das Keimen und Gedeihen einer Idee für das nächste Werk wartet. Es wird die Entstehung eines ersten Satzes erzählt, der grobe Bauplan, der sich entwickelt, die Niederschrift Kapitel für Kapitel, wiewohl Störungen sich ereignen. Zu früh – in Anbetracht der noch weidwunden Innenwelt des Schaffenden – erfolgt die Publikation; der Aneignungsprozess seitens des Publikums führt zur Zerstörung des eben ›geborenen Kindes‹, da sich die Rezipient*innen hier einen Satz einverleiben, dort eine Wendung herauszerren, sie für eigene Zwecke nutzen, sich unterschiedliche Parteien an Befürworter*innen und Gegner*innen bilden. Daran geht die als weibliche Partnerin des Autors dargestellte Inspiration oder auch Mutter seines Werk-Kindes ebenso zugrunde wie – vorläufig – der Literat. Damit danach alles von Neuem beginne; ein ewiger Kreislauf. 

 

Die Problematik, diesen Film adäquat zu besprechen, beginnt bereits in den Zuschreibungen, die während der Wahrnehmung entstehen, und die zu spät oder gar nicht mehr korrigiert werden; zumindest erhält man diesen Eindruck, blättert man sich durch manche Kritiken.

So sehen wir nach dem visuell erfassten Titel »Mother« samt nachträglicher Akzentuierung durch ein Rufzeichen als Beginn der eigentlichen Filmhandlung eine junge Frau, die wohl früh am Morgen allein in einem Doppelbett erwacht. »Liebling?« fragt sie suchend in den Raum – und schon sitzen wir unseren stereotypen Bildern auf: Sie hat eine Partnerin zu sein, eine Ehefrau oder Lebensgefährtin, eine, die Mutter ist oder potentiell Mutter werden könnte, die jedenfalls eine Mutter zu haben hat, eine Frau aus Fleisch und Blut, ein weibliches Wesen, das einen ›Liebling‹ ihr Eigen nennt. Offensichtlich – so ziehen wir den Schluss aus den nächsten Sequenzen und Szenen dieses ersten Tages – ist sie gleichfalls die Hüterin des Hauses, nicht bloß weil sie sich aktiv mit dessen Renovierung befasst, sondern aufgrund der Art und Weise wie sie agiert: Nicht geraucht werden solle im Haus, auf die Spüle möge man sich nicht stützen, dieser Ort des Abspülens von Lebensresten sei noch nicht verschraubt, das Arbeitszimmer des Mannes dürfe man nicht betreten, er wolle nicht, dass jemand sein Schreiben sehe, bevor er es mit dem Vermerk ›Fertig!‹ selbstgewählt aus der Hand gebe – und schon gar nicht möge man den Kristall aus der haltenden Fassung herausnehmen, anfassen oder – zerbrechen! All ihre Warnungen zum sorgsamen Umgang mit des Literaten Arbeitswelt sind nutzlos, sie kommen immer zu spät, wiewohl ihre zusehends erzürnteren Worte im Grunde genommen nichts Außergewöhnliches einmahnen, bloß Selbstverständliches zur Sprache bringen: Sie werden nicht gehört, ignoriert, beiseite gewischt.

Die Zuschreibungen, welche diese Frau filmimmanent anfänglich durch hereindrängende Fans von außen erfährt, bestätigen zwar einerseits die Annahme, sie sei Partnerin/Freundin/Frau des Autors, doch stellen sie diese zeitgleich konsequent in Frage. Ab der Darstellung des Aneignungsprozesses eines Werkes durch das Publikum kann wohl kaum jemandem die Hüterin des Hauses noch als ›Ehefrau‹ im herkömmlichen Sinn gelten; spätestens dann sollte man sich an Freud und an das Haus als Sinnbild des Ichs, mit allen verborgenen, realen und träumerischen Anteilen, erinnern. Mit der Figur der Verlegerin steht der Trugschluss am deutlichsten als solcher im Raum: Sie ist es, welche zur Frau sagt: »Da ist sie ja, die Inspiration. Na gut, ich will ehrlich sein, ich war ein bisschen in Sorge, weil er mit dir so abgetaucht war.« Da die Verlegerin (wie auch die Zuseher*innen des Films) den Inhalt des soeben verfassten Werkes kennen, das von einem Zusammenbruch erzählt, bevor die Muse im Leben des Autors auftauchte, kann diese Anrede unmöglich eine figurative Bedeutung haben. Ohne eine Antwort von der Muse zu erwarten, wendet sie sich sogleich an den Literaten: »Ich hatte Angst, du würdest nie wieder schreiben.« Er ist also kein Möchtegern, sondern ein erfahrener und erfolgreich etablierter Autor; wodurch der Verlegerin im Falle seines Verstummens eine Menge Geld verlustig ginge; sagt sie nicht explizit, doch die Art und Weise, wie sie einzig die zweite Auflage interessiert, die sie gleich einer Trophäe mitbringt, weist darauf hin. Ihre Triebfeder des Handelns ist die Ausschlachtung seiner Produktion, der mögliche Gewinn; und nur in jenem Kontext kennt sie eine Sorge um sein Wohlergehen. Schließlich kann auch jeder andere Kollege und – mit etwas mehr Aufwand  jede andere Kollegin – zum Publikumsliebling aufgebaut werden. Nicht jedoch zum Liebkind der eigenen Inspiration, diese Macht hat keine Agentur und kein Verlag. Die Muse, welche sich als Hüterin seines Hauses als einzige wahrhaftig um sein Wohl – und folglich um ihre eigene Existenz! – sorgt, ein Haus, dass sie natürlich auch nicht verlassen kann, an das sie gekettet ist, muss jedoch unter den Umständen des Marktes auf allen Linien scheitern …

Doch vorerst ist der Literat noch im Ruhmesrausch. Er bemerkt nicht einmal wie das Publikum sich sein Werk anzueignen beginnt, er glaubt noch immer – und wider jedwede frühere Erfahrung – dieses Mal hätten sie verstanden, was er ihnen sagen wollte, missachtet auch die eigene Erschöpfung als Konsequenz seines Geschenks an die Welt. Seinen Tribut fordert dennoch der vorherige anstrengende Schreibprozess – bei dem er sich verbrannte, die Haut abzog, das Herz herausriss: Suchen Sie sich eine Metapher aus, sie sind allesamt in den Anfangsbildern des Filmes da!

Wer ein wenig Augenmerk auf diese Eingangssequenzen legte, kann sich wohl an den Fingern abzählen, dass die Erfahrung der Aneignung des letzten Werkes durchaus dazu angetan ist, der Hüterin seines Hauses Sorge um sein Wohlergehen zu bereiten, dass dieser als aggressiv erlebte Prozess fraglos zu einem ›nie wieder‹ führen könnte. Auch jetzt findet sich ein Fan, der sich zum kultischen Anführer berufen fühlt: »Seine Worte sind die deinen«, sagt er und verteilt Tintenkleckser auf Stirnen. Aus der Fangruppe entwickeln sich mehrere militante Kampftruppen, einer davon schließt sich die Verlegerin gleichfalls an. Sie ist es, die von einem Mitstreiter fordert, als sie im allgemeinen Durcheinander endlich die ›Hüterin des Hauses‹ erblickt: »Die Inspiration! Wo hattest du dich versteckt? – Mach sie kalt!« Das erscheint Ihnen sonderbar? Mitnichten. Denn die Verlegerin – Symbol des Marktes, der stets nach Neuem schreit – will naturgemäß den Tod der nunmehr alten Muse. Aus ihr könnte ja kein neues Werk entstehen, nur ein Abklatsch des vorherigen. Deshalb muss sie sterben. Und ihr Tod hat schneller zu geschehen, als es dem inneren Prozess des Autors entspräche, da der Markt unaufhörlich ›Mehr!‹ verlangt.

Die Frauenfigur ist also Lebenspartnerin und Inspiration, eine Muse, eine Personifizierung dessen, was wir heute auch den Ideenkeim nennen: Nur wenn die Faszination für ihn Bestand hat, wird daraus ein Werk erwachsen.

Interessant ist, dass Aronofsky diese personifizierte Muse bekümmert um die eigene Existenz zeigt: Des Autors harrend, da ihre Sein von ihm abhängt; vorsichtig abwartend, ob er nun vielleicht doch, sich an die Arbeit setzen möge, den ersten Satz finden werde, besorgt um all der Störungen, denen der Autor den Zutritt zu seinem Haus gestattet, der Ablenkungen, die sie – neben zusätzlicher Inspiration – mit sich bringen, unsicher ob sie ›ein Kind‹ will oder nicht, bang um Anerkennung früherer Werke, während des längeren Schaffensprozesses: »Ihre Worte haben mein Leben verändert.« Sie fürchtet das dominante Hereinfluten der vorherigen Arbeiten, sorgt sich um ein Erstarken des Inneren Kritikers im Autor und weiß doch, dass der Literat eines Zuspruchs bedarf, den sie noch nicht geben kann.

Neben dem derzeit entstehenden Hauptwerk sind zudem andere Sprachgaben zu leisten, um das Publikum bei Laune zu halten: Werkdialoge über die Poetik und eine Rede, eine Trauerrede: Er muss von Berufs wegen in Sprache kleiden können, wofür alle anderen keine Worte haben, um sie in und durch ihren Schmerz zu begleiten. Er muss? Ja. Nicht bloß weil man von außen an ihn mit dieser Bitte herantritt, sondern auch weil er des unmittelbaren Echos auf seine Sprachmacht bedarf. Er braucht das Gefühl, Menschen noch immer erreichen zu können, um in innerer Ruhe der Magie seiner Wortkraft zu vertrauen und das Entstehen des nächsten Werkes geduldig zu begleiten. Oder man könnte zynisch kommentieren: Der Autor arbeitet an seinem Untergang tatkräftig mit …

Weitgehend wehrlos hat die Muse, der Ideenkeim, dem zuzusehen. Eingangs, weil sie sich lieber in Krämpfe windet; später da sie der (zumindest ehedem inspirierenden) Zerstörung des Ich-Hauses nichts entgegensetzen kann. Sie nimmt auch des Autors aufflackernde Neugierde, als er den einen Sohn des hereinschneienden Fan-Paares in seinem Sterben begleitet, bestürzt wahr, da sie bemerkt wie sich offensichtlich ein Teil in ihm bereits mit dem Erzählen dieses Sterbens beschäftigt, mit der Ausgestaltung des narrativen Aktes: Wird sich die geplante Romanhandlung hierdurch verändern? Wird eine der Figuren den angedachten Plot torpedieren und sterben wollen? Oder wird der Autor die inspirierende Kraft des Miterlebens erst in einem späteren Werk nutzen?

Wem die Neugier des Autors despektierlich oder überzogen dünkt, dem sei Tolstoi als Exempel erzählt: Als jener erfuhr, dass sich eine Frau in seinem Bekanntenkreis soeben vor den Zug geworfen habe, fuhr er sogleich zur Unglücksstelle, um alles wahrzunehmen, zu notieren und später seiner »Anna Karenina« einzuverleiben. Nicht immer handelt es sich bei schöpferischem Erforschungswahn um solch ethische Grenzfälle wie die Betrachtung des Todes, aber naturgemäß bedingt die uns bekannte, umgebende Welt immer auch das Universum, das wir erzählend gestalten können, weshalb sich Literat*innen – manche bewusster als andere – öfters in Situationen begeben, welche die meisten Menschen wohl eher meiden würden: Wir hingegen leben von diesen Wahrnehmungen, und ja, manchmal vermag es durchaus den Charakter einer Ausbeutung unserer Umwelt für unser Werk haben. Diesen Teilaspekt stellt Aronofsky interessanterweise verhaltener dar als die aggressiven Aktionen der Rezipient*innen.

Auch die Muse nimmt des Autors Erforschung der Welt mehrheitlich gelassen. Weniger entspannt jedoch reagiert sie, als der Autor ihr nach seinem Beschluss, er sei »fertig!«, das Manuskript zur Lektüre reicht: Kaum hat sie diesen Roman über das zerstörte Ich-Haus des Autors gelesen, von dem nur ein einziger Kristall übrigblieb, fragt er schon besorgt: »Findest du es gut?« »Es ist perfekt!«, antwortet sie. Im gleichen Moment schrillt bereits das Telefon eindringlich: Die Außenwelt verlangt Einlass in der Stimme der Verlegerin, welche dem Werk das Adjektiv »Toll!« verpasst. Der Muse Angst vor dem Kommenden, vor der Leere und dem Verlust, ist eindeutig zu spüren.

Sobald die Existenz des aus der Inspiration entstandenen Werkes – des zweiten ›Kindes‹ also – auf dem Spiel steht, ist die Muse einzig um ihr ›Kind‹, ihr Produkt besorgt, des Literaten Ich wird sekundär, feindlich gar. Weder Verlegerin noch Journalisten oder Publikum gehen mit dem ›Kind‹ dezent um, von sorgsam ganz zu schweigen; es wird zerteilt, zerrissen, sich selbst einverleibt, wird als Träger einer Botschaft benutzt, die nicht in ihm liegt. Weder Muse noch Autor können das in die Welt entlassene Werk-›Kind‹ schützen – höchstens versuchen, das eigene Ich vor weiterer Zerstörung zu bewahren; um aus den Scherben wenigstens den Kristall zu retten, der gerade durch die Hitze der Zerstörung entsteht – und folglich in all seiner Reinheit vielleicht nur aus der Herzasche zu bergen ist? Der Autor jedenfalls sagt über jenen Moment: »Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder kreativ sein kann.«

Selbst der Akt der Werkaneignung und -zerstörung hat dem Publikum vergeben zu werden, fordert der Autor von sich und seiner Muse, auch wenn dies seiner gegenwärtigen Inspiration das Leben kostet. Sterbend wirft sie ihm vor, nie habe er sie geliebt, habe nur geliebt wie sehr sie ihn geliebt habe: »Du hast das alles weggeworfen!« Seine Antwort? »Ich bin ich, du warst mein Zuhause.« Auch hier, erneut, ein Hinweis auf die Doppeldeutigkeit des Hauses. Wie die Muse zuvor hier eine Wand verschönerte, sich dort um aus des Autors Vergangenheit quellendes Bodenblut kümmerte, damit sich das in ihr anbahnende Werk bilde, es wachse und gedeihe, hat er – als Schaffender – eine andere Bestimmung, er muss er selbst bleiben können, um dieser Welt weitere künstlerische Arbeiten zu schenken.

Ist die Idee, die entsteht und wächst und Blüten treibt, während des Schaffensprozesses der Schutzraum des Schreibenden, so ist die einzige Möglichkeit, die ihm/ihr nach der als brachialen Akt erfahrenen Aneignung des Werkes durch die Rezipient*innen bleibt, die Entscheidung, die Inspiration an den Anfang zurückzutragen, eine neue Idee zu suchen, sonst würde auch er daran zugrunde gehen, und ›ihr Herz‹, ihr Innerstes, ihren ›Motor‹ an sich zu nehmen. Wer wahrhaftig in der Literatur lebt, kann ohne sie nicht sein. Es ist seine Art das Leben samt einstürmender Wahrnehmungen zu bewältigen.

Selbst die Wiederholung dieser Abläufe – und Aronofskys Literat erlebt sie am Ende des Filmes zumindest zum dritten Mal –, entlässt einen nicht aus der Angst, es möge sich beim nächsten Werk – aus welch teuflischem Grund auch immer – nicht der übliche Reigen einstellen: Zuwarten, langsames Nähren, die Idee in sich wachsen lassen, während sich das zerstörte Ich-Haus wieder regeneriert, aufbaut, das Herz dort bleibt, wo es sein soll, es nicht panisch pochend andernorts blutig auftaucht, im Spülwasser der Toilette gar, bis der erste Satz klar und deutlich fassbar wird, sich ein neues Erzähluniversum begründet, das sein Gewicht tragen kann, sodass es sich aus sich selbst heraus weiterschreibt, während Literat*in darauf vertraut, dass etwas Großes entstehen wird, ein Werk, besser noch als jedes zuvor Geschaffene, und die eigene Enttäuschung über das vorhergehende Werk samt der Erinnerung an den aggressiven Rezeptionsprozess langsam vergessen werden darf, ein Ende der Täuschung auch darüber, dass das Geschaffene je an das zu Arbeitsbeginn erträumte Werk heranreiche: »Nichts ist jemals genug, ich könnte sonst nichts erschaffen. Und das muss ich. Das ist, was ich tue. Das, was ich bin. Und jetzt muss ich es erneut versuchen.« – Selbst wenn das bedeutet, der sterbenden Muse das Herz herauszureißen; im Film nicht im übertragenen Sinn – sondern wortwörtlich. Damit alsdann erneut ein Kristall, ein Haus entstehe, ein Schutzraum für des Autors Ich, damit die Inspiration darin eines Morgens erwache und noch ein wenig zögerlich frage: »Liebling?«