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Assmann »Der europäische Traum«. Oder: vom friedlichen Miteinander – lassen wir uns die Möglichkeit doch – wider alle Realität – offen 

Auf Basis einer knappen Darstellung der Geschichte der Europäischen Union wird die Frage gestellt, ob aus ihrer Historie und aus derjenigen der Weltgeschichte allgemein gelernt wurde. Primär zur Friedenssicherung nach dem Holocaust geschaffen, stellte die EU den zollfreien Zugang zu Rohstoffen der Schwerindustrie ins Zentrum, implizit wurde dabei auch eine »Zähmung Deutschlands« (S. 15) mitgedacht. Die Union sollte verhindern, dass sich dieses Land für einen weiteren Krieg rüste. 

Die Basis dafür schuf Churchill: Um einer Zukunft willen, offerierte der britische Staatsmann sein Vergeben und Vergessen; und man nahm auf dem Gebiet des ehemaligen NS-Staates gerne dieses Angebot an.

Für Churchills Vorschlag 1946 war die Erkenntnis ausschlaggebend, dass der Vertrag von Versaille aus dem Jahr 1919 zum Aufflammen des NS-Gedankengutes Seines beigetragen habe (S. 40). Churchills Paradigma des Vergebens und Vergessens war daher auch gedacht als »Akt des Glaubens an die europäische Familie« (S. 39).

Die Weltgeschichte belegt, dass es für das evozierte Echo solch eines verordneten – oder vorgeschlagenen – Vergessens stets relevant ist, wer dieses propagiert, wie dessen Machtposition beschaffen ist und wie jener es vorträgt. Aleida Assmann verweist in ihrem Buch auf gelungene sowie misslungene Exempel dieses Wunschs nach einer Tabula rasa; obendrein auf solche, bei denen die Sehnsucht nach dem Sprechen über die Gräueltaten von den Kindern oder Enkelkindern nach erfolgtem Wiederaufbau dominant wird, weil sie darin eine bessere – und vor allem dauerhaftere – Lösung sehen. 

Assmann setzt den europäischen Traum in Kontrast zum amerikanischen, der bekanntlich das Ich und seinen Aufstieg in den Fokus rückt: Jeder, der gewillt ist, kann es bis zum Milliardär bringen (S. 9); in der europäischen Variante des Traumes fungiert hingegen das Wir und eine dauerhafte Friedenssicherung als Ziel (Vgl.: S. 15). Dieser europäische Traum wies jedoch von Beginn an zwei Denkfehler auf: Erstens schuf er ein neues Feindbild im Osten: »Der europäische Frieden war im Kalten Krieg keineswegs vollkommen, denn er war auch Teil einer politischen Strategie und wurde nach 1945 auf ein neues Feindbild gegründet. Anstelle der gegenseitigen Nachbarn waren nun Russland, der Kommunismus und der Ostblock der Gegner, gegen den man sich vereinigte.« (S. 23)

Zweitens wollte man nicht bedenken, dass man die Wirtschaftspläne auf Kosten anderer Länder entwarf; insbesondere auf Kosten der ehemaligen Kolonien. Dass Europas friedliches Miteinander nur entstehen könne, wenn es ein globales Miteinander gäbe – so weit dachte man gegen Mitte und Ende des 20. Jahrhunderts nicht.

Deshalb folgte dem europäischen Traum vom verordneten Vergessen zur Friedenssicherung die Rechnung auf den Fuß: Die Enkel- und Kindergeneration mahnte das »Nie wieder!« Ein und verlangte Rechenschaft. Als der ehemalige Ostblock zerbrach, suchten viele der neuen Staaten die Nähe zur EU – nicht unbedingt der gemeinsamen Werte wegen, sondern um – im Falle des Falles – Schutz vor Russlands Machtstreben zu finden. Dass diese Länder wie manch andere auch nun ihre nationalen Interessen verstärkt betonen und sich vom europäischen Gedanken abwenden, sollte einen nicht verwundern: »Es gibt Mitgliedsländer, die den transnationalen Verbund von innen her aufsprengen durch ihren starken Wunsch nach nationaler Souveränität und Autonomie (wie z. B. England), und solche, die noch in der EU verbleiben, aber unverfroren die gemeinsamen Werte und Standards aufkündigen wie Ungarn und Polen. Dazu kommt der Druck an den Außengrenzen durch die militärischen Aktionen Russlands, die den Frieden gebrochen haben, sowie durch die Ankunft von mehr als einer Million Migranten, die vor Bürgerkrieg, Terror und Gewalt aus ihren Heimatländern fliehen, um in Europa Schutz zu suchen.« (S. 153)

Diesen Herausforderungen hat sich Europa heute zu stellen, will es nicht im Laufe der Historie unserer näheren Zukunft als gescheiterter versuch ad acta gelegt werden. »Das kollektive Selbstbild der EU steckt in einer tiefen Wertekrise, in der der Einsatz für Menschenrechte und die Sorge um die eigene Sicherheit als unvereinbare Ziele erscheinen« (S. 154), schreibt Assmann und mir – als überzeugte Europäerin – ist es ein Anliegen, auf das Verb ihres Nebensatzes hinzuweisen: ›Erscheinen‹ trägt den Trug in sich, das Scheinbild; es verweist auf die Erfahrung, dass manches, das wahrnehmbar wird und sich in einer bestimmten Weise darstellt, nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss: Denn die Geschichte Europas bestätigt, dass die eigene Sicherheit und das eigene Wohl immer nur mit einer Einmahnung der Menschenrechte im globalen Kontext Hand in Hand gingen!

Um die Wertekrise zu meistern, empfiehlt Assmann den Blick auf die verbindende Geschichte, im Verein mit Empathie und Selbsterkenntnis. Nur wenn in die Mitte des europäischen Sternenkreises erneut die vier Lehren – Friedenssicherung, Demokratisierung, Erinnerungskultur und Menschenrechte  – gestellt werden, wird die EU als »[gewünschte] Einheit in der [gewollten] Vielfalt« (Vgl.: S. 77) weiterbestehen können. Unser »Nie wieder!« – auch als Abwendung von nationalistischen Träumereien – ist ja nicht bloß ein moralisch gestützter Imperativ auf Basis unserer Geschichte, sondern vor allem eine gewollte und klare Richtschnur für Europas Zukunft (S. 54).

Man mag dieser Publikation einiges vorwerfen, den deutschen Blick, zum Beispiel. Oder auch das etwas unklare Konzept der Fallbeispiele, die beliebig wirken, die Mischform aus essayistischem Sachbuch sowie – ja, durchaus – den dafür erhaltenen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der eben immer auch ein Politikum ist. Wer sich von Assmann eine umfassende Analyse mit Wegweisern und Handlungsdirektiven erwartet, wird enttäuscht werden. Wer hingegen Denkanregungen sucht, wird in »Der europäische Traum« fündig werden; selbst wenn auch diese Rezipient*innen einräumen mögen, sie hätten sich mehr kontroversiellen Mut erhofft  und eine klarere Analyse der Wertekrise Europas, die dringend einer Bearbeitung harrt.

Statt einer Rückkehr zu unzeitgemäßen nationalen Träumen, die seit jeher nur den Alb für alle anderen und final auch für die Nation selbst brachten, sollten wir so viel geistige Weite aufbringen, im Buch der europäischen Geschichte ein neues Kapitel aufzuschlagen. Es wird jedoch nur dann gelungen erzählt werden, wenn sich der Blick in die Zukunft mit dem Blick auf die Vergangenheiten eint; und hierbei sind nicht bloß die ›großen Kapitel‹ zu fokussieren, sondern wir sollten auch jene Abschnitte emphatisch ins Auge fasst, die vielleicht nur manche Mitgliederstaaten oder einzelne Bevölkerungsgruppen in ihnen betreffen. Des Weiteren tut aktives Handeln not: »Eine Staatsform lässt sich austauschen, ein Staatsvolk dagegen nicht. Dabei braucht eine Demokratie für ihr Bestehen eben auch Demokraten und nicht bildungsunwillige Untertanen oder korrupte Eliten.« (S. 35) Gegen beide sogleich aktive Schritte zu setzen, in Bildungspolitik und politische Bewusstseinsarbeit Zeit sowie Geld und Elan zu investieren, um energisch, gemeinsam und feinsinnig-aktiv unseren europäischen Traumes weiter auszugestalten, das könnte durchaus das nächste und dringend nötigte Kapitel im Buch Europas werden!

 

 

Quelle: 

Aleida Assmann: Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte. München: C.H. Beck 2018.