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Loß »Und andere Formen menschlichen Versagens«. Oder: ein Lektüretipp für die Feiertage

 

Das Strukturprinzip des Episodenromans ist nicht neu; ebenso wenig die Idee, ihn rund um eine Figur zu konzipieren, die einzig als abwesende vorkommt und hierdurch dominant wird. Beides kennt Tücken und großartige Möglichkeiten, welche in der jeweiligen Form selbst begründet liegen. Wie gesagt, nichts Neues; doch was Lennardt Loß in »Und andere Formen menschlichen Versagens« (Weissbooks) daraus macht, ist innovativ und überzeugend: Er gruppiert seine Episoden um ein klassisches unerhörtes Ereignis: Flug LH 510, eine Boeing auf dem Weg nach Argentinien, stürzt über dem Meer ab, das Wrack bleibt verschollen. Gemeinhin wird kolportiert, es gäbe keine Überlebenden, doch wie der Leser und die Leserin aufgrund von Episode 1 ahnen, könnte es sein, dass die Nebenfigur jenes Handlungsabschnitts – eine junge Frau namens Marina – möglicherweise noch am Leben ist. Jedenfalls treibt sie am Ende jenes ersten Erzählabschnitts, der mit 1992 datiert ist, an den Sitz 9A geklammert, im Südpazifik. Sie geht als Siegerin des Gerangels um diese ›Boje‹ hervor, während ihr Kontrahent Hannes Sohr viel zu viel Salzwasser schluckt … In den nachfolgenden Episoden, die den Zeitraum bis 2012 umfassen, begegnen wir weiteren Protagonist*innen aus Marinas Umfeld. Sei es, weil sie ihnen früher einmal etwas bedeutet hat oder weil ihr Verschwinden im Meer in deren Leben eine Spur hinterlässt, was nicht unbedingt das Gleiche bedeutet, doch viel mehr soll an dieser Stelle nicht über den Inhalt verraten werden, denn der Spannungsbogen jeder einzelnen Episode ist eines Kriminalromans würdig und kann durchaus auch auf diese Art während der Lektüre genossen werden. Plot Points, Cliffhanger sowie Plot-Twists tragen das Ihre dazu bei, dass das Lesen vergnüglich bleibt. 

All dies wäre nichts Besonderes und würde den Roman kaum von einer gelungenen TV-Serie unterscheiden, wäre da nicht Lennardt Loß’ Vorliebe für das Strukturelement Zeit, mit dem er überzeugt: Gekonnt verwebt Loß in jedem Abschnitt mehrere zeitliche Ebenen, sodass sich ein dichtes Geflecht des Lebens der Protagonist*innen in wenigen, mitunter eher skizzierten, denn gezeichneten Strichen abbildet. Dargestellt werden nur Momente ihres Seins. Hierdurch gelingt ihm, was der Episodenroman als Erschwernis mit sich bringt, gekonnt zu umschiffen. Dem Autor bleibt bei dieser Struktur – gleich einem Karikaturisten – eben nur Zeit für rasche Striche. Ein Eindringen in die psychischen (Un-)Tiefen der Figuren kann bei dieser Form kaum versucht werden; aufgrund der raschen Wechsel der Erzählfäden ist dafür kein Raum im ›Erzählkoffer‹ vorhanden. Dass Loß’ Debüt daher als leichtfüßiger Lektüregenuss daherkommt und auf den ersten Blick sprachlich nicht viel zu bieten hat, soll einen nicht dazu verführen, »Und andere Formen menschlichen Versagens« geringzuschätzen. Es bedarf eines Lesenden, der sich Zeit für die Lektüre nimmt und der sich erst im Rückblick auf dieses Erzähluniversum in seiner Gesamtheit  ein Urteil bildet. Ansonsten würde er oder sie der oberflächlichen Spannungsstruktur des Textes auf den Leim gehen. Die dargestellten Momente des Seins dieser liebenswert-menschlichen Versager verweisen aber auf weitaus mehr hinter der Oberfläche des Werks. Mir dünkt, von Lennardt Loß, Jahrgang 1992, darf noch einiges Interessantes erwartet werden, und ich, jedenfalls, bin gespannt, womit er uns das nächste Mal überrascht. Bis dahin aber sei Ihnen »Und andere Formen menschlichen Versagens« zur Lektüre empfohlen. Und Julia Borgwardt ein Kompliment für die stimmige Covergestaltung ausgesprochen!