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Henry James »Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren«. Oder: Von fixen Ideen, Gerüchten und ihrer zerstörerischen Kraft

Zwei Erzählungen, die sich aus mehreren Gründen zur Gegenüberstellung anbieten und die beide um die Ingredienzien Vermutung, Gerücht, Halbwahrheit und fixe Idee kreisen, sind »Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren« sowie »Die Eindrücke einer Cousine«. Beide sind im Stil der persönlichen Nachricht an das eigene Ich verfasst: Das »Tagebuch« wird von einem älteren Herren notiert, der seine einstige Jugendbildungsreise nach Italien wiederholt. Zufällig begegnet er der erwachsenen Tochter der ehedem geliebten Frau, die sich vor vielen Jahren für einen anderen Heiratskandidaten entschied – gleichfalls ein häufig wiederkehrendes Motiv bei James. Wiewohl die einst Angebetete mittlerweile verstorben ist, bleibt der Ich-Erzähler vor Ort und mengt sich in das Leben der jungen Frau ein. 

»Die Eindrücke einer Cousine« hingegen stammen – so das Erzählsetting – aus der Feder einer ältlichen Verwandten, die bei ihrer jüngeren, reicheren Cousine lebt, um dieser Gesellschaft zu leisten. In ihrem Tagebuch darf die ›alte Jungfer‹ alles artikulieren, was sie sonst zu schlucken hat. Ausgiebig karikiert sie zu des Lesenden Erheiterung ihre Umwelt, so wie sie sonst die Welt mit einem gespitzten Zeichenstift einfängt:

 

Obwohl sie sich zwar nur bedingt als bildende Künstlerin tituliert, liebäugelt sie trotzdem mit diesem Nomen – und wird in kleinen, dargestellten Szenen so auch selbst zu einer dreidimensionalen Protagonistin. Ihr unverhohlen zu Tage tretender Antisemitismus bedingt, dass sich der Lesende am eigenen Auflachen verschluckt und zeigt dennoch – und wohl ungewollt – ausgezeichnet, wie sich Wissen und Halbwissen miteinander verschlingen, um wohlgenährt durch Gerüchte zum ablehnenden Hass zu werden. 

Während der Inhalt dieser beiden Erzählungen vordergründig um den gleichen Themenkreis zirkuliert – die Liebe, die Partner*innenwahl, welche stets von außenstehenden Beobachter*innen betrachtet wird –, so fällt doch sogleich ein relevanter Unterschied auf: Der Erzähler des Tagebuchs ist ein bitterer Skeptiker, überzeugt davon, dass die junge Comtessa, wie ihre Mutter, dem britischen Bewunderer nichts als ein gebrochenes Herz bringe, um danach dessen italienischen Konkurrenten zu heiraten. Die malende Cousine hingegen betrachtet die Welt lieber mit lachendem Auge und spitzzüngigen Kommentaren. Ihr Humor versagt jedoch, als sie Finanzbetrug wittert. Schon der leise Verdacht genügt und sie versteigt sich zur fixen Ideen, sie müsse die ehedem reiche und nun plötzlich verarmte Cousine retten. Der Treuhänder, der bislang mit der Verwaltung des Vermögens betraut war, wird aller nur denkbaren Übeltaten der Welt verdächtigt. 

Weshalb jedoch das verschwundene Vermögen am Ende trotzdem wieder in den Händen der Cousine liegt, das wird dem aufmerksam Lesenden, der dieser Erzählerin nicht auf den Leim geht, ewig eine Frage bleiben und niemals Faktum werden. Ja, selbst wenn die Tagebuchschreiberin zuvor andeutet, dass sie den Halbbruder des Treuhänders darum bat, er möge aus seinem Reichtum, die veruntreute Summe spenden, kann weder die eine noch die andere erzählte Tat als real gelten, in einer (Erzähl)Welt, die sich primär um die Macht der Gerüchte dreht. Wer es ohne Fragezeichen als gegeben annimmt, hat den Titel (»Eindrücke«) ignoriert und die Erzählsituation nicht hinterfragt: eine Hypothese ist eben nie ein Faktum, selbst wenn sie zum dritten Mal wiederholt wird.

 

Auch in »Die entscheidende Bedingung« geht es darum, wie ein Verdacht zur fixen Idee wird und Leben zerstört: Bertram verdächtigt jene Frau, in die er sich bei der Überfahrt von den USA nach Europa verliebte, eines dunklen Flecks auf ihrer augenscheinlich blütenweißen Weste. Je mehr er jedoch insistiert, sie solle ihm ihr Vorleben gestehen, desto reservierte wird sie. Ihre Rede, dass er bloß warten solle, sechs Monate nach ihrer Hochzeit werde er nicht mehr nach ›dunklen Flecken‹ suchen, stachelt seinen Argwohn bloß noch mehr an – bis sie von seiner Obsession genug hat und die Verlobung löst, um sich wenig später mit Bertrams Freund Henry Chilver zu verheiraten; denn Henry kann, was Bertram nicht konnte: vertrauen. 

Jahre danach treffen die drei erneut aufeinander – während Henry und seine Frau ein glückliches Paar sind, ist Bertram frühzeitig gealtert, hat sich in Grübelei verzerrt. Selbst jetzt kann er nicht anders, er beharrt auf einer Antwort auf seine alte Frage: Was habe sie sich zu schulden kommen lassen? Denn Monat um Monat habe er auf der halben Welt eine Antwort gesucht und keine Spur ihres Vorlebens je gefunden. – Dieses Mal antwortet Mrs. Chilver ihm: Er habe die Antwort also doch gefunden, denn sein Nichts sei sie, eine andere gebe es nicht. – Und könnte er wie Rumpelstilzchen im Märchen zerplatzen, Bertram bräuchte keine drei Sekunden, damit seine eifersüchtigen Fetzen flögen. Schade um ihn? Wäre es nicht gewesen. Henry aber entzieht sich all den Gerüchten, den Verdächtigungen und Deutungen: »Er denkt von mir, was ich für ihn bin!«, sagt seine Frau über ihn. – »Das«, so ließe sich mit einem Zitat aus dem »Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren« kontern, »das ist wirklich eine bezaubernde Entdeckung für einen Mann [s]eines Alters!« 

 

Quelle:

James, Henry: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren. Zürich: Manesse Verlag 2015.