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Olga Tokarczuks »Verlorene Seelen«. Oder Zu Hause sitzen & warten.

Der Inhalt der Geschichte selbst ist altbekannt: Ein Mensch, der von einem Ort zum nächsten reist, sollte bei seiner Ankunft tunlichst nichts anderes tun, als geduldig zu warten, bis auch seine Seele eintreffe. Eine Erkenntnis, die gemeinhin nomadischen Indianer*innen zugeschrieben wird und daher auch der Ingredienz des Ritts auf einem Pferd nebst eines Nebensatzes bedarf, dass die Seele eben nicht mit 1PS unterwegs sei.

Olga Tokarczuk macht aus dieser alten Weisheit die Parabel eines zeitgenössischen Mannes, der in Hotels lebt. Wie so viele andere ist auch er, beruflich bedingt, ständig unterwegs von A nach B, mag sein Leben, arbeitet sogar nicht ungern. Alles ist wunderbar, bis er eines Morgens aufwacht, ahnungslos, wo er sich befinde, ahnungslos auch, wer er sei. Selbst seinen eigenen Namen, ihm entschwunden, hat er im Reisepass nachzulesen. Die Ärztin, die er daraufhin besorgt aufsucht, stellt ihm ohne zu zögern die vernichtende Diagnose ›Seelenverlust‹, hervorgerufen durch allzu rasche Ortswechsel. Sie rät ihm, er möge Zuhause sitzen und warten, anderes könne er zu seiner Gesundung nicht tun; und falls er Glück habe, werde seine Seele ihn irgendwann finden.

Daraufhin verändert der Mann sein Leben von Grund auf. Er »findet«, so heißt es im Erzähltext, ein Haus am Stadtrand, setzt sich dort auf einen Stuhl und wartet. Tage, Wochen, Monate, vielleicht gar Jahre vergehen; sie bedürfen keiner Sätze, sondern sein schweigsames Verharren wird in achtzehn stillen und dennoch beredt detailreichen Bildern erzählt, die in Wahrheit den Reichtum dieser kleinen Geschichte ausmachen. Während links die Erinnerung dargestellt ist, zeigt die rechte Seite seinen Prozess des Verharrens:

Der Bart wird länger, die Teekanne füllt die Tasse, ein Kaninchen hockt auf dem Tisch, das Haupthaar wächst, ein Hirsch sitzt auf dem zweiten Stuhl daneben, der Fernseher läuft, der Fernseher verschwindet, ein Brief kommt, ein Brief wird gelesen, eine Pflanze wächst … 

 

Bis eines Nachmittags jemand auf der Schwelle steht: Ein kleines Mädchen, mit Pagenkopf und kariertem Mantel, »müde, schmutzig und zerkratzt. ›Endlich‹, sagte sie atemlos.«

Ja, seine verlorene Seele ist weiblich und höchstens zehn Jahre alt. Während ihre Augen erwartungsvoll hinter grünem Pflanzendickicht hervorblitzen, ist des Mannes Blick vorerst trotzdem unverändert müde noch. Dann aber erhalten die Erinnerungen Raum, Photos führen in die gemeinsame Vergangenheit, knittrig sind diese Erinnerungsbilder, eisig verhaucht, man wendet das Blatt, und langsam fügt sich Vergangenheit zu Gegenwart: Die Kälte ist gewichen. Farbigkeit füllt plötzlich den bekannten Wohnraum des kleinen Hauses: Der Teppich ist bunt geworden, das Mäntelchen rot-weiß kariert, das Mobiliar weist eine lebhafte Holzmaserung auf und grüne Topfpflanzen wuchern allüberall statt vorherig starren Grau; dazwischen aber winzig klein am Boden, nur dem aufmerksamen Blick präsent, die Hirschfigur, ein Schnitzwerk. 

Nun aber ist es an der Zeit für »… und sie lebten glücklich …«, ebenso wie für das explizite Aussprechen der Moral dieser Geschichte: Man achte darauf, dass kein Burnout einen ereile; oder wer es – wie ich – lieber nicht Neudeutsch mag: Man trage Sorge, dass die Seele bei allem, was man tue, Schritt halten könne.

Seine Uhren vergräbt der Mann im Garten um das kleine Haus, ebenso die Koffer, und bald schon sprießen aus ihnen vielfärbige Blumen und Kürbisse, sodass sie nun »in all den ruhigen Wintern« immer genug zu essen haben, seine Seele und er, und damit endet die Geschichte, die sprachlich mit großer Knappheit auskommt. Einige wenige Sätze, die im Duktus ihrer Behauptungsreihe durchaus an Märchen oder Sagen erinnern: So ist es und nicht anders.

Die Schönheit dieses schmalen Buches aus dem Kampa Verlag beginnt bereits beim Cover. Der Buchtitel ist eingeprägt, die Finger erfahren haptisch die Leere, den Verlust der Seele, welche Spuren hinterlässt. Der Shabby Chic, der uns in seine Geschichte des Lang-lang-ist’s-her entführt, beginnt bereits in den scheinbaren Gebrauchsspuren des Covers, zieht sich über die Illustrationsart, die uns suggerieren will, diese Zeichnungen der Künstlerin Joanna Concejo seien nur flüchtig auf kariertem Papier entworfen. Implizit verweist diese Papierwahl auch darauf, in welcher Enge sich unser Sein und Denken bewegt, in welchen Kästchen wir denken, wenn wir unbedingt ›zeitgenössisch‹ leben wollen, statt uns zu fragen, was uns gut tut.

Und zeitgleich nehmen wir war, dass diese Illustrationen wahre Kunstwerke für sich sind. Sie bedürfen des langsamen Schauens, der Versenkung des Blicks im Wahrnehmen aller Details auf einer Buchseite, des Blätterns zurück und nach vor, um ihre bildliche Erzählung zu verstehen; um diese Geschichte in allen uns offerierten Dimensionen zu erleben.

 

Ja, auch das kann Lektüre sein und bieten: Ein kontemplatives Versenken, eine zur Ruhe führende Entschleunigung, eine Ermunterung für das eigene Sein, lässt man sie zu! Und so kommentiert indirekt das Bild den Text, erzählt mehr als das Wort, verwebt sich damit zu einem tragfähigen Teppich, der uns in eine andere Welt entführt, in der Sitzen, Warten, Tee trinken zur Realität werden.

Gerade in unserer Gegenwart, in der derzeit mitverordneten Entschleunigung, die viele wohl zuerst ob ihrer unabsehbaren Konsequenzen als Stress erleben, alsdann in Ohnmacht, die Existenzsorgen zu schlaflosen Nächten verdichtet, gerade in dieser unserer Gegenwart dünkt mir dies beeindruckend schöne Buch wie ein Geschenk zur rechten Zeit!