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Olga Tokarczuk »Der liebevolle Erzähler«. Oder: Dem Fragment vertrauen. Essays zum Nobelpreis

Aus dem bekannt sorgsam gestalteten Design des in der Schweiz beheimateten Kampa Verlages stammt diese Buchschönheit mit dem Tiel »Der liebevolle Erzähler«, der neben einer Chronologie der Ereignisse auch zwei Essays der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk enthält, die vor allem eines zu sein vermögen: Denkanregungen, wertvolle Anstöße zu eigener Reflexion. 

 

Ergänzt wurde der schmale Band außerdem mit einem biographischen Abriss dieser 1962 geborenen Literatin, der ein internationaler Durchbruch bereits mit ihrem dritten Roman »Prawiek i inne czasy« (»Ur und andere Zeiten«) gelang. Wen sollte es also wundern, wenn einer der beiden Essays dem Thema des Übersetzens und der Rolle der Übersetzerinnen und Übersetzer als Weltvermittler gewidmet ist, sind sie es doch, die uns Lesenden Einblicke in andere Sprachwelten ermöglichen und uns obendrein begreiflich machen, dass die uns jeweils bekannte Welt nur eine mögliche von vielen ist. Die Prämisse der ansonsten existenten Enge des Denkens mag mancher für sich sogleich kritisch abwehren, doch sollten wir nicht vergessen, dass es selbst in unserer globalisierten Welt, in der Reisen und Mehrsprachigkeit – abgesehen von Ausnahmezeiten – Alltag geworden sind, durchaus noch manche Landstriche gibt, deren verschriftlichte Idiome uns nichts anderes zu sein dünken als zierliche Ornamente und deren Kulturraum uns bis heute kaum aus eigener Begegnung bekannt ist.

 

Übersetzerinnen und Übersetzer, so Olga Tokarczuk, haben obendrein drei weitere wesentliche Funktionen: Historisch betrachtet waren sie es, denen wir die Rettung vieler Schriftwerke der Antike verdanken: Was im 8. Jahrhundert in Bagdad ins Arabische übertragen wurde, überlebte diese Krisenzeit, um im Frühmittelalter in Toledo aus dem Arabischen rückübersetzt zu werden. Ohne die Arbeit der Translator*innen wären jene Werke der Griechen und Römer verloren gewesen. 

Für zeitgenössische Autorinnen und Autoren haben ihre Übersetzerinnen und Übersetzer zudem die Funktion, ihnen den Rücken zu stärken, denn sie stehen – wie zuvor der oder die Schreibende – gleichfalls bejahend hinter einem Werk, mit dem sie sich stundenlang, Tage, Wochen, Monate befassen.

 

Olga Tokarczuks positivem dritten Teilaspekt kann ich, als Vergleichende Literaturwissenschafterin, nur begrenzt zustimmen: Anhand von Montaignes »Essais« argumentiert Tokarczuk auch die Rolle des Übersetzenden als Vermittler, da er oder sie, gleich einem Gärtner, einer Gärtnerin das Werk verjünge, was dazu führe, dass ältere Arbeiten in der Übersetzung für uns Spätgeborene einfacher zu lesen seien als in ihrer Originalsprache und manchmal deshalb auch im fremdsprachigen Raum regere Rezeption erfahren. Das mag durchaus so sein, doch ich frage mich, inwieweit liest man dann noch Montaigne, um beim Beispiel zu bleiben, und nicht einen sprachlich verfälschten Text, dessen Gedankenkonstrukt zwar von Montaigne stammt, die Sprachvariante aber diejenige des verjüngenden Übersetzers ist.

Wir kennen die Debatte ja auch bei Anpassungen der Orthographie älterer Werke. Mir geht bei solchem Einheitsstreben nicht bloß die historische Dimension verloren, sondern auch zu viel an geistiger Arbeit, da sich eine Begegnung mit einem älteren Werk durchaus auch durch einen kompetenten, ergänzenden Kommentar zum erfreulich angenehmen Spaziergang gestalten lässt …

 

Solch ein angenehmer Spaziergang dünkt mir vor allem die Nobelpreisrede Tokarczuks, in der zentral jener Gedanke steht, den wir unter ›erzählerische Gerechtigkeit‹ subsumieren: die Notwendigkeit eines liebevoll, aufmerksamen Blicks auf unsere Charaktere in einem Erzähluniversum. Erst dieser ermöglicht es dem Lesenden, die Welt im literarischen Kunstwerk gleichfalls achtsam wahrzunehmen. Es ist ein Blick, der »nach Gemeinsamkeiten« sucht, um so »ein anderes Sein anzunehmen und aufzunehmen, in seiner Zerbrechlichkeit, seiner Einzigartigkeit, seiner Wehrlosigkeit gegen Leiden und das Wirken der Zeit«, schreibt Olga Tokarczuk. Denn in der Literatur geht es stets darum, dem Fragment zu vertrauen und in Bruchstücken das große Ganze des Lebens und Seins aufzunehmen, deshalb ist sie auch in herausfordernden und schwierigen Zeiten so tröstlich!