· 

Bram Stokers »Dracula«. Oder: Ein Kolportageroman, der Literaturgeschichte schrieb.

Vlad
Vlad

Für eine Karriere im 19. Jahrhundert war Bram Stoker nicht wirklich prädestiniert; als Kind ewig kränklich, jahrelang des Gehens unfähig, wieder und wieder von den Ärzten zur Ader gelassen. Nach seinem Abschluss am Trinity College in Dublin, er hatte vor allem die Studienfächer Mathematik und Physik belegt gehabt, war er im öffentlichen Dienst tätig und schrieb nebenbei unbezahlte Theaterkritiken für eine Zeitung. Diese beeindruckten Sir Henry Irving (1838-1905), einen damals überaus geschätzten Schauspieler der viktorianischen Epoche, derart, dass jener ihm anbot, sein sowie des »Lyceum Theaters« Manager zu werden.

Nebenher schrieb Bram Stoker weiterhin. Seine Sammlung von Kurzgeschichten für Kinder, 1882 unter dem Titel »Zu Sonnenuntergang« publiziert, interessierte kaum jemanden. Ebenso wenig die Gruselromane, die er Feierabends schrieb. Es waren mehrheitlich rasch hingeworfene Plots – bis ihn ein Stoff wahrhaftig packte, der Literaturgeschichte schreiben sollte:

Unter dem Arbeitstitel »The Undead« konzipierte Stoker, angeregt durch diverse bereits existente Stoffe, die Geschichte eines Untoten, der seinen Zustand in der Welt zu verbreiten trachtet, indem er sich Macht über andere Menschen verschafft, sie gleich einem Virus mit seinem Biss und seinem Blut infiziert, sie zu seinen willfährigen Untertanen macht und ihr Bewusstsein beherrscht.

Sieben Jahre habe Bram Stoker an jenem Roman gearbeitet: Verankerte seine Vampir-Variante an einer historischen Figur, die er während eines Ferienaufenthalts in Whitby in den frühen 1890er Jahren in Büchern entdeckte: Vlad III. Dracul, genannt Draculea oder Dracula (was nichts anderes als ›Sohn des Dracul‹ bedeutet), war ein Fürst aus der rumänischen Walachei, der im 15. Jahrhundert lebte, und für seinen manifesten Widerstand gegen das Osmanische Reich sowie gegen jedwedes Eindringen der Türken berühmt berüchtigt war. Feinde schickte er vorzugsweise durch Pfählung ins Jenseits.

Da Bram Stoker für alle Figuren sprechende Namen nutzte, lohnt sich ein zweiter Blick auf des Grafen Eigenname: Im Rumänischen meint das Wort ›Dracul‹ den ›Teufel‹; die etymologische Ableitung spricht aber andererseits von ›Dragolea‹: Dies ist eine Verkleinerungsform zu ›drago‹, ›Liebe‹, was wir heutzutage vor allem im männlichen Vornamen ›Dragos‹ kennen. Ob Bram Stoker diese Doppeldeutigkeit ein Begriff war, ist nicht belegt.

Gleichfalls lässt sich nicht eindeutig beantworten, welche der zuvor bereits tradierten Vampirgeschichten Bram Stoker gekannt hat. Vermutlich manche Legende, die sich um den historischen Vlad rankte. Gut möglich, dass er zudem die weiterentwickelte Kurzgeschichte »The Vampyre. A Tale« (1819) gelesen hatte, die John William Polidori, Arzt, Schriftsteller und Byron-Freund auf Basis einer Idee Byrons verfasst. 

 

Exkurs I: 

Hintergrund dieses Ideenaustauschs ist der sonderbare Wettbewerb vom 16. Juni 1816, den Byron, Mary Shelley, Percy Shelley und Polidori sich erdachten und der aufgrund der Arbeit einer Frau in die Literaturgeschichte einging: Nachdem diese Literat*innen einander deutschsprachige Geistergeschichten in französischer Übersetzung vorgelesen hatten, beschlossen sie, denjenigen preiszukrönen, der das beste Gruselpendant in englischer Sprache schaffen könne, was Mary Shelley bekanntlich zu »Frankenstein« inspirierte; und Polidori nach einer Skizze Byrons zu »The Vampyre«.

 

Vermutlich kannte Bram Stoker auch Joseph Sheridan Le Fanus Novelle »Carmilla« über eine feminine Vampirin, die gleichfalls ausschließlich Frauenblut trinkt. Als gesichert hingegen gilt die Spur, die sich aufgrund Bram Stokers Plagiat eindeutig belegen lässt: Er schrieb ganze Passagen aus der Erzählung Guy de Maupassants »Le Horla« ab.

 

Technik & Forschung vs. Aberglaube

 

Stoker, einer der ersten Schriftsteller, der eine Schreibmaschine benutzte, etablierte in seinem Vampirroman eine auffallende Gegenüberstellung zwischen Fortschrittsglaube und düsteren Kapellengewölben: So wird die Handlung einerseits von Telegraf, Phonograph, Wissenschaft und Schreibmaschine beeinflusst. Im Kontrast dazu finden sich andererseits Aberglaube, Knoblauchblüten, geweihte Hostien und Kruzifixe. Subsumierend könnte man mit Van Helsing sagen: Wo die moderne Medizin versagt, schadet archaischer Exorzismus auch nicht.

Die zweipolige Gestaltung zeigt sich auch in den Orten: Das pulsierende London, in dem vor allem auffallend viele Polizisten unterwegs sind, steht einem ruralen Schloss gegenüber, halbverfallen im transsilvanischen Nirgendwo, dessen Umgebung von Wölfen dominiert wird. Eine Gegend, die Bram Stoker mit recht rauen ›Zigeunern‹ und Slowaken bevölkert, vor allem seine ›Zigeuner‹ sind überaus stereotyp gestaltet. Im Gegensatz dazu bekommen Rumän*innen und Ungar*innen eine zivilisiertere Rolle zugeschrieben: Wird ein Rumäne, eine Rumänin eingeführt, darf man sich sicher sein, sie heben sogleich die Hand, die Finger zur Abwehr des bösen Blicks von sich gestreckt, sie ahnen alles Unheil und entziehen sich diesem gekonnt. Und die Ungar*innen? Sind allesamt Krankenpfleger*innen! Sie sind obendrein die einzige Ausnahme hinsichtlich der Assoziationskette, dass der Osten Europas im Aberglauben verhaftet, gefährlich und unwegsam sei. Budapest wird in diesem Roman als kulinarische Hochburg, als Hort solidarischer Fürsorglichkeit und letzter Ort der Zivilisation gefeiert. Etwas weiter im Osten haust der Geldverleiher – und der ist natürlich ein Jude, eh klar, jedes Klischee hat im Kolportageroman bedient zu werden, nichts anderes ist »Dracula«; wenn auch ein sonderbarer mit Verlaub.

 

Woher kommt die willensstarke Entschlossenheit?

 

Was an diesem Roman frappiert, ist nämlich die höchst eigenartige Ausgestaltung der Frauenfigur. Nicht von Lucy soll dabei die Rede sein, der Lieben, Schönen, der Nachtwandlerin – wir erinnern uns, Lucy heißt ›die Leuchtende‹ –, die in Arthur Holmwood (Adler Inselholz) unsterblich verliebt ist, sodass sie keinen der anderen beiden Werber erhören will, bis endlich ebenjener Arthur Mann genug wird, um das Hochzeits-Wort zu ergreifen, zwischendurch muss sie vor Rührung ein wenig flennen, bevor sie – schwuppdiwupp – von Dracula gebissen wird. Was ihre Freunde zur Bestform an ritterlicher Männlichkeit auflaufen lässt – fragil dahinsterbende Weiblichkeit, der Schwindsucht nicht unähnlich – hat schließlich gerettet zu werden. Allen voran wird Arthur aktiv, unterstützt von Werber zwei (Dr. John Seward / JHWH ist gnädig, ein Beschützer der Küste) und Werber drei (Quincey Morris / der Fünfte, der Dunkelhäutige). Was die Herren auch tun, wen sie auch dazu holen (Dr. Van Helsing (der aus der schwedischen Provinz Hälsingland stammt), es hilft nichts: Lucy stirbt – übrigens an ihrer Mutter Handeln, selbst wenn der alten Dame dafür wahrlich kein Vorwurf zu machen ist. Schließlich hat das maskuline Quartett – der fünfte Mann, ein Anwalt namens Jonathan (Geschenk Gottes), ist bereits dazu gestoßen – die Herzkranke unbedingt schonen wollen, sie über keinen einzigen Schritt oder Gedanken informiert, sodass sie den Bannzauber in Form von Ketten aus Knoblauchblüten unwissentlich zerstörte. Vor Schreck über Draculas sogleich erfolgendes Auftauchen steht der Mutter jedenfalls das kranke Herz still, und sie ist somit Geschichte. Auch Lucy wird daher zur Kinderblut trinkenden Untoten.

Dass sie ihren Hunger an Kindern stillt, ist bedeutsam, wenn man bedenkt, dass Graf Dracula selbst nur das Blut erwachsener, junger Frauen trinkt und diese zum Akt der ›Vermählung‹ quasi zwingt, gleichfalls sein Blut zu trinken. Nicht an seinem Hals, sondern an der Brust; durchaus eine Nachahmung des Stillaktes also, mit dem er seine ›Kinder‹ in die Schar seiner Nachkommen aufnimmt, ihnen gleichsam ›Mutter‹ wird.

 

Exkurs II:

Das Kinderblut, welches sich Lucy einverleibt, weckt hingegen auch die Assoziation zur antisemitisch getönten Mär, die sich auf jeden Fall im deutschsprachigen Raum höchst vehement hielt, dass Menschen mosaischen Glaubens Kinderblut für ihre Rituale bräuchten. Spätestens an der Stelle fällt einem Graf Draculas hagerer Körperbau, die Hakennase, die blasse Gesichtsfarbe, das wehende Mantel-Element seiner Bekleidung sowie seine Herkunft aus dem Osten wieder ein.

An einer späteren Stelle wird es im Rahmen der Debatten darüber, wie denn Graf Dracula zu vernichten sei, heißen: »Der Graf ist ein Krimineller, und zwar ein typischer Krimineller [...]. Nordau und Lombroso würden ihn in dieser Weise klassifizieren, und als Krimineller ist er auch von nachrangiger Intelligenz.« Des Weiteren heißt es über den Grafen, dass er ein ›Kinderhirn‹ habe, weshalb er »sein Heil in alten Gewohnheiten« suchen müsse, denn Gewandtheit zeichne folglich seinen Geist nicht aus.

Wer jene beiden Namen, Nordau und Lombroso, nachschlägt, landet bei zwei Forschern, die in ihren Werken den ›Entarteten‹ als ›parasitären Schmarotzer‹ darstellen. Schon stecken wir in unserer Assoziationskette erneut in ebenjenen Bildern, die in späteren Jahren dazu genutzt wurden, um die sogenannte Rassentheorie zu stützen und die Menschen in Klassen einzuteilen, deren ›Wert‹ über ihre Überlebenschancen entscheidet. ›Typischer Krimineller‹, ›Kinderhirn‹, Einwanderer aus dem Osten – das klingt uns alles sogleich verdächtig, wir dürfen aber dennoch keine vorschnellen Urteile ziehen. Max Nordau, aufgewachsen im habsburgerischen Pest, Sohn des Rabbiners Gabriel Südfeld, legte mit seinem Werk »Entartung« zwar Thesen vor, welche die Nazis jedoch in ihrem Sinne verfremdet und zu ihren Zwecken nutzten.

Nordau selbst ging es vor allem darum, vor den Gefahren der technisierten Zeit zu warnen, da fortwährende Arbeit und ewiger Maschinenlärm das menschliche Gehirn und Nervensystem überanstrengen würden. In seinen Augen waren Literat*innen übrigens eine besonders gefährdete Berufsgruppe. Er stufte sie als ›Graphomanen‹ ein, die nicht anders agieren könnten, interpretierte ihre Werke als ›Ausgeburten eines zerrütteten Gehirns‹, welches durch viel zu viel Schreibarbeit und Lektüre zuerst ermatte, alsdann an Nervenkrankheiten leide. Leider würden sie diese auch an ihre Nachkommen vererben, so Nordau, und das fortwährende Unterwegs in der Eisenbahn sei sowieso höchst schädlich, die ewige Erschütterung verursache ein ›Eisenbahn-Gehirn‹.

Manches davon dünkt uns wohl eindeutig überzogen, vielleicht komisch sogar, dennoch sollten wir Nordau nicht arrogant belächeln, sondern uns dessen bewusst sein, dass in heutiger Burnout-Prävention durchaus Lärm ein Faktor ist, unbegrenztes Arbeiten bedenklich erscheint und insbesondere Literat*innen keine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit kennen. Und was das ›Eisenbahn-Gehirn‹ betrifft, nicht das Rattern und Rütteln lässt eine Wirkung zurück – vermutlich war es einst heftiger –, sehr wohl aber verwirrt uns ewiges Unterwegssein. Wer je einmal ein, zwei oder Drei Wochen von Stadt zu Stadt tingelte, an keinem Ort länger, denn ein paar Stunden, wird das morgendliche Gefühl kennen, irgendwo aufzuwachen, und nicht mehr zu wissen, wo man sich befindet. 

Teil dieses kleinen Exkurses sei außerdem der Hinweis, dass Nordau recht hellsichtig auf eine Grundtendenz des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits verbreiteten Antisemitismus hinwies: »Die deutsche Hysterie gibt sich im Antisemitismus kund, dieser gefährlichen Form des Verfolgungswahns, in welcher sich der für verfolgt Haltende zum wilden, des Verbrechen fähigen Verfolger wird.« Ergänzend müsste man hinzufügen, dass sich sein Adjektiv ›deutsch‹ mE durchaus mit anderen Nationaliäten ergänzen lässt. 

Michaela Wünsch schlussfolgert in ihrer Analyse des Romans »Dracula«, dass »[d]iese Beschreibung […] [Nordaus außerdem] auf die zu[trifft], die sich von dem Vampir verfolgt fühlen und vor nichts zurückschrecken, um ihn zu vernichten. Aber man kann bezweifeln, ob sich Stoker dieser Assoziation bewusst war.« 

Zum Abschluss dieses Exkurses soll festgehalten werden, dass Bram Stoker in seinen Romanen zahlreiche der Thesen, Theorien und gesellschaftlicher Tendenzen aufnahm, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert wurden, sie wild vermengte und seinem Herren-Quintett sowie seiner Protagonistin Mina einverleibte, angefangen von der abwehrenden Haltung gegenüber Osteuropäer*innen, Freuds Hypnose bis hin zum Antisemitismus, der aufkommenden Industrialisierung und neuen kriminaltechnischen Erkenntnissen seiner Zeit, von allem etwas und nichts davon fundiert, könnte man subsumieren.

 

Den gedanklichen Überbau schrieb Bram Stoker insbesondere zwei seiner Figuren ein: Einerseits in den Arzt Van Helsing, einen überaus gebildeten Mann, der obendrein auch altes Volkswissen nutzt, und in Mina. Dass just sie auf Nordaus Schriften Bezug nimmt, das ist höchst sonderbar, wird diese Frauenfigur den Lesenden doch als reine Autodidaktin vorgestellt – und damit sind wir bei dem bereits angedeuteten interessanten zweiten Teilaspekt dieses Werks angelangt: 

Mina wird als handelnde Figur vom maskulinen Quartett auf den Plan gerufen, weil sie Lucys engste Freundin und Vertraute war, also womöglich über ein Hintergrundwissen zu Lucys Tod verfügen könnte. Mina heißt im Grunde genommen Wilhelmine, was nichts anderes als ›Entschlossenheit, willensstarke Beschützerin‹ bedeutet, eine Rolle, die sie in diesem Roman mehr als bloß erfüllt. Ihr Verlobter ist der bereits erwähnte Anwalt Jonathan, der unwissentlich Dracula sein nächstes Domizil verschaffte, ein Haus in der Nähe Londons, direkt neben einer ›Irrenanstalt‹, wie solche medizinischen Kliniken damals noch unverblümt hießen. Für seine Abwicklung des Immobiliengeschäfts bezahlte Jonathan beinahe mit seinem Leben, denn wie später auch Mina verunsicherte ihn das Ungewohnte derart, dass er darüber beinahe selbst verrückt wurde, weil sein aufgeklärter Verstand alles mit seinen Sinnen Wahrgenommene in Zweifel zog: Das altbekannte ›Nicht sein kann, was nicht sein darf‹ kommt hier zu tragen. Es ist Mina, die Jonathan stützt, beschützt; und direkt am Krankenbett in Ungarn ehelicht.

Sobald Mina zum ersten Mal in diesem Erzähluniversum auftaucht, wird in auffallender Art und Weise ihre Klugheit betont, eine Aussage, die sich im weiteren Verlauf des Romans noch steigert: Sie sei so klug wie der klügste der Männer, sagt der Arzt Van Helsing. Sie beherrscht Steno, kann Manuskripte rasend schnell vervielfältigen, weiß mit einem Phonographen nach einem ersten Blick auf das Gerät besser umzugehen als dessen Eigentümer. Aus all dem schließt z.B. der Rezensent Thomas Hettche, sie sei ›Sekretärin‹, und zwar eine, »die sich nach nichts mehr sehnt, als zum Diktat gerufen zu werden.« Eine Formulierung, die eine Pointe setzen will, doch weitaus eher falsche Assoziationen weckt: Mina ist in Wahrheit alles andere als eine Sekretärin, die nach Diktat niederschreibt, was sich ein anderer zuvor erdachte! Das ist ja gerade das Sonderbare an diesem Werk! Sie ist dem ritterlichen Herren-Quintett stets um Schritte voraus, analysiert und verknüpft, was die Männerrunde um sie auch durchaus wahrnimmt und obendrein auch noch mit Anerkennung honoriert. Deshalb dünkt einen die Wendung der Handlung wahrlich absonderlich, wenn die Herrenriege aus englisch-nebeligem Himmel beschließt, Mina müsse geschont werden, all das sei zu viel der Aufregung für ihre überaus zarte weibliche Konstitution, man werde sie deshalb fürderhin lieber von allen Besprechungen und Unternehmungen exkludieren. Eine Reflexion, die zwar durchaus dem damaligen Zeitgeist entspricht, die dennoch die bis dahin etablierte Figurenpsychologie bricht. Erstens der bereits erwähnten Klugheit wegen, zweitens weil die Herren ja zuvor bereits einmal erlebt haben, wozu ihre Heimlichkeit führte: zu Lucys Tod durch Mutterhand. Die Plot-Notwendigkeit, Mina von der Gruppe zu separieren, hätte sich auch durch andere Umstände herbeiführen lassen. Oder sollte gerade der Trugschluss, es schone eine Psyche, werde sie von allen Ereignissen exkludiert und sich selbst überlassen, gebrandmarkt werden? So viel Bewusstsein in einem Kolportageroman? Unwahrscheinlich!

Sei es wie es sei, die Konsequenz davon ist eindeutig: Kaum entschieden, angewiesen auf ihre Beobachtungsgabe und daraus gezogene Vermutungen, verunsichert durch die tagtägliche und allabendliche Weisung, allein zu Bett zu gehen und die Männer ihrer ›Arbeit‹ zu überlassen, wird Mina aus Sorge um die Freunde unruhig und in ihrer einsamen Ruhelosigkeit leichte Beute für Dracula, der nun, nach Lucys Tod, logischerweise frisches Blut braucht. Was dem Quintett – allen voran Van Helsing – wirklich auch hätte einfallen können!

Wenigstens jetzt durchschauen die Herren ihren dummen Fehler, bereuen auch sehr – und wiewohl Mina an dieser Stelle schwach und – verständlicherweise – tränenreich agieren darf, stützt sie eine Sekunde später schon wieder ihren Mann, der ob des Elends, welches Mina erleiden musste, blass und blässlicher wird. Sie ist es, die dem Quintett eine logische Analyse in These und Antithese zur Entscheidungsfindung der nächsten Schritte vorlegt und die vor den Herren ahnt, was des Nächtens passiert: Nicht nur, dass sie sich dem Vampirdasein zu nähern beginnt, sondern auch, dass Dracula in ihre Gedanken dringt, sie zu beherrschen versucht, um so die Gegenpartei auszuspionieren (das war Hettches ›Diktat‹). Mina beginnt – im Verein mit Van Helsing – den Spieß umzudrehen: Sie bittet den Arzt, sie zu hypnotisieren, damit sie in jenem Zustand in Draculas Sein eindringen könne, um den Freunden relevante Informationen zu dessen verborgenem Aufenthaltsort zu verschaffen. Als Van Helsing jedoch beinahe Draculas weißen Frauen verfällt, deren Fähigkeiten denjenigen von Sirenen ähnlich sind, ist es Mina, die aus weiter Ferne seine Gefährdung ahnt und mit ihrem durchdringenden Schrei Van Helsing erneut zu Bewusstsein bringt.

Wer in Heilige und  Hure – oder wie Hettche in ›lebensfrohe Lucy‹ und ›biedere Mina‹ – unterteilt, kann nicht genau genug gelesen haben! Oder sollte analytischer Verstand, Klugheit und Empathie ein Zeichen von Biederkeit sein? Mir mit Sicherheit nicht.

Ja, es ist wahrlich auffallend, wie oft der erwähnte Klugheitsanker in jenem Roman rund um Mina ausgeworfen wird; und das in den späten 1890er Jahren, also zu einer Zeit, in der Männer den Mädchen und Frauen Schulbildung, Studium, politische Beteiligung und Versammlungen ebenso untersagten wie Zeitungslektüre, immer mit Verweis auf drohenden Haarausfall, Verlust lieblicher Rundungen, Gebärunfähigkeit, Nervenkrisen, Schwindsucht und Hysterie. Dies ist einem jeden bekannt, der sich mit der Geschichte des Bürgertums des 19. Jahrhunderts beschäftigt hat. Wie glaubhaft, so frage ich mich, dünkt es einen dann, dass ein irischer Autor namens Bram Stoker, der überwiegend Kolportageromane schrieb, eine Mina in sein Erzähluniversum stellen soll, deren Intelligenz von allen Herren rundum bewundert wird? Mir erscheint das höchst unwahrscheinlich – und es nährt neben erwiesenem Maupassant-Plagiat einen weiteren Verdacht gegen Bram Stoker: Womöglich hat er sich nicht ›bloß‹ bei dem Franzosen freimütig bedient, sondern auch noch eine ungenannte Co-Autorin kaschiert; beides übrigens keine unüblichen Praktiken in der Literatur bis ins 20. Jahrhundert, erst dann wurde es zum Fauxpas. 

Diese Reflexion einer Co-Autorinnenschaft nährt sich außerdem durch die sprachlichen Qualitätsunterschiede einzelner Abschnitte:

In »Dracula« hat nicht bloß der gerade eben erst aus der Mode gekommene auktoriale Erzähler ausgedient, sondern das gesamte Geschehen wird gekonnt in Tagebuchnotizen, Briefen, Berichten aufbereitet. Dabei fällt das kluge Arrangement des Erzählinhalts auf: Jede sprichwörtliche Kugel, die am Ende abgeschossen wird, ist von Beginn an bereits geladen, die gesamte Handlung zu einem dichten Netz verwoben. Zudem fällt auf, dass der Spannungsbogen der ersten Hälfte des Romans danach nicht mehr gehalten werden kann. Plötzlich schieben sich lahme Monologsberichte, die zu keiner neuen Erkenntnis führen, in die Handlung; retardierende Momente oder typische Anfänger*innenfehler? Wie auch immer, in der ersten Hälfte findet sich dieser Erzählmodus ganz und gar nicht. Dort ist die Erzählung so gestaltet, dass uns als Lesenden alle Schlüsse obliegen, wir mit unseren Ahnungen operieren oder gar bis zu einem Cliffhanger geführt werden, ungemein modern also.

Könnte es also sein, dass zwei an diesem Werk schrieben? Vielleicht gar eine Frau als Co-Autorin? Denn mir ist kein anderer Roman des 19. Jahrhunderts bekannt, verfasst von einem Mann, in dem eine Protagonistin als analytisch kluger Kopf beschrieben würde, obendrein von anderen maskulinen Figuren anerkannt. Allerhöchstens sind weibliche Figuren emotional intelligent, mitfühlend, sozial denkend und mit einem gewissen Hausverstand gesegnet. Intelligente Frauen, deren intellektuelle Fähigkeiten von sie umgebenden Männern akzeptiert werden, finden sich in der Literatur, verfasst von den Herren,  eher erst ab der Zwischenkriegszeit. Eine Frage, der nachzugehen, vielleicht interessant sein könnte …

Als »Dracula« 1897 erschien, wurde  das Werk jedenfalls lebhaft rezensiert. Das Typoskript selbst galt ein knappes Jahrhundert als verschollen. Als es vor einigen Jahren wiedergefunden und wenig später versteigert wurde, wollte es jedoch keiner wirklich haben; wenigstens nicht zu dem geforderten Preis. So oder so: Für Bram Stoker blieb »Dracula« sein einziger großer Erfolg. Stoker starb 1912 verarmt, wiewohl er damit ein ganzes Genre nährte, einen neuen Typus schuf, dem selbst der österreichische Lyriker H.C. Artmann in "dracula, dracula" (1966) ein humorvolles Denkmal setzte:

»dracula, du schlimmer 

komm nicht auf mein zimmer

tu mama nicht schrecken

nicht uns kinder necken

bleib' bloß schön zu haus' 

bei der flebebermaus.«

 

 

Quellen:

Wünsch, Michaela: Von Vampiren und anderen Degenerierten.  http://www.b-books.de/texteprojekte/txt/mw-vampire.htm 

Mayr, Richard: Dracula: Der Vampir wird lebendig. https://www.augsburger-allgemeine.de/kultur/Dracula-Der-Vampir-wird-lebendig-id19691471.html

Ladenhüter: Dracula. https://www.derstandard.at/story/928211/ladenhueter-dracula

Fasthuber, Sebastian: The Night of the Sucker. Rezension aus FALTER 16/2012. https://shop.falter.at/detail/9783869304625

Hettche, Thomas: In dieser Sache sind Daten alles. Zur deutschen Neuausgabe von Bram Stokers Dracula, 17.03.08. http://www.avinus-magazin.eu/2008/03/17/hettche-bram-stoker-dracula/