Raoul Schrott »Eine Geschichte des Windes«. Oder: Schön, um darin zu versinken, bis man hell auflacht

»Hätte er Talent besessen«, schreibt Roaul Schrott über den Helden seiner Windgeschichte, »wäre er Musiker geworden, Maler, Dichter: auch denen gilt ein einmal ausgestaltetes Œuvre nichts mehr, weshalb sie sich gleich an das nächste machen; so blieb ihm bloss das Abenteuer, welches jedoch ebenfalls Arbeit ist, ein Werk der Imagination wie des Lebens — das allerdings erst mit dem Tod eine Kontur und Sinn erhält. Das ist so wohl schön gesagt, ja; allerdings sollte man dabei nicht vergessen, dass der Hannes vor allem eins war: ein armer Hund. Welcher tun musste, was er tat — einfach nur um zu überleben.« (S. 739) Deshalb macht er sich auf, nicht ein, sondern gleich drei Mal, um die Welt zu umsegeln, dieser Hannes aus Aachen, ein Büchsenmacher und Kanonier, nicht wirklich prädestiniert, um final dort zu landen, wo er sein Grab findet. Aber immerhin eher als ein Schuster oder ein Bauer. 1519 bricht er in der Gefolgschaft Magellans auf, um über die Westroute Kurs auf die Gewürzinseln zu nehmen. Treibt ihn zu Beginn noch die Sehnsucht nach Ruhm, so bringen ihm die Reiseerlebnisse bald schon Abscheu und Ekel vor dem kriegerischen Handwerk, der ewige Wettstreit zwischen Portugiesen und Spaniern tut das Seine dazu, man ringt um die Vorherrschaft auf den Weltmeeren, vor allem aber auf den Inseln, denen sie mit ihrem ersten Fußtritt auf deren Boden das Kreuz bringen. Dasjenige der Krankheiten, der kriegerischen Auseinandersetzung und des Sklavenhandels ebenso wie dasjenige aus zwei Hölzern genagelte. Doch einmal diesen Lebensweg eingeschlagen, ist kaum ein anderer möglich: »Denn nach seiner vollmundigen Ankündigung von Ruhm und Ehre mit noch weniger in der Tasche als bei seinem Auszug damals zu ihnen zurückzukehren, nicht besser als irgendein Schweinehirte, schämt er sich: wenn schon als verlorener Sohn, dann stolz und gut bestallt.« (S. 658) Die Frau, die er kaum kennt und zu lieben meint, entpuppt sich als Dirne. Seinem Sold kann er auch nicht ewig nachrennen, und kaum erhalten, wird er dem gutgläubigen Mann auch schon wieder aus den Taschen gezogen: Wer glaube, so meint Hannes einmal, ihn ziehe das Glücksrad hoch, von dem sieht man unten das Arschloch (Vgl.: S. 258). 

So bricht er ein zweites Mal auf, eine weitere Erdumseglung muss her, deren Elend ist ihm wenigstens vertraut, so glaubt er; mit dem Fiasko neun Jahre später in Lissabon (15. August 1534) hat aber auch der gute Hannes nicht gerechnet: Nur sieben haben überlebt, er ist einer davon. Und wiewohl er während dieser Fahrt gleich zwei Mal den Vergleich zwischen Schiff und Gefängnis zieht, hält ihn diese Erkenntnis nicht vom Matrosenleben ab. Ein Vergleich, der der Enge sowie der mangelhaften Verpflegung wegen durchaus schlüssig dünkt, den der Erzähler seinen Hannes aber auch ziehen lässt, weil beide Erfahrungen einen Menschen tiefgreifend verändern: »Schiffe sind Gefängnisse aus Holz; in ihnen muss man jede Hoffnung fahren lassen. Und auch dort, wo sie einen hinbringen, mache man sich besser keine. Dazwischen aber eröffnen sie einem die Welt, in den Farben des Meeres und der Dämmerung, dem Geruch der Inseln und Länder, dem Geschmack ihrer Früchte, mit Gestirnen darüber und den Winden darunter, während die Menschen überall dieselben sind, besonders wir. Dies zu erfahren, ist ein Leben wert: doch wie hernach weiterleben, darauf schenkt es einem keine Antwort, nur Fragen.« (S. 651) Er schließt sich einem Pilgerzug nach Santiago an, mogelt sich durch, treibt Handel mit gefälschten ›Nelken‹ und ›Muskatnüssen‹, die er aus Malvenwurzeln produziert, wird galanter Liebhaber einer Doña und studiert den Wind: Woher der komme, das beschäftigt ihn seit seiner ersten Fahrt – mal ist er treibende Kraft, mal nährend oder zerstörerisch, ja, Hannes sinniert über dieses Element nach, »[…] so als hätte er, (ohne es recht zu wissen) immer schon Wind sein wollen — um darüber eine Seele zu erlangen und ganz Mensch zu werden, statt sie, wie den Flug seiner Kanonen, bloss zu gebrauchen, um jedesmal irgendwo anders zu landen und aufzuschlagen, ringsum alles zersplitternd, ohne je wirklich bei sich und da zu sein — denn das ist nur der Wind: er ist er selbst, an jedem Ort.« (S. 673)

Ein drittes Mal bricht er noch auf, 1538, im Gefolge von Don Pedro – auch diese Expedition ist zum Scheitern verurteilt, auch dieses Mal hat Hannes aus Aachen erneut mehr Glück als Verstand und strandet, an den einzigen Tisch des Schiffes geklammert, auf der Osterinsel. Dort aber verliert sich seine Spur. Oder sie findet sich Jahrhunderte später, denn so entdeckt ihn Raoul Schrott, der sich als Ich-Erzähler in persona in jenen Roman einschrieb wie er auch dem frühen Autor des spanischen Schelmenromans, Mateo Alemán, ein Denkmal setzte. All das immer der Route des Hannes’ folgend, den Bogen in die Gegenwart spannend, leider zu selten, diese überaus interessanten Ich-Einschübe, welche die Entwicklung jener Orte ins Heute fassbar werden lassen, sie mit uns erfahrbaren anderen Bildern vernetzen. Denn auch das ist ja die Geschichte einer Entdeckung! Sie beginnt mit einem Zufall, der einem ein Zipfelchen einer möglichen Geschichte in die Hand spielt, aus dem sich langsam und mühevoll, abenteuerreich und berauschend ein roter Faden entspinnt, der die Fabulierkunst nährt. Und die beherrscht Raoul Schrott auf das Wunderbarste. Herrlich ist dieser Roman, nicht weil Hannes von Aachens Lebensgeschichte so ungemein aufregend wäre, in Wahrheit strotzt sie nur so von menschlichen Wiederholungen, den Wechselfällen des Lebens, seiner Unbill, dem Hunger und Elend, nein, dieser Roman ist der Sprache wegen ein Genuss, und darin über 800 Seiten zu baden tut mehr als bloß wohl. Mit einer kleinen Ausnahme: Der überaus schwülen Bettszene konnte ich gar nichts abgewinnen. Schon klar, der junge Mann wird auch einmal erwachsen, erlebt sein erstes Mal – doch bitte nicht mit solch peinlichem Kitsch. Es dauert hundert Seiten, bis man diese vierseitige Entgleisung verzeiht – aber man tut es! Und freut sich an Hannes aus Aachen erneut, der wie ein zweiter Simplicius Simplicissimus durch sein Leben stolpert und ab und an sehr schöne, oft durchaus auch erheiternde, Bonmots schafft.