Elisabeth R. Hager »5 Tage im Mai«. Oder: Eine Leseempfehlung, nicht bloß für Mai!

Ein Tiroler Dorf, umgeben von Bergen. Züge, die in das Tal brausen. Ein alter Fassbinder, der seinen Spitznamen – Tat’ka, Väterchen – von seinem letzten Lehrling, der aus Tschechien gekommen war, erhielt. Ein Mädchen, Illy, für die dieser alte Herr ein Fixstern im verwirrenden Leben einer Heranwachsenden ist. Kirchenfeste, rurale Ränke, Pocket Coffee, viel Bier und die ruhelosen Nächte der Dorfjugend – das sind die Ingredienzen dieses Romans, der einer der Erinnerungen ist. Dahin gestellt sei, ob dies solche der Autorin sind oder nicht: Das ist außerdem absolut nicht relevant. Weitaus wesentlicher ist, dass es ihr gelingt, Erinnerungen und Empfindungen in Einklang miteinander zu Papier zu bringen. Man sieht den alten Herren an seiner Hobelbank, riecht die Holzspäne, spürt seine Gelassenheit und seine dennoch fortwährende, aufmerksame Präsenz, mit der er – zusehends an den Rand der Geschehnisse tretend – Illys Kindheits- und Jugendjahre begleitet, während er selbst stetig weniger wird, geringeren Raum einnimmt, sein Anzug von Maitag zu Maitag mehr schlottert. Jeder der fünf Tage schildert ein entscheidendes Ereignis: die verpatzte Erstkommunion, weil Illy beim kollektiven Schuldgepoche an die Brust derart übel wird, dass sie sich übergeben muss; Tat’ka, der an seinem Geburtstag, als ältester Mann im Dorf gefeiert, zusammenbricht; Illy, die eine erste Beziehung mit Tristan eingeht, der gegen alle Welt wütet, so sehr, dass er sich darüber selbst verliert; Illy, die nach Jahren ins Dorf zurückkehrt, welches sie fluchtartig verließ, da Tristan sich Wochen nach der Trennung vor einen Zug warf; Tat’kas Begräbnis an seinem 100. Geburtstag.

Solch eine Schilderung des Inhalts bleibt jedoch an der Oberfläche, denn hinter jedem dieser Erlebnisse an jeweils einem Mai-Tag fächert sich etwas weitaus Wesentlicheres auf: Die Beziehung zu Tat’ka vertieft sich, erhält eine neue Dimension, je älter Illy wird. Quintessenz des Romans ist folgende Botschaft des alten Herren: »Du kannst niemand anders beschützen. Nit wirklich. Sicher, du kannst’s probier’n, aber helfen tut’s nit. Für dich und dein Leben musst’ verantwortlich sein! Das klingt nach keiner Heldentat, i weiß. Aber es is’ eine. Die meisten schaffen nit einmal das. Für die hat immer jemand anders Schuld.«

Illy, so könnte man sagen, übt sich darin, für sich selbst und das eigene Leben Verantwortung zu übernehmen. Ein schwieriges Unterfangen, das weit über fünf Tage im Mai hinausreicht. Durch Tat’kas unaufgeregter Art lernt sie mit Ereignissen umzugehen; ein wenig wortkarg ist er, neun Finger hat er bloß noch, der Hobelmaschine wegen, die er just an jenem Unglückstag mit Schutzhandschuhen bediente. Sie lernt sich aufzulehnen gegen Dummheit, Übergriffe und Gier, weil er Rückgrat beweist, gegen Schneekanonen als geladene Waffen wettert – ja, der alte Herr hat’s in sich, und diese Erzählung über ihn berührt ob ihrer Menschlichkeit: Deshalb seien diesem Roman zahlreiche Leserinnen und Leser gewünscht! Und gerade wegen der implizit verwobenen Thematiken wie Lebensgestaltung, Heranwachsen in einem Dorf, Ohnmacht und Umwelt dünkt mir dieser Roman eine exzellente Variante des Cross-over, durchaus auch zur Schullektüre zu empfehlen!