Scharang »Aufruhr«. Oder: Nach jedem Kampf ein Fest, und die Welt ist ein besserer Ort?

Wer diesen Roman implizit deutet, sieht sich mit Schwierigkeiten konfrontiert, die vor allem in den integrierten, wiederkehrenden Thesen zur Kunst liegen, da diese etwas versprechen, das »Aufruhr« keineswegs einlöst. Nimmt man sie beim Wort, liegt die Schwäche dieses Romans auf dem Tisch. »Die Kunst«, so heißt es zu Beginn, »scheint sehr umgänglich zu sein, deshalb laufen ihr so viele zu. In Wirklichkeit ist sie unbarmherzig. […] Die Kunst ist sehr einfach. Sie ist die Darstellung der Welt. Weder Abbildung noch Analyse, noch Interpretation der Welt. Darstellung heißt: die Welt zeigen, wie sie ist – und wie sie noch nicht ist.« Und final: »Darstellung ist also, Spiegel der Natur zu sein und dabei Neues zu schaffen.«

Jene beiden Textstellen bilden den Rahmen, der außerdem mit zahlreichen Verweisen auf Otto Wagner, Loos, Mozart, Alban Berg, Hopper etc. ergänzt wird. Letzterem wird folgende Aussage zugeschrieben: »Man darf die Dinge nicht sehen und nicht benennen […]. Wer es dennoch tut […], wird vernichtet.« Damit beginnt diese durchaus interessante Passage über jenen bildenden Künstler, der sich in gesellschaftspolitische Fragen einmengte und der Kunstgeschichte schrieb, da er sich der Darstellung der Fremdheit eines Menschen sich selbst gegenüber widmete und diese mittels des umgebenden Raumes deutlich machte.

Nimmt man Scharangs eingeflochtene Theorien beim Wort, hat man anzumerken, dass zwar die Welt dargestellt wird wie sie noch nicht ist, doch nicht wie sie ist. Die Frage nach Realitäten wird nicht gestellt; abgesehen von einer einzigen Figur, die den eigenen psychotischen Schüben mit surrealen Aktionen begegnet und sich deren Absonderlichkeit bewusst ist. Zahlreich sind dafür die Belehrungen und redundante Wiederholungen, wie Alltagsgeplauder sie kennt, und ausufernd erläuternde Passagen über Alltäglichkeiten, zum Beispiel wie ein Autodrom funktioniert. Oder die genossenen Flaschen Rotwein, Grappa, Campari, Sekt und Champagner, welche offenbar den Festcharakter suggerieren sollen, in ihrer Maßlosigkeit aber zu einem unangenehmen Nachgeschmack führen: Wiens erster Bezirk lebt gut und der Dialog über die Einkommensschere bleibt ein feines Mäntelchen aus dem Herrensalon, italienisches Tuch, natürlich. Insbesondere in der ersten Hälfte wirken die Protagonistinnen und Protagonisten samt ihren Situationen wie ein Alibi, welches der Autor benötigt, um eine Gesellschaftsanalyse zu platzieren. Ja, der Autor, nicht der Erzähler! Womit wir bei der nächsten Schwierigkeit sind: Zwischen den Figuren, ihren Handlungen, ihren Redepassagen und Erzählteilen liegt weite Ödnis. Wahrscheinliche Figurenpsychologie und tatsächliches Agieren klaffen auseinander. Stimmigkeit etabliert sich nicht, ebenso wenig jedoch markante Überzeichnung als Stilmittel der Ironie. Dass man den politischen Reflexionen, denen das Figureninventar als Trägervehikel dienen muss, als kritisch denkender Mensch nur zustimmen kann, alle Analysen altbekannt, verstärkt die ärgerliche Irritation ob papieren wirkender Protagonistinnen und Protagonisten. Nachgeschobene Erläuterungen, er oder sie habe dies oder das gesagt, um dieses oder jenes alsdann anzustreben, machen es um keinen Deut besser, schließlich hat man es schon Seiten zuvor verstanden. Trotzdem wird weiterhin exzessiv vorgekaut. Folglich etabliert sich der Eindruck, Scharang vertraue nicht bloß der Intelligenz seiner Lesenden nicht, es scheint vielmehr, er hält sie allesamt für strohdumm. Als wären jene dreihundert Seiten seiner Weltdarstellung mit der Leuchtschrift überstrahlt: ›Völlig verblödete Menschheit!‹ Dass die durchschnittliche Intelligenz eklatant abnahm, darüber brauchen wir nicht zu streiten, das belegen Fakten. Aber dass Leserinnen und Leser sehr wohl in der Lage sind, eigene Schlüsse zu ziehen, selbstständig zu denken, bewusst gesetzte Leerstellen mit ihrer Lebenserfahrung, ihrem Wissen zu füllen, darüber brauchen wir auch 2020 nicht zu debattieren. 

Über den Stummfilm, ein weiteres relevantes Handlungselement, heißt es: »Der Stummfilm […] ist realistisch und kritisch und märchenhaft, deshalb ist er nicht belehrend, sondern überzeugend. Also besonders gefährlich.« Dies zu beherzigen, hätte »Aufruhr« wohlgetan! Integriertes Belehren und ewiges Interpretieren in einem Roman lässt alle Wortkraft verpuffen, ›gefährlich‹ ist die »Aufruhr« daher mitnichten, sondern sie verkommt zum Sturm im Wasserglas, hat man ihr Ärgernis einmal abgehackt.

Die Schwierigkeiten einer machtlosen Verkäuferin, die in jenem Kaufhaus, in dem sie arbeitet, Fair Pay umsetzen will, können erst gelöst werden, als sie eine Liebschaft mit einem amerikanischen Psychiater beginnt und dessen Freunden begegnet, welche zu ihrer Unterstützung in einem Schaufenster jenes Warenhauses mal um mal stumme Szenen, hochdotiert, umsetzen und dadurch eine Veränderung der Firmenpolitik bewirken. Ihre Strategie der trickreichen Manöver, der Inszenierungslust geht in diesem Roman auf, weil sie stets zwei Pole verbinden: politische Aktion, Fest danach. Vorzugsweise unter Einbindung der Ordnungshüter in das inszenierte Miteinander. Fröhlich soll der Kampf sein, und immer gut vernetzt. Die Beweggründe ihres Engagements sind außerhalb der Liaison uneinsichtig. Angestrebt werden fairere Arbeitsbedingungen, Lohnerhöhungen, effizientere Organisation und das Wohlergehen aller statt Bereicherung einiger weniger.   

Zwei wiederkehrende Zitate spielen zudem eine relevante Rolle, einmal Oscar Wilde: »Ein weiser Mann hat viele Jahrhunderte vor Christus gesagt, so etwas, wie die Menschheit in Ruhe lassen, gibt es. Aber so etwas, wie die Menschheit regieren, gibt es nicht.« Dies spiegelt sich final in der Begrenztheit des Interregnums sowie in dessen Charakter durchaus schlüssig wieder. Die zweite Aussage stammt von Jean-Paul Sartre: »Vielleicht gibt es schönere Zeiten; aber diese ist die unsere.« Darin klingt zum ersten Mal implizit in diesem Roman der Gestaltungswille der Protagonistinnen und Protagonisten an, ihr Wunsch, Gegebenheiten nicht hinzunehmen, sondern sich einzubringen.

Final entschwinden Deus ex machina die Initiatorinnen und Initiatoren des Aufruhrs reichlich abrupt nach New York: Die Zeit ist ihr Helfer dabei. Sie sei abgelaufen, und die Aufständischen, denen Fachleute für »ökonomische Zusammenhänge und finanzielle Machenschaften« zur Seite stünden, würden die Situation schon bewältigen. Ein höchst unbefriedigender Schluss eines Romans, der Lesende am Gängelband führt. Wer’s mag.