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Fragmente & Frakturen I

Das Museum »Hamburger Bahnhof« liegt mitten in Berlin, was nur denjenigen verwirrt, dem die Stadt unvertraut klingt. Als ein Fragment Berliner Geschichte thront diese historische Ankunftshalle unweit des heutigen Hauptbahnhofs, und so dünkt es einen durchaus stimmig, nennt sich eine Präsentation darin »Zeit für Fragmente«. Diese zeigt u.a. »Das Ende des 20. Jahrhunderts«, eine Arbeit von Joseph Beuys, die aus 21 Basaltstelen besteht, welche einem kreuz und quer den Weg verblocken, derweilen sie auf Transportpaletten ihrer Zukunft harren: Was bleibend unsere Gegenwart stört. Wie Bruchstücke vergangener Lebensteile weisen auch sie ein Zeichen der Zusammengehörigkeit auf: Gleich einem Brandmal prägt sie ein Kreis. Ob ihrer Verlorenheit im Raum, wecken sie das verbotene Verlangen, sie zu berühren – wenigstens mit Worten; denn Fragmente, zitiere ich die Brüder Schlegel in Gedanken, regen an. Ihre verweisende Struktur bewirkt ihre Fortsetzung. Darin unterscheiden sie sich vom Aphorismus, der den Punkt will, sodass nichts mehr zu sagen bleibt: Tür treffend geschlossen.

Joseph Beuys: DAS ENDE DES 20. JAHRHUNDERTS, Staatliche Museen zu Berlin© Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Thomas Bruns
Joseph Beuys: DAS ENDE DES 20. JAHRHUNDERTS, Staatliche Museen zu Berlin© Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Thomas Bruns

 

Das literarische Fragment hingegen öffnet die Pforte zu einer Weite, ermöglicht eine Begegnung in angrenzenden Denkräumen, die sonst eher voneinander getrennt betreten werden: Philosophie, Kunst, Gesellschaft, Natur … 

Nur so kann Literatur lebendig und gesellig bleiben, nur so gelingt es ihr, das Leben und die Gesellschaft poetisch werden zu lassen – schrieben die Brüder Schlegel einst; schreibe ich heute. Damit sich die Kunst, »mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art« gesättigt und durch »die Schwingungen des Humors« beseelt (Athenäum Fragment 116), mitten in der Gesellschaft niederlasse. Kein Elfenbeinturm, sondern Fortsetzung im Dialog; ›sympholisieren‹ nannten die Frühromantiker dies. Ihr Widerwort gegen jedes traditionell-geschlossene Kunstwerk, aus dem – alle Fäden zu einem Ende gebracht – nicht weitergedichtet, -gedacht werden kann. 

Die geschlossene Form wäre, insbesondere heute, eine Widersinnigkeit, da unsere Leben uns in dieser Zeit fortwährend mit Brüchigkeit konfrontieren. Blicken wir zurück auf die vergangenen fünfzig Jahre, so blieb kein Stein auf dem anderen. Das rasche Tempo der Veränderungen nährt aber die Zukunftsangst, die sich gerne erschreckt in Scheinwelten flüchtet. »Wie schön ist die Blaue Blume in einem Feld von Weizenhalmen«, zitiere ich in Gedanken die Verleger Christian Ruzicska und Joachim von Zepelin, mit denen ich am Vortag im Rahmen meiner Recherchen über dieses Symbol sehnsüchtiger Suche im literarischen Feld, die Kunst des Lesens und die erwachende Lust auf Ernsthaftigkeit redete.

Keineswegs entsprechen diese thematischen Anker einem zufälligen Sammelsurium, sie wuchsen, eines aus dem anderen, ausgehend von einem persönlichen Lebensfragment: Quo vadis Kunst, wenn »eben doch sehr literarisch« oder »tatsächlich Literatur« als Urteil meiner Arbeitsprobe mit »leider« ergänzt wird, und Agenturen wie Publikumsverlage daher lieber zögern oder ablehnen? – Der Blick zu den Kolleginnen und Kollegen bestätigt: Wer derzeit in keinem lebendigen Verlag Hausautor, Hausautorin ist, hat es schwerer denn je. »Man könnte«, meinte Ruzicska, »fast boshaft sagen: Dieser auf Erfolg ausgerichtete Markt produziert seine Nischen selbst!« Denn so einzigartig in Denken und Sein ist keiner, dass man allein übrig bliebe! Quo vadis Kunst, fragte ich also einige Verlegerinnen und Verleger, die gemäß meinem Studium ihrer Verlagsprogramme fern des Mainstreams arbeiten, um herauszufinden, welch andere Wege sie gehen und wie sie diese gestalten. 

in Lhotzkys Literaturbuffet
in Lhotzkys Literaturbuffet

 Seither wuchs meine Liste der Gegenstimmen in Verlagen und Buchhandlungen täglich, Multiplikator*innen der Literatur, die sich auf die in Zahlen weitaus kleinere, doch konstante Gruppe widerborstiger Geister spezialisieren, denen ›tatsächlich Literatur‹ nach wie vor ein Positivum bedeutet. Offenbar ist es ein Charakteristikum der Nische, dass ein Name zum nächsten führt, von Verlagen zu Buchläden zu Veranstaltungsorten: »duotincta« zog die »Alte Büdnerei Kühlungsborn« nach sich, ein Posting der »Buchhandlung Slawski« brachte »Secession« ins Spiel, und deren Schwärmen von Buchhändlerinnen und Buchhändlern, die dafür brennen, was sie tun, evoziert in meiner Erinnerung die »Buchhandlung Lerchenfeld« sowie das »Literaturbuffet Lhotzky«, deren jeweilige Eigentümer am allerliebsten über eines sprechen: Weshalb dieses Buch ausgezeichnet sei, unbedingt lesenswert, außerdem beziehe es sich auf jenes – schon stapeln sich die Titel, und die angestrebte Recherche wird zum klar überschaubaren Weg. 

Jürgen Volk
Jürgen Volk

Kleinverlage, so Jürgen Volk von »duotincta«, setzen per se auf Zusammenarbeit, Austausch im Miteinander werde groß geschrieben, ein Rädchen greife ins andere, gerade weil sich alle der Enge der finanziellen Ressourcen bewusst seien. 

Heinrich v. Berenberg / Copyright: Cordula Giese
Heinrich v. Berenberg / Copyright: Cordula Giese

Auch der »Berenberg Verlag« setzt auf enge Zusammenarbeit mit dem Buchhandel, man kennt jene Läden, die das eigene Programm vollständig und permanent präsent haben. Wie zahlreiche andere in Deutschland, ist auch »Berenberg« über die »Kurt-Wolff-Stiftung für unabhängige Verlage« gut mit den Kollegen und Kolleginnen der anderen Häuser vernetzt, die »in ihrem Programmen auf literarische Qualität achten und auch dem Minoritären eine Chance geben«, schrieb mir Heinrich von Berenberg. 

Eine solche Form der Zusammenarbeit schilderte auch Alexander Wewerka im Detail unseres Gesprächs in seinem Berliner Verlagsbüro: Nach Akzeptanz von Jens Johlers Manuskript »Stimmung der Welt« in seinem »Alexander Verlag« wandte er sich explizit an die Buchhändlerin eines kleinen Buchladens am Bayerischen Platz, um bei ihr nachzufragen, wie sie denn glaube, dass diese Publikation beschaffen sein müsse, damit sie gekauft werde, und setzte alsdann ihre Empfehlungen hinsichtlich Cover-Gestaltung, Format und Preisgestaltung in die Tat um. »Und die Frau hat fast vierhundert Stück alleine verkauft, ein ganz kleiner Buchladen!« Einmal fragte er den langjährigen Cheflektor, wie sie mit der Herausforderung des Marktes umgehen, so sei oft der Haus-Test entscheidend: Wenn alle im Verlag – von den Lektorinnen bis zum Portier –, der Meinung sind, das sei etwas, dann verlege man das Werk. Interessant sei, dass zahlreiche dieser Autoren und Autorinnen den Vermerk, ›bekannt aus Funk und Fernsehen‹ tragen, also Schreibende, die sich zuvor anderswo einen Namen gemacht haben, sei es mittels einer Kolumne oder einer Sendung. 

Auch Mona Müry kennt diesen hausinternen Test, sieht ihn jedoch auf das Mitarbeiter- und Mitarbeiterinnen-Team des Verlags begrenzt, wodurch seine Färbung eine gänzlich andere wird: Es sei wichtig, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von einem Werk überzeugt seien, damit jede und jeder von der Prämisse ausgehe, es lohne sich, für jenes Buch zu kämpfen. 

Dann mache die Arbeit für jeden Einzelnen Sinn, sei kein entfremdetes Tun. »Das klingt jetzt ein wenig romantisch«, sagte sie, aber jene Wendung beschreibe am treffendsten, worum es in Wahrheit gehe: »Das Weitergeben eines Funkens«, das sei Teil der Arbeit, aus dem Verlag zu den Buchhandelsvertretern, in die Buchhandlungen. Deshalb könne auch nur »eigene Begeisterung die Basis« der Verlagsarbeit sein.

 

 

Ein Todesurteil für die Kunst

 

Dass »eben doch sehr literarisch« oder »tatsächlich Literatur« mit »leider« ergänzt zum Argument wird, weshalb man in Publikumsverlagen lieber passe, interpretiert Mona Müry, Leiterin des Verlags »Müry Salzmann« als »ein Todesurteil für die Kunst! Diese Aussage disqualifiziert sich selbst. Sie zeigt an, was der Fall ist: die Leseunkultur, den Zustand unseres Geistes. Das geht Hand in Hand, seit Jahrzehnten, mit einer Marginalisierung der Geisteswissenschaften. Ein hoher Prozentsatz der Menschen kann ja kaum mehr sinnerfassend lesen!« Und Müry verweist auf Forschungsergebnisse, die belegen, dass der Intelligenzquotient in den reichen Staaten rückläufig sei. »Und ein Grund dafür – einer, wohlgemerkt – ist der Rückgang des Langstreckenlesens.« Das sei, ich möge sie bitte nicht falsch verstehen, keineswegs eine Legitimation von hermetisch in sich geschlossenen Werken, die dem Lesenden jedweden Zutritt verwehren und sich in der Attitüde ihres Gehoben-Seins gefallen. Gerade die Haltung des l’art pour l’art bedinge für Müry auch den Gegenpol der auffallenden Seichtheit der Massenware: »Das sind zwei Seiten der gleichen eitlen Münze. Ich denke, ein Text sollte so einfach sein wie möglich; und so kompliziert wie unbedingt nötig.« Sie erschrecke es, wenn sie bei der Frankfurter Buchmesse im Agenturcenter die ganze Zeit von Plots erzählt bekomme, »die manchmal interessanter sind, manchmal weniger, aber die Frage der Sprache wird dabei nicht ein Mal berührt. – Was interessiert mich ein noch so spannender Plot, wenn die Sprache vollkommen uninteressant ist, wenn die Organisation des Stoffes auch nichts hergibt?« Es sei auffallend, dass der allgemeine Fokus den Leser, die Leserin, als einen Menschen sieht, der »das leichtgängige, leichteingängige, spannende, sich immer wieder selbst reproduzierende sucht. Ich fühle mich da nicht angesprochen. Natürlich lese ich auch gerne hin und wieder einen Roman, der einen guten Plot hat, und seine Geschichte packend erzählt, aber das ist eben noch lange nicht alles. Das ist noch nicht einmal die halbe Miete, und manchmal muss man es genau deswegen stehen lassen. Meines Erachtens. Ich wünsche mir Zu-Mutungen. Im positiven Sinn. Eine Literatur, die mir etwas zumutet, die meinen Mut anspricht und herausfordert. Ich finde nämlich, es ist eine Zumutung – im anderen Wortsinn –, was mir an dummen Büchern zugemutet wird!« Da helfe auch kein werbewirksamer Klappentext! Selbst wenn es keine Kunst sei, den zu schreiben. Halte das Buch sein Versprechen nicht, sei Enttäuschung und Abwendung vorprogrammiert, sagte Müry, und auch ich erlebe es derzeit allerorts, seien es Buchhändler*innen, Journalist*innen oder Leser*innen, die sich mit der Frage an mich wenden, was sie bitte lesen oder besprechen sollen, in diesem langweiligen Einheitsbrei an seichter Dummheit. Dieses Frühjahr musste selbst ich passen, sage, ich suche noch die Blaue Blume, doch sobald ich sie finde, werde ich es sogleich in der »Mitlese« mit ihnen teilen …

 

Die Macht des Kommerz oder 

der Liter Milch im Buchhandel

 

Alexander Wewerka, Eigentümer des »Alexander Verlag«, dessen Schwerpunkt auf Literatur zum Theater liegt – sein einziger Krimiautor macht noch keine Genre-Reihe! –, betonte, er arbeite mit Agenturen nur bei Übersetzungen aus dem angloamerikanischen Raum. Im Gegensatz zu jenem Sprachraum sei in Frankreich solche eine Form der sekundären Vertretung kaum üblich. Dort übernehmen bis heute traditionellerweise Verlage die Verhandlungen. Er glaube, der verstärkte Fokus auf eine kommerzielle Nutzung von Literatur sei kaum eine Novität, sondern eine Haltung die stetig wiederkehre, und er zitiert mir zur Erheiterung aus Kafkas Korrespondenz mit seinem Verleger: ›Leider kaum eines Ihrer Bücher verkauft, aber wählen Sie sich doch unter den anderen Novitäten etwas aus …‹ Heute befänden wir uns in der Endphase des Kommerzwahns, und natürlich seien diejenigen, die davon profitieren, bestrebt, diesen Irrsinn solange wie möglich am Leben zu halten: »Jeder entscheidet sich irgendwann für eine bestimmte Art des Lebens, der Moral«, ob eben Kunst-in-Mischkalkulation oder Kommerz-samt-Profit das eigene Ziel sei. »Das ist die Amerikanisierung der Welt, das ist der Kapitalismus.«

 

Alexander Verlag
Alexander Verlag

Wer die Macht des Mainstreams wahrhaftig verstehen wolle, dem rate er dazu, in den USA nach einem Titel außerhalb desselbigen zu suchen, zum Beispiel nach »The Nation«. Er oder sie werde fortwährend in den Buchhandlungen die gleiche Antwort erhalten: »Let me check my computer first!‹« Erst in dieser real erlebten Ignoranz jedweder Kenntnis von allem, was sich außerhalb der Masse befinde, werde einem ›Mainstream‹ bis zur letzten Konsequenz bewusst: »Die Maschine Mainstream hat es immer gegeben, aber vielleicht ist neu, dass das Drumherum immer enger wird und das Buch als Medium nicht mehr die Rolle spielt.« Ihn erschrecke jedes Mal die Formulierung, »Das ist durch!«, die einen allerspätestens bei Erscheinen der nächsten Runde an Verlagsvorschauen mit unausweichlicher Wucht erschlage. Ob ich wisse, was er meine, fragte er, und ich nickte, in Gedanken bei ewiggestrigen Veranstalterinnen und Veranstaltern, die allen Ernstes argumentieren, dass ein Herbsttitel im Januar des nächsten Jahres ›uninteressant‹ geworden sei. Bloß weil aus 31. Dezember ein 1. Jänner wurde? Immer vorne mit dabei, unter den Ersten sein, das ist der Gedanke, der hinter dieser Haltung steckt. Mit meinem Gegenargument, entweder sei ein Werk gut oder eben nicht, biss ich bislang zu 70% trotzdem auf Granit. Up to date – dieser Wunsch ihrerseits wog schwerer. Oder Buchhändlerinnen und Buchhändler, die finden, wenn eine Novität sich irgendwo in ihren Regalen und Fächern aufgereiht, nicht innerhalb eines Monats verkaufe wie die warme Semmel, sei sie schon altbackenes Brut, ungenießbar und folglich zu retournieren! 

»Das ist durch« macht Literatur zur Ware und versieht sie mit einem Ablaufdatum; ihre Mindesthaltbarkeit liegt derzeit bei einem Liter Milch. Das bedingt auch, dass wir Literatinnen und Literaten immer schneller arbeiten müssen, die Anzahl an zusammengeschlampten Werken steigt, weil die Ruhe zur Arbeit fehlt. Während meiner Buchhandelsjahre, Ende der 1990er, belief sich die gewährte Haltbarkeitsspanne im Laden immerhin noch auf beinahe ein halbes Jahr. Ja, das sei »obszön«, so Alexander Wewerka, schließlich gehe es dabei und auch um eine Menge Rohstoffe. Für ihn evoziere diese Haltung durchaus die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, mächtig auf die Pausetaste zu drücken, denn so könne es keineswegs weitergehen.

Auch Mona Müry vom Verlag »Müry Salzmann« findet die verknappten Aufmerksamkeitsfenster höchst bedenklich; zudem der rasche Wechsel auch die Präsentationsmöglichkeiten beeinflusse. Bei Literatur genüge es keineswegs, Bücher in Buchhandlungen aufzulegen, das Cover zu kennen und zwei, drei Sätze einer Rezension wiedergeben zu können. Unmöglich, dass so irgendjemand von der Sprache eines Werkes berührt werde: »Da kriegen die Bücher ja nie eine Persönlichkeit für die Buchhändler.« Schwappe zwei Mal jährlich eine wahre Flut an Werken über die Branche hinweg, sei es eine logische Konsequenz, dass das nächstfolgende Programm stets zum Feind des vorherigen werde. Ihres Erachtens ist der Hauptverband des Buchhandels sowie der Börsenverein dringend aufgefordert deshalb Maßnahmen zu ergreifen: ein Jahresprogramm statt Frühjahr und Herbst, um den Fokus wieder auf ruhige Arbeit und die Publikation guter Werke zu lenken. Es sei doch ein Armutszeugnis, werde – auf Teufel komm raus – publiziert: »Hauptsache die Bücher betreffen ein Thema, das im Fokus der Medien ist und der Autor hat ein Fernsehgesicht!« Gerade in großen Publikumsverlage sei es daher kein Wunder, so Heinrich von Berenberg, dass »eine Menge Schrott durchgewinkt« werde. Folglich werde es für Multiplikator*innen im literarischen Feld immer »schwieriger, die gute Literatur zu finden«, man müsse sie regelrecht aus den Lawinen herauspicken, »und es gerät leider vieles schneller in Vergessenheit als früher.«

Ich denke an Leserinnen, Leser, die mir mit zunehmender Häufigkeit schreiben, dass sie ganz bewusst ›alles‹ von einem Verlag lesen, weil sie dieser bis dato kaum je enttäuscht habe. Vielleicht ließe sich dies als die neue Treue der Literaturaffinen bezeichnen? Nicht nur die Bindung an eine Literatin, einen Literaten, von dem sie alles lesen wollen, sondern eben auch an ein Verlagshaus? Würde auch der Entschleunigung des Betriebs dienen, die Qualität steigern.

Sehr bewusst denkt Alexander Wewerka vom »Alexander Verlag« in letzter Zeit gleichfalls über das Thema nach, wieder kleiner zu werden: »Nicht nur, weil es ökonomischer ist. Man schreibt sonst nur noch E-Mails, checkt die ganze Zeit irgendwas – das geht mir auf den Wecker! Ich möchte nachmittags wieder einmal in die Stadt gehen, in der Bibliothek sitzen und etwas finden, wovon ich gar nicht wusste, dass es das gibt …« Ja, die Suche nach der Blauen Blume, sie scheint uns derzeit allesamt zu locken.

 

Und die Leser*innen: Wer unkte, dass sie schwinden?

 

Die Frage, ob die Branche Leserinnen und Leser verloren habe, lässt sich so allgemein nicht beantworten. Unter den Lesenden mit einer Vorliebe für gehobene Literatur ist nämlich vielmehr eine Zunahme zu bemerken. Aber auch ihre verärgerte Abwendung von großen Häusern, die verstärkt den Kommerz bedienen, hin zu kleineren und mittleren Verlagen, selbst wenn deren Titel über kein großes Werbebudget verfügen und nicht allerorts beworben werden, ist Faktum. Auch in zahlreichen Zeitungsredaktionen knurrt der Unmut über den siebzehnten Abklatsch des gleichen Inhalts durch die Büros, weshalb man sich lieber mit dem Programm kleinerer Verlage beschäftigt, denen zu Aufmerksamkeit hilft, selbst wenn sie sich kein »Buch des Monats« auf dem Tisch der großen Ketten kaufen können. Nichts, so dünkt mir, hat nur eine Seite, stets ist auch im Negativen etwas Positives geborgen.

Wahrhaftig verloren gingen während der letzten Jahre einzig die Schatten-Leserinnen und Leser, die weder vor noch nach ihrem Grau je mehr als ein Serienbuch in Händen hielten. Bei de Sade, Schnitzler und Sacher-Masoch würden sie wohl mehrheitlich tot umfallen; oder über die Komplexität jener Sprache stöhnen. Nie  in der Literatur angekommen ist hingegen eine große Gruppe Jugendlicher aus der ›Generation Bild‹. Ich erinnere mich gut, wie man mich als Vortragende in eine mittlere Klasse einer Handelsakademie einlud, und ich beim Blick auf ihre Arbeitstische Wortlisten fand, mit all den Begriffen aus meinem Roman, die ihnen nichts mehr sagten. Bis sie frustriert aufgaben. Am erschreckendsten war für mich, dass darauf Alltagsvokabular stand, meines Erachtens ganz normale Wörter. Dies sei nur  als ein Beispiel von vielen erwähnt, wie sehr unsere Sprachkompetenz  – ungenährt – verarmt.

Der Kommerzwahn, davon ist Alexander Wewerka überzeugt, habe in logischer Folge aber auch die Gegenbewegung mitinitiiert: Kleine Buchläden, »mit ein, zwei Leuten. Für mehr reicht es nicht. Aber mehr muss es auch nicht sein. Auf vier Etagen? Das ist doch totaler Quatsch!« Von den Vertreterinnen und Vertretern höre er nur Gutes über diese, ein Fachpersonal sei dort tätig, mit originellen Ideen und bewussten Initiativen für ihre Öffentlichkeitsarbeit. 

 

Buchhandlung Lerchenfeld, Wien
Buchhandlung Lerchenfeld, Wien

Ich sehe die beiden Herren der »Buchhandlung Lerchenfeld« vor mir, wie sie altbekannte Schlager mit neuen, gewitzten Texten versehen, um Bücher ins Bewusstsein zu rücken; oder um die Buchpreisbindung verständlich zu machen: Was bringt euch ein Kauf beim Internetriesen, wenn es eh überall gleich viel kostet und gleich lange dauert? Alles, sagte Wewerka, sei darauf ausgerichtet, es immer noch bequemer und einfacher zu machen, ›vorgeschnittenes Brot und Käse in Scheiben‹, einzeln abgepackt: »Das macht die Umwelt kaputt, es kostet Geld, ist total sinnlos, aber wir leben so. Punkt. Das ist doch der Wahnsinn! – Auch wir sind davon nicht frei.« 

Alexander Wewerka / Copyright Tobias Bohm
Alexander Wewerka / Copyright Tobias Bohm

Kunst, so stimme er mir zu, könne durchaus eine Gegenstimme dazu sein, selbst wenn sie derzeit noch eher dünn klinge, aber er sei sich sicher, dass sie wieder erstarken werde. Wer sich der »amerikanischen Bequemlichkeit« entziehe, von Plastikfolie über Kurzstrecke im Pkw bis coffee-to-go, wird nicht gleich die Welt verändern, doch sei es ein erster Schritt. »Mir sagte einmal einer: ›Der Kapitalismus ist das einzige System, das es schafft, die Probleme, die es erzeugt, wieder zu lösen.‹« Er sei sich dessen nicht unbedingt sicher.« Selbst wenn er beobachte, dass kritische Stimmen und Infragestellungen wieder stärker werden. Das beginne allerorts; und das sei gut so, es münde in die Forderung, mit diesem »Unsinn« ein für alle Mal Schluss zu machen, und das eigene sowie das allgemeine Verhalten zu verändern. Begleite er seine Tochter zu den Demos der »Fridays for Future«-Bewegung, nehme er wahr, wie etwas Neues beginne. Der Wandel, sagte Alexander Wewerka, liege schon in der Luft, ein Umdenken habe bereits begonnen.

Museum Hamburger Bahnhof
Museum Hamburger Bahnhof

Ich starre auf Beuys »Ende des 20. Jahrhunderts«, das mir auch »Erbe des Kapitalismus« heißen könnte: Versprengte Prismen, die an in Leichentuch gehüllte Körper erinnern. Ich frage mich manchmal, ob wir das Recht haben, all unsere Hoffnung auf diese junge Generation zu setzen, ob wir uns damit nicht auch der Verantwortung für unsere Rolle als Verursachende zu entziehen versuchen. Zeitweise dünkt es mich so, betrachte ich meine erwachsenen Kinder oder höre ich mich sagen: Endlich nahe das Handeln in gesellschaftlicher Breite zu all den Reden und Initiativen, die meine Generation in den 1980er-Jahren mitgestaltete, um irgendwann frustriert in kleiner Privatheit mehr oder weniger zu versanden. Möge es ihrer Generation anders ergehen! Wenigstens wird immer mehr Menschen klar, dass die Haltung der Ich-AG und Dahinter-die-Sintflut! zum Scheitern verurteilt ist! Auch dieses »Erbe des 20. Jahrhunderts« macht, wie jeder Wandel, Angst, und manchmal fürchte ich, da wird noch einiges auf uns zukommen, die Flucht in die Scheinwelten der Wohlfühlfilme und Sommerkussromane ist jedenfalls keineswegs eine Lösung … 

»Ein guter Künstler legt den Finger auf wunde Punkte, spürt dem nach, was nicht funktioniert«, so Alexander Wewerka. – Und eine gute Künstlerin?

Erst recht.

Ja, der nötige Wandel liegt wahrlich auf allen Tischen! Zu dem Schluss kam ich auch zuvor bei »Secession Verlag für Literatur« – Fürwahr, ein vielversprechender Zusatz! –, bei denen ich heute Vormittag zur Recherche war; wählte mir instinktiv den Stuhl an der Wand. Christian Ruzicska brachte Kaffee, rückte mit seiner Frage nach meiner Sichtweise den Blick auf die literarische Landschaft, Joachim von Zepelin eilte herein; die Fensterzeile drängte in ihren Rücken – ich sollte dringend meine Sitzgewohnheiten überdenken! Im Gegenlicht sind kaum Feinheiten der Mimik wahrzunehmen; der Lichthof dahinter, inmitten all des Hausgraus eine Baumkrone, Blätterwehen am unteren Bildrand: Die Nische kennt ihre Konsequenzen; was Jürgen Volk vom Verlag »duotincta« zur Schädlichkeit von Mono-Kulturen brachte – ein Umdenken tue not, um der Vielfalt ein Weiterleben zu gewähren; es sei eine Entscheidung, die man treffe. Ruzicska und Zepelin nennen es gleichfalls so: Wer im großen umkämpften Markt mitspielen wolle, habe bewusst Titel aufgrund »vermeintlicher Marktgewohnheiten und Tendenzen« zu wählen, die eventuell als Bestseller funktionieren könnten, hat dafür eine Maschinerie zu ölen, die mindestens vier jener Verdachts-Werke im Spiel um More-of-the-same! positionieren kann; und dann jeden Monat 50 Münder zu stopfen. Alexander Wewerka sprach davon, dass Bestseller, einmal erzielt, süchtig machen, wohl gerade weil ihre Realität in Wahrheit so selten sei. Er wies mich darauf hin, dass »Suhrkamp« seinen ersten wirklichen Bestseller mit einem Isabel Allende-Titel gehabt habe, es sei also noch nicht besonders lange her. Doch einmal solch ein Erfolg, und alles sei auf immer verändert: Es bedinge eine andere Haltung, plötzlich werde die krampfhafte Suche nach dem nächsten Bestseller zur Programmfrage. 

Statt krampfhafter Suche nach more-of-the-same, ließe sich jedoch auch der Fokus auf die Sehnsucht nach dem Noch-Ungesagten, auf das Fehlende legen, um so einen neuen Diskurs zu intendieren. Mona Müry nennt dies ›das Prinzip Hoffnung‹: »Es ist die Sehnsucht nach einem Wort, das mich aufhorchen lässt, das mich fragt, mich trifft, ein Wort, das länger hält. Und vor allem ein Wort, ein Text, mit dem und zwischen dem das Nicht-Sagbare eine Heimat hat, einen Raum hat: Dass das Wort, der Text auf ein Mehr verweist, auf ein anderes, auf das, was nicht mehr mit Worten ausgedrückt werden kann; aber es braucht die Worte, um diesen Raum zu öffnen.«

Beuys, Richtkräfte einer neuen Gesellschaft, Staatliche Museen zu Berlin, »Hamburger Bahnhof«
Beuys, Richtkräfte einer neuen Gesellschaft, Staatliche Museen zu Berlin, »Hamburger Bahnhof«

Ich denke an Beuys’ Tafelbild im Nebenraum, welches den Titel »Richtkräfte einer neuen Gesellschaft« trägt. Vom Jahr 1974 künden »east« und »west« als verblasste Begriffe unserer Historie, einzig die »truth« als Wahrheit steht noch klar sichtbar in der Mitte einer der Schultafeln, von denen sich drei auf Staffeleien über die anderen 97 am Boden erheben. Was einst »westlichen Privatkapitalismus« von »östlichem Staatskapitalismus« als Berliner Mauer trennen sollte, ist gefallen, der Kapitalismus ist trotz des Wandels unserer Welt bislang unverrückbar als Erbe der Jahrhunderte geblieben. Wie auch immer man dieses Tafelbild liest, den Spazierstock nicht vergessen, der an einer Staffelei hängt, ob als Reminiszenz an eigene Versuche verzweifelten Wissenserwerbs, ob als allgemein politische Erzählung, Beuys’ Tafelchaos, regt das Nachsinnen an, weil der Blick im Einheitsbrei des Tafelschwarz’ sogleich nach der Differenz forscht, das Besondere sucht. Wie in der literarischen Landschaft: Die Blaue Blume im Weizenfeld sticht eben hervor und bedingt Resonanz. Weshalb haben die sogenannten Publikumsverlage den Glauben daran verloren? 

 

Fortsetzung: »Fragmente & Frakturen II«