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Von pinken Koffern und vier Büchern

Meine Koffer sind gepackt. Ich werde in Bälde abreisen, mein Zuhause verlassen, oder um genau zu sein, in 46 Stunden werde ich hunderte Kilometer nordwestlich ankommen, um dort meine neue Stelle als Stadtschreiberin in Magdeburg anzutreten. Zwei Koffer in Pink stehen seit gestern im Gang. Nicht weil ich Pink liebe, tragen sie diese Farbe durch die Welt, sondern sie waren ein Geschenk zum Geburtstag von einem, der meinte, diese Transportboxen für Lebensinhalte wären violett. Mich tröstet über das grauenhafte Pink der Vorzug, dass sie zwischen dem üblichen Grau, Schwarz, Dunkelblau derart auffallen, weithin sichtbar auf jedem Förderband einer Flughafen-Ankunftshalle, in der Gepäckablage in den Zügen. Das rechne ich ihnen hoch an: Ich brauche nie mühsam nach ihrem Verbleib zu suchen.

Wer wie ich als Künstlerin normalerweise im Unterwegs-Sein lebt, weiß diesen zeitsparenden Vorzug zu schätzen; und kennt außerdem die strenge Liste aller Dinge, die hineindürfen. Keine einfache Entscheidung, insbesondere dann nicht, wenn die Zeitspanne, die man auswärts verbringt, eine über mehrere Monate ist. Zurück blieben neben vielem anderen auch ein Stapel Bücher, deren Lektüre seit Monaten am Programm stand, und dem das Leben mehrere fette Striche durch meine Rechnung machte: Sie können nicht mit. Ich aber, ich soll die Rezensionen fertiggestellt haben, bevor ich abreise … Da ist einmal der schmale, verhalten gelbe Band, dem ein Titel in Blau aufgedruckt wurde:

»In meinem Bart 

versteckte Geschichten« 

Nein, der Umbruch dünkt mir kein Zufall, sondern Absicht zu sein. Verfasst von meinem Kollegen Hamed Abboud, dessen Name sich in derart hellem Silber auf das Cover schlich, als müsse er sich dafür entschuldigen, dort zu stehen oder so zu lauten. Die in jenem Band versammelten Geschichten changieren zwischen Bericht, Poesie und Verteidigung und erzählen von einer Flucht vor dem Krieg, von einer Ankunft, in der sich keine Normalität einstellt und nie einstellen wird, von einem Alltag des Seins. Nicht um der Erzählungen willen sage ich euch, lest diesen Band, nein, sondern um der dazwischen abgedruckten Lyrik willen. Sie hielten mich in ihrer Schönheit nächtelang vom Schlafen ab:

»Als ich klein war 

träumte ich, dass Gott mit mir Verstecken spielt

und danach verschwindet«

Nannte ich sie Gedichte? Sie sind weitaus mehr noch, sind zarte Miniaturen, in deren Falten sich Erzählungen verbergen. Und ein Schmerz, ein tiefer, der berührt.

»Sie werden auf meinen Grabstein schreiben:

In seinen letzten Augenblicken

beschimpfte er jene, die vorbeigekommen waren

und jene, die nicht vorbeigekommen waren

in astreinem Deutsch«

So endet die letzte dieser Impressionen, in die ihr, liebe Leser*innen, unbedingt eintauchen solltet – und du, lieber Hamed Abboud, verzeih bitte diese ungewöhnliche Rezension und schreibe einen weiteren Band: mit Gedichten! Dem Verlag Korrespondenzen sei er als Bereicherung deutschsprachiger Literatur dringend zur Publikation empfohlen. 

 

Zurück bleibt auch ein Band, der mir seitens des »Hoffmann & Campe Verlags« ans Herz gelegt wurde: »Ein Versteck unter Fremden« ist sein Titel. Ich beendete die Lektüre vor Monaten, doch die Rezension verzögerte sich; um nicht zu sagen, ich schob sie vor mir her wie einen Zahnarzttermin. Nicht nur des Lebens und seiner Wechselfälle wegen. Sondern weil ich nicht wusste, ob es an mir oder an dem Werk lag, dass ich mir so schwer damit tat. Dabei hatte mich doch von Anfang an der Klappentext gefesselt, noch bevor ich das Buch in die Hände bekam. Er aber führte mich auf eine Spur, dem das Werk nicht entsprach. Darin heißt es, die Autorin, Roxane van Iperen, sei  2012 mit ihrer Familie in eine alte Villa gezogen, der sie sich von Anfang an nahe fühlt, ohne irgendetwas über jenes Haus zu wissen. Während der dringend nötigen Sanierungsarbeiten an jenem alten Haus entdeckt sie in doppelten Böden und Hohlräumen, Zeugnisse einer früheren Generation, Dokumente. Sie macht sich auf die Suche und findet heraus, wer einst in jener Villa lebte: Es war das Zuhause der beiden jüdischen Schwestern Lien und Janny Brilleslijpers, die in jener Villa verfolgte Juden versteckten und den Widerstand organisierten – direkt vor den Augen der niederländischen Nazis, welche in jenem ländlichen Umfeld des urbanen Raumes bevorzugt residierten. Ich erwartete, von der mühsamen Spurensuche zu lesen, vom Versuchen und Scheitern und erneutem Versuchen Überlebende zu finden, die einst hier gewohnt hatten – manche monatelang, andere nur für Tage – und ich konnte der Autorin nicht verzeihen, dass sie beginnt: »Amsterdam, 1912. Wenn die Schlacht um den Nieuwmarkt anders ausgegangen wäre, hätte es die Familie Brilleslijper wahrscheinlich nicht gegeben […]«, und so weiter und so fort: eine klassische Biographie der beiden Schwestern.

Hat eine Rezensentin das Recht irritiert zu sein, weil ein Werk so gänzlich anders ist wie der Klappentext einem vermittelte? Nein, hat sie nicht. Aber sie hat das Recht zu bedauern, dass sich nicht Gegenwart mit Vergangenheit verwob. Vor- und Nachwort trösten nur wenig darüber. Und trotzdem die Sprache stellenweise wahrlich holpert: Die Biographie der beiden Schwestern, die Geschichte des Hohen Nests, einer Zentrale des niederländischen Widerstands, sei dennoch zur Lektüre empfohlen; insbesondere all jenen, die bis heute behaupten, Jüdinnen und Juden hätten sich während des sogenannten Tausendjährigen Reiches, das keine Tausend und dennoch jeden einzelnen seiner Tage viel zu lange währte, willig in den Tod schicken lassen. Roxane van Iperens Recherchearbeit und Darstellung belegt für die Niederlande das Gegenteil: Es gab jüdische Widerstandskämpfer! Und es gab jüdische Widerstandskämpferinnen! Alles andere ist der Versuch, die Fakten zu verdrehen, um denjenigen, die verfolgt und ermordet wurden, eine Teilschuld in die Schuhe zu schieben. 

Von einer dieser Widerstandskämpferinnen stammen folgende Zeilen:

»Wenn gekämpft werden muss, muss gekämpft werden. Man kann sich selbst nicht untreu werden. Man kann sich selbst auch nichts vormachen. Wir standen für etwas ein. Wir haben getan, was wir tun mussten, was wir tun konnten. Nicht mehr und nicht weniger.«

(Janny Brandes-Brilleslijper)

 

Zurückbleiben muss auch der schmale Band »Wense« von Christian Schulteisz, erschienen im »Berenberg Verlag« über einen historischen Dilettanten in tausenderlei Dingen namens Hans Jürgen von der Wense, einen ewig Forschenden, und dessen Jahre im zerbombten Kassel. Es ist Krieg. Auch hier. Aber wer nun eine Erzählung zu diesem Kapitel unserer Historie erwartet, wird falsch liegen. Dafür sorgt einerseits Wense als reales Vorbild und kreierter Charakter und andererseits Schulteisz Sprache mit ihrer feinen Ironie:

»Sie haben Deutschland das Horoskop gestellt?«

»Sie finden es lächerlich.«

»Im Gegenteil« sagt er [Wense]. »Horoskope von Staaten gehören zum Wichtigsten. Welche Gründungsdaten haben Sie herangezogen?«

»Ja, das ist die Frage. Was war entscheidend für das Reich, Bismarcks Verfassung oder die Proklamation des Kaisers? Beides ergab kein sinnvolles Bild, auch die Änderungen der Verfassung nicht.«

Ob Wense ebenso sprunghaft war, wie Schulteisz ihn in seiner Annäherung durch flinke Themenwechsel darstellt, sei dahingestellt; ob die kurzen Sätze, die sich an entscheidenden Stellen noch weiter verknappen, seiner Persönlichkeit entgegenkommen ebenso. Dass Schulteisz hingegen der Erläuterungsmanie aufsitzt und zwischen zwei Dialogzeilen glaubt, seine Figur, ihr Verhalten und dessen Beweggründe erklären zu müssen statt solches in kleinen Szenen darzustellen, ist nicht unwesentlich. Auch dann nicht, wenn man einwendet, dass dies gegenwärtig eh fast alle so fabrizieren, weil sie dem Erzählen nicht mehr vertrauen (oder der Intelligenz der Lesenden?), trotzdem: Das verzeihe ich ihm nicht, denn solche Manöver lesen sich (für mich) unerträglich:

»Er stürzte vom Pferd.«

»Aber nicht im Felde«, betont sie.

Wense schweigt, er will nicht verraten, dass es während einer Parade geschah.

Dieses Detail der Handlung hätte man auch mit zwei Sätzen mehr darstellen können! Was Schulteisz aber gelang, ist das Aufzeigen, wie nahe Irrsein und Verstand beieinander liegen können, wie eine winzige Drehung im Blickwinkel alles verändert, und man sich fragt, was man da lese: Die Geschichte eines Schelms, der überleben will? Die Geschichte eines Irren, der in seine eigene Welt abgetaucht ist, weil die der anderen unerträglich dünkt? Oder beides? Das ist das Faszinosum an »Wense«!

 

Und gleich noch einmal: Krieg. Verfasst rund zehn Jahre danach. Nicht bloß ›nach dessen Ende‹, sondern zehn Jahre nach der Befreiung des Kunstsammlers und Psychoanalytikers Carl Laszlo aus einem KZ schrieb er seine »Ferien am Waldsee. Erinnerungen eines Überlebenden« und dies bewusst zu einem Zeitpunkt als alle just vergessen wollten. Erschien das knappe Büchlein deshalb 1955 im Selbstverlag? Ich weiß es nicht.

Laszlo stellt sich zu Beginn selbst die rhetorische Frage, warum man die Vergangenheit nicht endlich »als erledigt« ansehen könne, warum müssten »[…] die Verstorbenen und ihre Henker wieder für die Toten und die Taten zeugen […]«? Und er fährt wenige Zeilen später fort:

»Ich habe absichtlich zehn Jahre gewartet, um Abstand zu jenen Ereignissen zu gewinnen und von den unvermeidlichen Ressentiments so weit als möglich freizuwerden; heute glaube ich darüber sprechen zu können. Die Aktualität der hier mitgeteilten Erlebnisse scheint mir außer Zweifel zu sein. So wie die Verdrängung unverarbeiteter Erlebnisse später zu einer gestörten Entwicklung des individuellen Charakters führen kann, so besteht auch die Gefahr, dass die Erlebnisse, welche bei Opfer und Verfolger der Konzentrationslager, ungelöst und unaufgeklärt, mit Affekten höchster Intensität beladen, unterdrückt und vergessen werden sollen, heute oder später in bekannten oder unvorhergesehenen Formen wiederkehren. Darum ist heute die Vergegenwärtigung der Konzentrationslagererlebnisse für Leser und Schreiber unter Umständen nicht ohne Gewinn.«

Streichen wir ›unter Umständen‹ (oder schreiben wir diese Einschränkung einer gewissen Vorsicht zu, ergänzen stattdessen ›für diejenigen, die bereit sind, sich einzulassen). Und lesen wir Laszlos Überleben, ergänzt um die Erzählung eines wesentlich jüngeren Zeitzeugen, der Laszlo in den Jahren nach dem Krieg kennenlernte.

Carl Laszlo soll gesagt haben: »Erinnern ist das eigentliche Leben.« Ich bin und bleibe skeptisch. Doch wer weiß: Vielleicht muss ich ihm eines Tages recht geben? Wen der Titel dieser Erinnerungen Laszlos zynisch dünken, die bei Mengele beginnen, ihren Weg durch fünf Konzentrationslager nehmen, dem sei gesagt, der Wortlaut stammt von den aufgedruckten Grußkarten, welche die Nazis im Namen der Verschleppten versandten. Zynisch waren sie. Nicht der Titel dieser Erinnerungen, auf die sich einzulassen ich nur dringend empfehlen kann! 

Meine pinken Koffer mahnen zur Eile. Auch in ihnen ruhen bereits Bücher – zur Lektüre, zur Recherche und Reflexion. Diese vier Werke aber, drei davon so auffallend dünn (War das Jahr 2020 das Jahr der schmalen Publikationen?), sie werden im niederösterreichischen Kleinbaumgarten zurückbleiben, eingereiht in die Bibliothek meines Zuhauses, um Ihnen wie auch meinen jungen beiden Mitbewohner*innen dringend zur Lektüre empfohlen zu werden.

 

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Quellen:

Abboud, Hamed: In meinem Bart versteckte Geschichten. Wien: Edition Korrespondenzen 2020. S. 160. (ISBN 9783902951441)

 

Iperen, Roxane van: Ein Versteck unter Feinden. Die wahre Geschichte von zwei jüdischen Schwestern im Widerstand. Hamburg: Hoffmann & Campe 2020. (ISBN 978-3-455-00645-2)

 

Schulteisz, Christian: Wense. Berlin: Berenberg Verlag 2020 S. 128. (ISBN 978-3-946334-67-5)

 

Laszlo, Carl: Ferien am Waldsee. Wien: dvb Verlag 2020. S. 160. (ISBN 978-3903244047 )