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Michel Houellebecq »Ein bisschen schlechter«. Oder: »Gott will mich nicht.« Die Erfahrung der Daseinserschöpfung.

Man muss kein*e Hellseher*in sein, um den Niedergang unserer Zivilisation zu bemerken; falls sie je zivilisiert und hochstehend gewesen sein mag, oder wenigstens länger als kurz blühte – wessen ich mir gar nicht so sicher bin. Dafür ist Michel Houellebecq kein Lorbeerkranz zu winden. Der gebührt ihm eher dafür, dass er in seinen Romanen seine Sicht auf die Wurzeln des Elends ohne Scheu vor Aufruhr thematisiert, eine Sicht, die man teilen kann oder auch nicht. In ihnen nimmt er sich den Raum, den die Interventionen aufgrund ihres Konzepts als Werkschau verstreuter Reden, Essays und Interviews  nicht haben, sodass sie einem – insbesondere bei »Ein bisschen schlechter« – manchmal weniger eine Auseinandersetzung zu sein dünken, sondern wie ein Abschreiten aller Baustellen unserer Gegenwart wirken – Gott und die Welt quasi. Zu jedem Reizthema des vergangenen Jahrzehnts drei Sätze, ein flapsiger Kommentar: Ja, mancher mag dieses leicht ärgerliche Fazit als Lektüreeindruck mitnehmen, doch lässt dieser Schluss in meinen Augen Wesentliches außer Acht.

 

 

Was Intervention meint.

 

 

Der Titel »Interventionen«, welcher in der deutschen Übersetzung vernachlässigt zum Subtitel wird, könnte bezüglich der Intention dieser Publikationsreihe für etwas mehr Klarheit sorgen, weil jener Titel das Punktuelle in den Blick rückt: Diese Interviews, Reden und Essays entstanden als Eingriffe, die per definitionem etwas verhüten sollen: einen schlimmen Ausgang, eine weitere Entwicklung in eine Richtung. Sie haben einen aufrufenden Charakter, keinen analysierenden. Deswegen reißt diese bloß lose zusammenhängende Sammlung Themen nur an und ruft zur eigenständigen Auseinandersetzung damit auf.

Die Bandbreite reicht von Religionen jedweder Couleur, mal fundamentalistischer, mal weniger, vom Islam über den Katholizismus bis zum Protestantismus; Feminismus, Konsum und Kommerz sind ebenso Thema wie Trump, Tourismus, Tierhaltung, Sterbehilfe, Europäische Union und Corona. 

Wer sich also eine fundierte Analyse, tiefschürfende Gedanken, denen Raum gegeben wird oder Handlungsansätze gar erwartet, wird folglich enttäuscht werden. Das kann und will der Band nicht leisten. Er ist vielmehr ein Überblick, ein Ausgangspunkt, vielfach auch ein eingenommener Standpunkt an der Oberfläche; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ob es einem genügt, ist wohl Ansichtssache. 

 

Denken oder provozieren: Wer schafft wem die Bühne?

 

Der zweite Subtitel ›Essays‹ verweist auf den Versuch, ein Thema – nicht unbedingt erschöpfend – abzuschreiten und die Einladung an die Lesenden, sie mögen einen im Denken begleiten. So betrachtet ist der Essay die Wurzel allen Schreibens; und meines Erachtens vor allem auch »ein Heilmittel gegen die Daseinserschöpfung« wie einer der Essays in »Ein bisschen schlechter« heißt. Diese Daseinserschöpfung des zeitgenössischen Menschen, der haltlos durch die Zeit treibt, könnte als das Houellebecqsche Grundthema gelten. Es ist diese grundsätzliche Erschöpfung, die auch in der Aussage »Gott will mich nicht, wissen Sie. Er hat mich zurückgewiesen.« (71) zu Tage tritt. Bedauerlicherweise haben die Interviewenden, der Autor Marin de Viry und die Journalistin Valérie Toranian darauf nichts anderes zu sagen als: »Das ist Hochmut!«, um auf Houellebecqs Entgegnung »Das ist überhaupt kein Hochmut.« das Thema zu wechseln. Schade! ›Bleibt dran!‹, möchte man brüllen. ›Hakt nach, verschenkt doch nicht eure Chancen! Muss denn wirklich jedes Interview im Blabla versanden? Wieso schafft ihr so eine Bühne für die Provokation um der Provokation willen? Die interessiert doch niemanden mehr! Dann druckt den Sager doch gar nicht ab!‹

 

 

Seine Maßnahmen, sein Entwurf – wer sich davon provoziert fühlt, ist selber schuld.

 

So ergeht es einem übrigens bei mehreren der Dialoge, sobald sie vom eingangs festgelegten Schwerpunkt abschweifen. Dass »Ein bisschen schlechter« im Vergleich zu vorherigen Interventionen ein bisschen schlechter abschneidet, hat auch damit zu tun, dass neben den vertiefenden und sehr erhellenden Einblicken in Houellebecqs Reflexionen zu seinen eigenen Romanen kaum neue gesellschaftspolitische Gedankenansätze hinzukommen: Der Feminismus bedeutet noch immer das Elend des Privatlebens und das Ende der gesellschaftlichen Blüte, dogmatische Glaubensrichtungen erhalten Zustrom, weil sie in haltloser Zeit Halt geben. Und die Politik geht fehl. Im Gespräch mit dem Autor Frédéric Beigbeder – übrigens ein ungemein witzig und gewitzter Dialog über das Schreiben, die Verlagswelt, die Kritik – klingt auch ansatzweise Houellebecqs politisches Konzept an: Abschaffung des Parlaments, Einführung einheitlicher Direktdemokratie, Staatspräsident auf Lebenszeit, wobei ihm das Amt durch Volksabstimmung jederzeit wieder entzogen werden kann, Amt des Richters per Wahl vergeben (Die ausschließlich maskuline Form des Nomens ist wohl kein Zufall.). Und zur Verteilung des Staatshaushalts: Wie viel und auch wofür, das soll die Bevölkerung entscheiden. »Wir brauchen mehr direkte Demokratie, wenn wir aus der Krise der politischen Repräsentation, in der wir uns befinden, herauskommen wollen. Wenn meine [sic] Maßnahmen nicht umgesetzt werden, steuern wir auf eine Katastrophe zu.« (S. 35) Und als Frédéric Beigbeder nachhakt, lautet die lapidare Antwort: »Rousseau hat für Polen einen Verfassungsentwurf erarbeitet. Dies ist ›mein Entwurf für Frankreich‹.« (S. 35). Wer sich davon provoziert fühlt, ist selber schuld und sollte sich fragen, warum … 

 

 

Wider die Oberflächlichkeit

 

Faszinierend sind die in »Ein bisschen schlechter« versammelten Texte vor allem dann, wenn Houellebecq über Philosophie und Literatur spricht – sei es sein eigenes Schaffen, sei es Literatur im Allgemeinen: Pascal, Comte, Schopenhauer, der bereits erwähnte Huysmans … Weil sie nicht an der Oberfläche bleiben, es dabei nicht um die Provokation an und für sich geht! Auch die wird in der Wiederholung eben langweilig. Vielleicht wäre ein Band der Reflexion über Literatur eine sinnvolle Idee für »Interventions nouvelles 2030«? 

Denn das Grundkonzept und die Auswahl kann dem Autor, der Autorin angelastet werden, nicht aber die zeitgenössische Interviewunkultur, die Autor*innen zu allem und jedem befragt, ohne dass ihnen jedoch der Raum gegeben wird, einen Gedanken umfassend auszubreiten (Oder sie diesen Raum nicht in Anspruch nehmen.). Ein solcher nicht ausgebreiteter und daher einzig schemenhaft bleibender Gedanke ist auch die bereits angesprochene Auseinandersetzung des – laut eigener Aussage – Agnostikers Houellebecq mit dem Katholizismus, das einzige neue Thema dieses Bandes; eine Auseinandersetzung, die einem deutschsprachigen Lesenden, ist er des Französischen nicht mächtig, vielleicht bislang entgangen sein könnte. Sie lässt sich darin subsumieren, dass der Katholizismus uns vor der Daseinserschöpfung retten könnte; wäre er anders als er ist. Die Aussage ›Gott will mich nicht‹ erinnert an das Kind, welches sich am Tischbein stößt und alsdann den ›blöden Tisch‹ personifiziert und für den eigenen Schmerz verantwortlich macht. Eine agnostische Grundhaltung wird man wohl gegenwärtig bei der Mehrheit der Intellektuellen finden. Für die einen mag sie aus der Abwehr der institutionellen Kirchen stammen, für andere in der Problematik des Glaubens als Konstrukt an und für sich verwurzelt sein. Oder beides in sich vereinen. Auf die Idee, dies in ›Gott will mich nicht‹ zu subsumieren, kommt nur einer, der verinnerlicht hat, dass die Provokation ihn auf die Titelseite bringt, der relevante Inhalt hingegen nicht. Womit wir wieder am Anfang wären: Man muss kein*e Hellseher*in sein, um den Niedergang unserer Zivilisation zu bemerken …

 

Wenn der Rubel rollt

 

Eine Anekdote kommt in »Ein bisschen schlechter« übrigens zwei Mal vor; einerseits im bereits erwähnten Essay »Ein Heilmittel gegen die Daseinserschöpfung« und andererseits in »Der verlorene Text«: In einem Dorf in der Provence bittet die Gemeindeverwaltung ihre älteren Einwohner immer dann zu Boule und Pastis auf den Dorfplatz, wenn sich ein Bus mit Tourist*innen nähert. Für die inszenierte Fortsetzung ihres gewohnten Lebensstils stockt man ihre Rente auf. 

So spielt eben jeder seine Rolle; auch das alternde Enfant terrible Michel Houellebecq, und man darf gespannt sein, welche Thematik er sich für den nächsten Roman auswählt. Womöglich wird es ja dann, was er – eigener Aussage nach – gegenwärtig noch nicht wagte: einen Christen gestalten.

 

Houellebecq, Michel: ein bisschen schlechter. Köln: Dumont Verlag 2020.