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Goldbloom »Eine ganze Welt«. Oder: Aufbrechen, weil einen die Welt berührt

Goldie Goldbloom (geb. 1964) greift in ihrem Roman »Eine ganze Welt« ein Thema auf, welches gerade allerorts debattiert wird. Nein, ich meine nicht das weibliche Älterwerden, samt Menopause und damit einhergehende schwankende Welten, sondern das zweite zentrale Thema ihres Romans: Wie engherzig und -stirnig sind homogene Welten, die abgeschlossen vom Rest der Welt als Inseln in unserem Universum existieren? Ein Stoff, den Netflix für sich entdeckt hat – nachdem »Unorthodox«, der Roman von Deborah Feldman, für Aufsehen sorgte. Und während »Unorthodox« die Geschichte einer jungen Suchenden ist, »Shtisel« (nach einer Idee von Ori Elon und Yehonatan Indursky) das maskuline und humorvolle Pendant dazu liefert, wird im Roman »Eine ganze Welt« davon erzählt, wie diejenige der 57-jährigen Surie aus den Fugen gerät, als sie Schwarz auf Weiß im Ultraschallbild bestätigt bekommt, was sie bereits ahnt: Schwanger ist sie! 

Ein Roman über die Körperlichkeit einer älteren Frau also, und ich frage mich, ob er auch reüssiert hätte, könnte er nicht mit dem Exotenbonus punkten, der es einem außerdem erlaubt, alsdann noch uneingestandene antisemitische Tendenzen auszuleben: ›Deren Welt ist auch nicht in Ordnung und Schuld daran sind nicht wir anderen …‹; schließlich war Abgrenzung einst auch eines der ersten virulenten Schürhaken. Ja, ich gebe es zu, ich kann mich eines leichten Unwohlseins nicht erwehren, betrachte ich diesen Boom einer kritischen Auseinandersetzung mit orthodoxen Religionsgemeinschaften in säkularer Welt.

In »der Ganzen« wird jedenfalls die Geschichte einer Schwangerschaft erzählt, und Verursacher ist kein anderer als Ehemann Yidel, mit dem Surie seit Ewigkeiten verheiratet ist. Was anderen ein Glücksfall ist, wird für die Großmutter Surie zum Unglück. Denn die chassidische Gemeinschaft, in der sie verankert ist, lebt nicht nur nach strengen Regeln, es gibt darin auch so manche Frau, so manchen Mann, die oder der streng darauf achtet, dass alle in diesem rigiden System verharren. Nicht zuletzt Suries älteste Tochter. Diese Welt sieht weder Aufklärung noch das Sprechen über Sexualität vor, Fortpflanzung ist primäre Aufgabe der Frau – sexueller Genuss, Begehren sind tabu. Wer gegen Normen verstößt, riskiert den Ausschluss. Wie bei allen Lebensformen, die vergessen, dass ›der Sabbat für den Menschen ist‹ und nicht der Mensch zur Erfüllung des Sabbat geschaffen wurde, um es bildlich auszudrücken. Eine derart späte Schwangerschaft ist nicht nur ein Regelverstoß, ihr monumentaler Bauch – Surie erwartet obendrein Zwillinge – ist das sichtbare Zeichen dafür, dass sie in ihrem Alter noch Sex hat: undenkbar! Eine Schande; die obendrein die Heiratsaussichten der jüngsten Söhne, Teenager noch, radikal verschlechtern wird. Man wird den Stab über sie brechen und nichts verstehen; so wie man auch bislang nicht verstand, dass sie ihren Mann Yidel begehrt, es genießt, wenn er sich zu ihr legt. Nur darüber konnten Surie und Yidel den Mantel des Schweigens breiten, keiner brauchte dieses Geheimnis je zu erfahren. Den riesigen Bauch zu verbergen, das wird jedoch zusehends unmöglicher. Jede und jeder müsse die Schwangerschaft im sechsten Monat längst bemerken; meint man. Doch weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wird Surie ungefragt darauf hingewiesen, sie sei nun wirklich etwas zu dick, ob sie sich nicht mäßigen könne? Wenigstens bei den Schokoladetörtchen! 

Und Yidel? Bemerkt nichts. Oder doch? 

Denn dass Surie ihm gereizt begegnet, ihn zurückweist, sich vor ihm verschließt, das hat es bislang noch nie gegeben. Und dennoch schweigt er.

Tag für Tag wartet Surie– auf Yidels Ansprechen, auf eine gute Gelegenheit, auf ausreichend Mut –, und währenddessen wird das Aussprechen des Unerhörten immer undenkbarer. Als sie es endlich wagt, glaubt ihr keiner. Jeder meint, sie scherze bloß.

Langsam bildet sich im Hintergrund des engen Familienverbandes noch eine weitere Geschichte aus, ein zweites Versäumnis des Sprechens und Handelns füreinander, welches einen ihrer Söhne, Lipa, vor einigen Jahren in den Tod trieb: Homosexualität existiert in dieser Gemeinschaft schlichtweg nicht, und als Lipa sich, mit gerade mal 20, unaufgeklärt, bei ersten Exkursionen in die weite Welt, mit HIV infiziert und danach dringend der familiären Fürsorge, der Pflege bedurft hätte, schafft es die Familie nicht, in ihm weiterhin den Sohn und Bruder zu sehen und auch gegenüber der Religionsgemeinschaft zu ihm zu stehen. Er sollte sich auslöschen, das wäre allen das Liebste gewesen. Doch als er dies wahrhaftig tut, bleibt das Entsetzen zurück; und er als Schatten im Leben der anderen. Im Gegensatz zur restlichen Familie, kann Surie die Schuld, die sie über ihr Verhalten empfindet, nicht abschütteln: Sie will endlich sprechen und Lipa nicht weiterhin totschweigen müssen!

Erst das Einschreiten ihrer blinden Schwiegermutter Dead Onyu sowie das Eingreifen einer Außenstehenden, können den Zusammenbruch Suries in einen Aufbruch wandeln.

Es ist ein berührender Roman, welcher der gebürtigen Australierin und Chassidin Goldie Goldbloom, die seit längerem schon in Chicago lebt, mit »Eine ganze Welt« gelang, ein Erzählung, die auf mehreren Ebenen um zentrale Fragen des Lebens kreist: Wie viele Regeln und welche braucht eine Gemeinschaft, um nicht auseinanderzubrechen? Wo verläuft der schmale Grad zwischen hilfreichen und einengenden Systemen? Wann werden sie zum Hindernis, tragen zur Zerstörung des Einzelnen bei? Wie viel Geheimnis braucht ein Mensch, und wann wird es zur erdrückenden Last? Und wie viel Menschlichkeit bedarf es, damit aus ›Was hast du dir dabei gedacht?‹ nicht mehr der Vorwurf tönt, sondern wahrhaftiges Interesse am Du wachsen kann?

Um diese Fragen kreist Goldblooms Roman und versucht Antworten darauf zu finden, die einfühlsam sind. Nicht der Bruch wird forciert, sondern die Balance. Und dies auf sehr berührende Weise, sprachlich eloquent, wenn auch ohne Einsatz von Strukturelementen: klassische, chronologische Narration. Während manche der Figuren rundum etwas blass bleiben, werden insbesondere die 13-jährige Miryam Chiena und Dead Onyu, Suries Schwiegermutter, sehr einfühlsam dargestellt. Berührend auch die Ausgestaltung der Figur Yidels, der es schafft, einen ebenso zu erstaunen wie Surie nach all den Jahren noch von ihm überrascht sein wird – denn nichts ist wie es scheint …

Wer sich für das Thema der Konfrontation mit starren religiösen Regeln interessiert, dem könnte übrigens auch »Ungehorsam«, der Debütroman der Britin Naomi Alderman, gefallen. In dieser Erzählung kommt die Generation der ausbrechenden Kinder zum Wort; mir dünkt, Aldermans Roman erschien ›zu früh‹… 2006 war das Thema Bisexualität und Religion nicht gefragt, das Tabu zu groß. Vielleicht wurde er auch deshalb zuerst teilweise vernichtend rezensiert? Zu Unrecht. Im Zug des Booms um »Unorthodox« wurde nun auch »Ungehorsam« verfilmt. Ich rate zur Lektüre des Romans. Oder der Romane. Ein Happy End kennen übrigens alle drei Werke zu dem Thema nicht. Wie denn auch?

 

 

Goldbloom, Goldie: Eine ganze Welt. Hamburg: Hoffmann und Campe 2020.