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VI Magdeburger Miniaturen

I Im Herzfleisch

 

 

… in uns alle 

Menschen

vor uns:

           Friedlich sei nun ihr Hof.

 

Wir: ihr 

           Gedächtnisacker. 

 

Erinnern wir 

ihre Geschichten 

finden sie 

ihr Gesicht

wieder.

 

(Helmut Lander: Endzeit)

II Der STachel Vergangenheit

 

 

Was aber, wenn wir im Getriebe, unaufhörlich,

im Hamsterrad, das ewig kreist –?

Es schwindeln und schwinden

Ideen. Wertlose Worte,

nur noch eine stetige Reproduktion ihrer selbst.

 

 

In dieser Materie verkommt der Geist.

 

Bis das Rad erschöpft kippt und fällt.

 

Da liegt er nun, der Kopf, der einst zum Sinnen geschaffen, sieht müde – ohne Wäsche.

 

Die Ruhe des Schauens – der Augenblick schweift.

Sagt wohl irgendwann wieder: 

                                           Ich. 

 

 

                                                 Ich denke. 

 

 

                                                 Ich bin.

 

(Heinrich Apel: Raum Zeit Materie)

 

III Am Horizont: Ewigkeit

 

 

 

Und sehne mich

nach meerblauer Weite, 

will ausflügeln und Schattierungen inhalieren,

will sinken in grüne Oasen tragender Ströme, als gäbe es –

                                       kein Gestern, 

                                       kein Morgen, 

im Schweben, 

bis das ›Jetzt‹ sich zur Ewigkeit des Horizonts dehnt – 

                             ohne Angstkram, 

                             ohne Sorgenfurchen, 

schwerelos.

 

(Jenny Mucchi-Wiegmann: das Jahr ’65)

 

IV Erneut: Vertrauen?

 

 

 

Breitest deine Hände aus –

um zu geben, zu nehmen,

was kommen mag –

NÄRRIN! 

 

 

 

Allem vertrauend, blind –

SELBST GEWÄHLT!

 

 

 

In schneedurschwebten Nächten, 

an sommerfrohen Tagen. 

 

 

Im Werden –

im Vergehen. 

 

(Fritz Cremer: Mutter Erde)

 

V Erneut: Vertrauen?

Doch – 

wer im Wort ist, darf sich nicht in Feigheit ins Schweigen schleichen, als wäre er 

 

… oder sie, denke ich …

als wäre er ein Dieb in der Nacht, sagst du. 

 

… eine Diebin…

 

Der Schatten deiner Hand malt sich auf deinen Schoß:

Wahrnehmen, was ist.

 

Deine Worte streichen über das Gras im Atem des Windes, verfangen sich in den Ästen.

Niemand antwortet. Nur die Trauer raschelt leise.

 

(Gustav Seitz: Käthe Kollwitz)

 

VI Wahrnehmen, was ist

Die Arme verloren, waren sie je Teil von dir? Wozu, 

wenn sie nichts berühren? Wozu 

zwei Beine, die nirgendwohin gehen?

Weshalb in unserem Schatten verharren –

als wäre er uns ein Vergnügen?

 

 

 

Nur Stummheit antwortet. 

 

 

 

Sie sollte keine Seele verwundern. 

Das Zwielicht der Zeit ist weit, zu weit. Wozu 

ein Herz, wenn es bloß sinnlos pocht?

 

(Margret Middell: Junge Frau)

 

VII Wogender Weite wegen

 

 

Und wer bei drei auf allen Bäumen, darf stimmlich im Wind rascheln. An einem Stamm: 

Keine gleich. 

 

Aus der Höhe der Riesen blicken sie im Überblick

herab, weil ihnen zu ebener Erde Augenhöhe verwehrt.

Keine Puppe:

zum erwachsenen Spiel geschenkt. 

Hat sie nicht ein Irisleuchten, das einzigartig ist? Und Lippen, die ihre Worten prägten?

Wohnt nicht hinter ihrer Stirn ein Universum eigener Gedanken?

Und ist der Mensch keine Insel, wohin soll er sonst fliehen, wenn nicht in Höhen, kennt er bereits alle Tiefen.

 

(Alicia Paz: Island of Dolls / Insel der Puppen)

 

VIII Eine Annäherung

Im Ausschreiten – beinahe: vorbei

an Küssenden, Kosenden – 

Stolpern: in das Erinnern, 

Und versinken

in der Stille aller Zeit, 

wenn Auge in Auge: 

                            blickt 

bevor Mund Mund: 

                          kost 

und das Weltenrund im Unwesentlichen verschwimmt.

All sein Lärmen: entrückt. 

 

 

Im Ausschreiten – beinahe: vorbei

– sich erinnern und lächeln,

während der Wind den Staub der Tage verweht …

 

(Christa Sammler: Liebespaar)

 

IX In fließendem Licht

 

… doch habe ich ›das fließende Licht der Gottheit‹ noch nie geschaut, nur – 

die Schönheit des Funkelns, streicheln Sonnenstrahlen die Elbe; oder bereichern reghafte Tropfen-Kreise mit Perlen und Pochen ihren Lauf. 

Habe am anderen Ufer die Herrlichkeit der Baumriesen umarmt, die allem trotzen, was kommen mag, 

minnekrank bin ich jedes Frühjahr und glückselig über Flockenschweben im Winter, kreise durch Zeiten –

in fließendem Licht.

 

(Susan Turcot: Die heilige Mechthild von Magdeburg)

 

X – Haben die Zeiten sich geändert?

Treffen vier aufeinander – braucht nur die eine

ihre Uhr, um allen späteren

zu erzählen, wie und was und wo:

                                                Es ist. 

 

Ihrer ›Wahrheit‹ –

mag man vertrauen. 

 

Oder auch nicht.

 

Dann stehen sie nebeneinander, die

Wahrheiten – 

kommen vielleicht sogar ins Gespräch?

 

(Gloria Friedmann: Zeitzähler 2007/2008)

 

XI erneut: vertrauen

Nein,

wir werden niemals unsere Imaginationsfauna im Kessel der Kälte abwaschen, da sei alles, was heilig ist, vor!

 

Und: Nein, 

wir werden unsere Traumgespinste nicht in dürrer Nüchternheit 

austrocknen und das Lachen vergessen.

 

Und: Nein,

wir werden den Geistwesen keineswegs den Rücken kehren 

– verloren wären wir, hilflose Menschenreste ohne Sommernachtstraum. Könnten nur stammeln: 

Wäre die Welt mein …? 

Würden aus ›Tadat und Warat‹* Nesselhemden stricken, 

uns daran verbrennen. 

Lieber fische ich dir perlende Scherenschnitte aus Licht, webe dir Flügel aus Gelächter, 

du reichst mir Birnen im Kleid der Feuersteine 

und sagst, ich hätte drei Träume frei –

Lass mich zusehen, wie die Denknattern kreisender Sorge im Ausguss verschwinden,

lass uns ausflügeln, sehne mich nach meerblauer Weite … 

Der Dritte aber: sei dein.

 

(* ›Tadat‹ – in der österreichischen Umgangssprache der Konjunktiv zu ›tun‹, ›i tadat‹ entspricht also keinem kindlichem Lalllaut, sondern bedeutet ›ich täte‹. Und ›i warat‹ steht dementsprechend für ›ich wäre‹.)

 

(Heinrich Apel: Faunbrunnen)

 

XII im buch meines lebens

… in uns alle Menschen-

Geschichten,

Wir: ihr Gedächtnissacker,

 

 

Und wer im Wort, darf nicht feige

ins Schweigen schleichen.

 

 

Tauche in Tinte, 

unser Fingerwerk bezeuge,

ihre Erzählung in unserem

Buch des Lebens, 

zeichne ihr Gesicht.

(Josef Bzdok: 50 Jahre Pogrom)