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Rávic Strubel »Sturz der Tage in die Nacht«. Oder: Der wohl spannendste Roman über Vögel

 

Nicht dem jüngst erschienen Werk Antje Rávic Strubels ist dieser Blog-Beitrag gewidmet. Die »Blaue Frau« wird nach Auszeichnung mit dem »Deutschen Buchpreis« sicherlich in zahlreichen Foren besprochen werden und zu Recht! Doch auch dieser frühere Titel der in Potsdam lebenden Literatin verdient einen zweiten Blick aus der Distanz der Jahre, behandelt sie darin ja nicht nur die nach wie vor komplexe Beziehung zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern zudem gegenwärtig relevante Thematiken wie Umweltverschmutzung, Minderung der Artenvielfalt bis hin zur Ausrottung. Oder die ebenso zerstörerische Liebe zur Realfiktion seitens mancher Politiker, ihre Machenschaften um der Karriere wegen. Sie gehen über Leichen, sprichwörtliche sowie reale. Außerdem ist dieser Roman ein beispielhaftes Exempel für die Nutzung der verwobenen Vorausschau zur Spannungssteigerung.

Erzählt wird die Geschichte des 24-jährigen Erik, der aus Gründen der Abneigung südlicher Sonne im Gegensatz zu seinen Kommiliton *innen an die Ostsee aufbricht und so in einem Naturschutzgebiet auf einer schwedischen Insel landet. Dort arbeitet die 41-jährige Inez, die wie Erik aus dem Osten Deutschlands stammt. Als Ornithologin betreut sie nicht nur Forschungsstation, Museum und Führungen, sie will dort vor allem auch – in der Distanz zu dem Deutschland ihrer Jugend – ihre Doktor*innenarbeit abschließen. Am gleichen Tag wie Erik steigt auch ein Mann mit Arzttasche von der Fähre, den Inez offensichtlich kennt und dem sie aus gutem Grund ausweicht, selbst wenn dies auf einer Insel mit begrenzten Wegen, um die brütenden Vögel nicht zu stören, nur schwer möglich ist. Dies ist der Ausgangspunkt des Romans, der Beginn, in dem bereits das ganze spätere Drama aus Leidenschaft, Profitgier und Niedertracht angelegt ist. Viel mehr sei an dieser Stelle über den Inhalt nicht verraten, nur so viel noch: Sie werden während Ihrer Lektüre feststellen, Sie wussten gar nicht, wie spannend Trottellummen und Tordalken sein können. Noch nie gehört? Nun, sie sehen Pinguinen ähnlich, sind doch nordische Vögel mit Entenfüßen, gedrungenem Körperbau und auffälligem Brutpflegeverhalten.

Übrigens enthält dieser Roman meines Erachtens die treffendste Darstellung der Schwierigkeit der Ost- und westdeutschen Kommunikations-Begegnung, die ich bislang las: Eine stets aufs Neue verunglückende Gesprächsbasis, weil die einen »[…] mit der verhuschten Vorsicht ihrer neuen Kollegen im Osten nicht umgehen konnten, was sie bis zur Arroganz reizte […].« (S. 194) Aus eigener Erfahrung würde ich der Arroganz ein begütigendes ›scheinbar‹ hinzufügen und ihr die ›rasende Ungeduld‹ an die Seite stellen, die einen angesichts von nicht-aussagekräftigen Aussagen überfallen kann und denen man sich hilflos ausgeliefert sieht, weil dem Gegenüber aufgrund seines forcierten Sicherheitsbedürfnisses kein Schritt vorwärts abzuringen ist. »Sturz der Tage in die Nacht« geht auch den Hintergründen dieses ausweichenden Bedeckthaltens auf den Grund und macht es vor allem an der einst allgegenwärtigen Überwachungen fest. Jedes minimale Wissen über eine Blöße, einen Angriffspunkt konnte genutzt werden, um im kommunistischen Überwachungsstaat einer anderen Person jedweden Boden unter den Füßen zu entziehen. Dass es gegenwärtig, wenn auch mit anderen Methoden und Mitteln nicht so viel anders ist, das zeigt dieser Roman eindringlich: Was einst in der DDR begann, setzt sich nun unter anderem Namen fort: Ein CDU-Lokalpolitiker, dem selbst das Wohl der eigenen Verwandten vollkommen egal sind, kann er diese Menschen bloß gewinnbringend für seine Kampagne nutzen, ein Un-Vater, der sich Vaterleid und Sohnessuche auf die Fahnen schreibt, weil er annimmt, solches Gebaren komme bei einer stets größer werdenden und potenten Wählerschicht gut an. An seiner Seite ein PR-Berater, darauf spezialisiert, Ängste in Menschen finanziell einträchtig zu wecken; und die Fähigkeit beider, die Wahrheit derart zu verdrehen, dass sie in der kolportierten Variante unkenntlich wird – neudeutsch beschönigend ›Realfiktion‹ genannt.

Von all diesen inhaltlichen Komponenten abgesehen ist dieser Roman jedoch auch literarisch im Hinblick auf seine strukturellen Manöver von Interesse: Die Kunst der rhythmischen Wiederholung kann hier studiert werden. Sie umfasst nicht nur einzelne Sprachbilder, sondern erstreckt sich auch auf strukturierende Kapitelüberschriften, die sich in Variationen wiederholen und inhaltlich ihre Titel spiegeln. So ist »Das Meer« unruhig und windgepeitscht wie die Ostsee, Sätze jagen einander, überschlagen sich, brechen, rollen aus. In den Erzählabschnitten, die mit »Plinthosella Squamosa« überschrieben sind, ist dieser versteinerte Schwamm ein Sinnbild für die klar von einander abgegrenzten und dennoch ineinander feststeckenden Figurenerzählungen, von denen die eine nicht ohne die andere denkbar ist und die für das Gesamtbild daher einander ergänzend von Nöten sind. »Flintschale«, »Flint«, »Flintkugel« – wie sich die anderen variieren - hängen gleichfalls zusammen und verbinden sich via Mineralogie mit »Plinthosella Squamosa«. Während letzter Begriff den Schwamm meint, bezeichnet der erste ein spezifisches Zusammenspiel zwischen Mineral und versteinertem Schwamm – auch dies ein klug gewähltes Sinnbild für den Romaninhalt, welches sich während der Lektüre erschließt, geht es doch um Elternschaft in mehreren Varianten; diejenige der Lummen, der Alken, aber auch in der menschlichen Verwandtschaft. Wiederholungen als Strukturelement nutzt die Autorin des Weiteren in ihrer Handhabung verwobener Vorausschauen auf späteres Geschehen: Vorher bereits peripher Erzähltes wird später erneut aufgenommen und weitergeführt (z. B. die Ankunft auf der Insel), menschliche Kälte und ihre Entstehung aufgrund politischer Regime, das Drehen und Wenden bestimmter Erzählelemente (Rauschmittel, Diebstahl, Brutpflege, die Dohle), deren Bedeutung sich mit jeder Wiederkehr ein Stück weit verändert. Die dramatische Konsequenz der sich anbahnenden Ereignisse wird von den ersten Seiten an vorbereitet, sie baut sich auf, und dennoch lautet ihr Finale gänzlich anders, als man es aufgrund aller bisherigen Ereignisse erwartet hätte, denn eben in jenen Sätzen kommt die Kunst des Lapidaren zur Geltung, die Antje Rávic Strubel beherrscht: Je verstörender ein Ereignis sein mag, desto knapper fällt dessen Erzählung aus: Erik hat Panikattacken, Anfang und Ende schließen sich in einer Ringformulierung, der Hund ist auf ein bestimmtes sexuelles Verhalten gedrillt. Im Gegensatz dazu wird der Kunst der Täuschung mittels der Inszenierung grüner Elefanten auffallend viel Raum gegeben: Darunter wird verstanden, bewusst ein Täuschungsmanöver mittels eines aufsehenerregenden Elements zu etablieren, um so eine relevante Botschaft oder Aussage unbemerkt an kontrollierenden Instanzen vorbeizumanövrieren. Spätestens am Ende des Romans sollte man sich daran erinnern, wenn man überlegt, welchem sprichwörtlich ›grünem Elefanten‹ man selbst während der Lektüre aufgesessen ist.

 

Strubel, Antje Rávic: Sturz der Tage in die Nacht. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2011.