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Schlimmstenfalls wird alles eine Kurzweil. Oder: Über das Lesen von Erzählungen. Und Gedichten!

Neunzehn Erzählungen unterschiedlicher Länge der ungarischen Autorin Zsófia Bán finden sich unter dem Titel »Weiter atmen« in der Übersetzung von Terézia Mora versammelt. Ich gebe zu: Was mich neugierig machte, war der Titel! Insbesondere, da wir in einer Zeit leben, in der wir zum Atem wohl alle unter unseren Masken eine etwas andere Beziehung entwickelt haben als zuvor. Davon ist in diesem Buch natürlich keine Rede, erschien es doch im ungarischen Original bereits 2018. Aber mir ging es bei meinem ad hoc ausgerufenen ›Spannend!‹ ja auch um die metaphorische Bedeutung, denn von der realen Gegenwart und ihrer Last habe ich genug; wie wohl die meisten von uns: Luft anhalten. Und weiter atmen …

Ich weiß auch, viele haben hierzulande Vorbehalte gegen Erzählbände: Zu rasch werde man dabei erneut aus einem Universum gerissen, in das man doch gerade erst eingetaucht sei, könne sich nicht darin vertiefen, sich nicht im Lesen verlieren. Stimmt. Doch in der stimmigen Länge für eine Einschlafbegleitung oder eine urbane Fahrt von A nach B, zur Ablenkung bei einem lästigen Arztbesuch – … Luft anhalten. Und weiter atmen … – sind knappe Erzählungen geradezu prädestinierte Lektüre, vor allem auch in einer Zeit, in der die Dauer der Konzentrationsfähigkeit vieler Menschen zwischen Kurzgeschichte und Gedicht changiert. Sollte uns der Alltag mal wieder etwas mehr Ruhe gönnen, wartet ohnedies ein feiner Schmöker am Nachtkästchen. Also: lest Kurzgeschichten! Oder wenn euch der Terminus ›Storys‹ hipper dünkt, ruft sie halt so; ihnen wird die Anglizismus-Mode sowieso schnuppe sein. Apropos erwähnte Lyrik: Als Apothekerinnengabe dieser Gegenwart empfehle ich »Schlimmstenfalls wird alles gut«, feiner, schmaler Band, der mich durch die letzten Monate trug. Passt in jede (Mantel-)Tasche zum tröstenden Allzeitbereit. Die darin enthaltenen Gedichte atmen gleiche augenzwinkernde Gelassenheit wie ihr Titel, was gegenwärtig ungemein gut tut. Zusammengestellt wurden sie von Clara Paul. Leider mal wieder im Verhältnis 34:9, was Autoren und Autorinnen betrifft, doch das wäre schon die einzige nörgelnde Anmerkung, die an diesem Trostpflaster jedweder Gegenwartslast anzumerken wäre, damit man alsdann weiter durch sie hindurchstapfe, leise murmelnd: »Gelassen / atmet der Tag / sein Ritual« (Rose Ausländer)    

 

Doch zurück zu den Erzählungen von Zsófia Bán: Ihre Titel verweisen gerne auf ein relevantes Erzählelement, das sich dennoch während der Lektüre erst überraschend herauskristallisiert – wie zum Beispiel in »Victoria’s Secret«, in dem es zuerst um die Turnklamotten eines Kindes geht, irgendwo in der Wäschekammer eines Haushalts verschwunden. Damit ist schon ein grundlegendes Strukturprinzip dieser literarischen Arbeiten verraten: Sie mögen den Twist, sie lieben die überrasche Wende, die einem erst rückblickend logisch und vorbereitet erscheint. Manche wurden obendrein mit sprachlichen Überraschungselementen gearbeitet, doch nicht als Formulierkunst, denn die Sprache dieser Geschichten bleibt schmucklos, simpel, klar, wirkt teilweise unterkühlt bis kalt: »Körniges, splitterndes, blinkendes Licht. Pulsiert, müht sich. Zeigt sich. Die Spule der Filmrolle knattert, Metall trifft auf Film, Film auf Luft; es herrscht die Chemie.« (S. 116)

Es überraschen einen auch Báns rasche Schnitte, die vorzugsweise durch ein Arrangement an Wiederholungen ergänzt werden, welche sich gleichfalls gerne plötzlich gewendet wiederfinden, um so eine Erneuerung zu erfahren und wiederum wiederholt zu werden, nochmals verändert werden … Auch hierzu ein Exempel: 

»Es gibt immer einen Zwischenraum, der einen hält. Es gibt immer ein fast schon. Fast schon ist es nicht wahr. Fast schon ist es wahr. […] Ein echter Liebhaber des Springens. Ein echter Liebhaber des Windes, wie er während des Sprungs gegen seine Wangen weht. Sie fast aufschlitzt. Fast tut es schon weh. Fast ist es nicht mehr gut. Fast ist es gut. Es ist gut. […] und ein weiterer harrt unten zu Füßen des Turms weiterer Ereignisse. Später harrt man der Ereignisse nicht mehr. Später war es zu spät. […] À bientôt. […] À bientôt, Franz. [Manchmal ist es fast gar nicht mehr wahr. Manchmal fast doch.]« (S. 116–125)

Vorzugsweise Anfänge und Schlüsse arbeitet Zsófia Bán in dieser Technik, nutzt den Rhythmus, der dabei entsteht, auch für die klangliche Struktur des Hauptteils.

Manche der Erzählungen nehmen historische Ereignisse zum Anlass ihrer Narration (wie in »Fast gut«, aus dem auch obige Zitate stammen: über den Konstruktionsversuch eines Fallschirmmantels, der fehlschlug, und bei erster Vorführung Franz – alias François Reichelt –, einem französischen Schneidermeister österreichischer Herkunft, das Leben kostete).

Während sich diese klar in Paris verortet, schweben andere Geschichten ortlos. Andere wiederum finden ihre Spielwiese an überraschenden Punkten am Globus, in der Schweiz, in Portugal, Brasilien – wie die großartige Erzählung mit dem frappierenden Titel »Die Voyager-Goldplatte« über einen Mann, dessen Kindheit am Meer ihn so prägte, dass er einmal im Jahr die See brauchte – wie eine Bluttransfusion, wie einen Schuss Narkotikum (Vgl.: S. 66). Die vielfältigen Orte verweisen auch auf die Biographie der Autorin, die 1957 in Rio de Janeiro geboren wurde, in Brasilien, Ungarn und in den USA lebte. Gegenwärtig wohnt sie in Budapest, ist sie nicht auf Lese- oder Recherchereisen unterwegs.

Ja, diese Geschichten enthalten viel Welt, spielen an Flughäfen und in Stadien, situieren sich zeitlich in der Gegenwart oder vor zehn, zwanzig, fünfzig Jahren, verweisen auf die Sprenkel, die Vergangenheiten in unserem Sein hinterlassen. Ihre Themen sind variantenreich, was die Lektüre ebenso zum Genuss werden lässt wie auch der Witz, den sie atmen. So zum Beispiel jene Textverpflanzung, die sich trotz ihrer Verneigung vor Péter Esterházy »Mann badet Löwe« nennt – probieren Sie es aus und lesen Sie: diese Erzählungen! Und die Gedichte.

 

Quellen:

Paul, Carla: Schlimmstenfalls wird alles gut. Gedichte der Gelassenheit. Berlin: Insel Verlag 2016.

Zsófia Bán: Weiter atmen. (Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Lehet lélegezni!. Übersetzung von Terézia Mora.) Berlin: Suhrkamp Verlag 2020.