Hochgatterer: »Der Tag an dem …«. Oder: Von Großvätern und Helden, die nichts von beidem sind

Beginnen wir bei den inhaltlichen Eckdaten: 

Die Vorgeschichte datiert sich auf Oktober 1944. 

Ein Bauernpaar aus der Gegend um St. Valentin ist unterwegs, um die Milchkannen zum Sammelplatz zu bringen, blickt irritiert hoch, der Lancaster wegen, die offenbar auf Linz zufliegen. Wie eine Treibjagd auf Bienenschwärme, so habe es geklungen. Kaum blicken sie nicht mehr himmelwärts, sehen sie ein Mädchen am Straßenrand, das erklärt, es könne sich an nichts erinnern; verschreckt, traumatisiert – vielleicht ausgebombt? Nur den Namen einer Nachbarin vermag sie zu nennen. Weshalb man eruiert, es handle sich bei ihr wohl um eine gewisse Cornelia Deinhardt, die halbwüchsige Tochter einer donauschwäbischen Familie, die vor kurzer Zeit erst eine der Arbeiterunterkünfte der Nibelungenwerke bezog und die vor wenigen Tagen den Bomben der Alliierten zum Opfer fielen. Cornelia wird zur einzigen Überlebenden ernannt und fürderhin auf Wunsch der Großeltern Nellie gerufen. Diese Vorgeschichte stellt die ersten beiden unerhörten Ereignisse. Sie bilden gemeinsam mit dem Finale den Rahmen: 

»Ich schreibe das, was ich in letzter Zeit neben den Geschichten immer wieder geschrieben habe – von einem entgleisten Zug und von einem Mädchen, das in diesem Zug liegt, zugedeckt von anderen Menschen. Es sind nur ein paar Sätze, die dann nicht weitergehen, und ich weiß überhaupt nicht, warum ich sie schreibe.« (S. 107). 

Die Vorgeschichte beginnt rund ein halbes Jahr vor der eigentlichen Handlung, welche sich zwischen 14. März und 1. April 1945 zeitgleich zur Endphase des Krieges ereignet. Gemäß der gewählten Erzählstruktur stammen alle Textpassagen, diejenigen der ›Geschichten‹ wie diejenigen, die mit einem Datum versehen sind, aus Nellies Feder.

Sprachlich jedoch holpert dies Konstrukt und die drei sogenannten ›Geschichten‹ fallen gänzlich aus dem Setting. 

Nellie ist jedenfalls eindeutig eine Erzählerin, die mit uns ihr Spiel treibt. Das könnte klug und spannend sein. Hier aber wird diese Perspektivenwahl zum Schuss, der nach hinten losgeht. Gefordert wäre eine Erzählhaltung, die mit dem Blick Nellies korrespondiert und in ihrem Fall zudem eine sogenannte Psychonarration – das heißt der aufgrund ihrer Lebenssituation eingeschränkte Blick eines traumatisierten, ausgebombten Waisenkindes oder in Wahrheit offenbar derjenige einer jugendlichen Überlebenden eines der Transportzüge der Nazis. Wohin der Zug unterwegs war? Bleibt offene Leerstelle. Unser historisches Wissen ergänzt es ohnedies. 

Stimmig zu ebenjener Vorgeschichte? Scheint kaum ein Satz Nellies. Keine Brüche, kein Erstarren, nichts von alldem. Vergessen wir nicht: Das Mädchen ist in etwa vierzehn. Oder ihre Physis erfüllt zumindest in den Augen ihrer Umgebung die visuellen Kennzeichen, welche dieses Alter als mögliche Zuschreibung in Zeiten der Mangelernährung denkbar scheinen lassen. Nicht bloß für die bäuerliche Familie, die durchaus bereit ist, Menschen vor den Nazischergen zu verbergen und selbst das Unwahrscheinlichste als Realität zu verkaufen, Fliehende wie Gestrandete zu verköstigen, wiewohl sie selbst eine zahlreiche Kinderschar durchzubringen hat. 

Zwischen den erwähnten beiden Ankerpunkten – ›am Wegrand gefunden‹ und ›ein Mädchen, das begraben unter Menschen in einem Zug liegt‹ – erfolgt mehrfach der von Nellie als Ich-Erzählerin thematisierte vorbereitende Hinweis, sie lüge; ergänzt um den gleichlautenden Vorwurf der Bauernkinder, man dürfe ihr nichts glauben. Wir haben es also mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun, dessen sind wir uns jedenfalls bald sicher, ebenso wie wir das Faktum der Unwahrscheinlichkeit wahrnehmen: Die Familie ist unerhört selbstlos, ungemein herzensgut. Außer Nellie und einigen kurz- oder längerfristig Gestrandeten, Gestrauchelten – wie Laurenz, den Bruder des Bauern, der Pfarrer werden sollte und zu gottlos dafür war –, findet sich einer, der eine Leinwand zusammengerollt durch die Lande trägt. Ein Maler, ein malender Donauschwabe, sagt die Ich-Erzählerin. Wohl eher ein Russe, ein aus deutscher Gefangenschaft entflohener Ostarbeiter. Als noch ein NS-Leutnant samt rangniedrigerer Gefolgschaft Quartier bei der Familie bezieht, beginnt das Verhängnis. Das von ihm angeordnete Schlachten einer Sau ist damit nicht gemeint. Es wird nur zum Katholizismusproblem, weil just an jenem Tag Karfreitag ist.

Eine rurale Welt wird aus Nellies Sicht gezeichnet, die Hochdeutsch spricht. Und das in vollständigen Sätzen. Nichts ist da zu spüren von der mostviertlerischen Wortkargheit, der Vorliebe für Ein-Wort-Sätze, der Ruppigkeit dieser Region, nichts von jenem Sprachraum und seinen Besonderheiten im Deutschen. Da hilft auch kein verkürztes ›’s‹ für ›es‹, wenn Marder ›bedingungslose Jäger von hoher Eleganz‹ (S. 80) sind, so zitiert die Ich-Erzählerin den gottlosen-beinahe-Pfarre-Laurenz. Dafür darf der Bayer Schwertfeger sich schon mal zu »Hinterm Wagenschuppen.« (S. 93) versteigen. Alternativen zum Kunstdialog im bäuerlichen Milieu – sei es durch indirekte Rede oder mittels der Wahl einer anderen Erzählperspektive, die variantenreichere Gestaltungsnuancierungen ermöglichen würde (Laurenz z. B. wäre ein wahrhaft sinnvoller Kandidat auf der Angebotsliste des Figureninventars) – wurden von Hochgatterer verworfen. Die Ich-Perspektive der Erzählerin wird an einigen wenigen Stellen jedoch aufgegeben, um anderes erzählen zu können, dass sich fern des Bauernhofes ereignet. An diesen Stellen findet sich die Personale, d. h. in der dritten Person Singular wird aus der Sicht ebenjener Figur ein Erlebnis erzählt, das alsdann als ›Die Geschichte von …‹ betitelt wird. Isolde, die im Hutladen Dienst tut, lässt sich vom Apotheker vögeln (S. 60f; S. 65 – 67), damit er ihr das Medikament Prontosil beschafft, dessen ihre Mutter bedarf; ein antibakterielles Sulfonamid, welches später durch Penicillin ersetzt wurde und das während des zweiten Weltkriegs im deutschsprachigen Raum als das Mittel der ersten Wahl galt, um Wundinfektionen vorzubeugen. Mit Isoldes Prostitution verbunden wird die Lebensgeschichte Benjamin Shaffers, 2nd Leutnant der 52. Kampfgruppe des 5. Geschwaders (S. 56 – 59; S. 61 – 65), der abstürzt und gefangen genommen wird. 

Die im Gegensatz zur Bauernfamilie keinesfalls herzallerliebste Bevölkerung vertreibt sich den Alltag mit Lynchen – oder beinahe. Der gesamte Abschnitt bricht aus der Erzählperspektive der 14-jährigen Nellie heraus, was bereits in seinen ersten Zeilen deutlich wird: 

»Drei Tage lang hatte es geschüttet wie aus Kübeln. Das hatte die Äcker ringsum unter Wasser gesetzt und die Tomatensetzlinge aus den Gärten geschwemmt. Für das Flugfeld von Mandat stellte es trotzdem kein echtes Problem dar, denn im Gegensatz zu den anderen Flugfeldern rings um Loggia lag es überflutungssicher.« (S. 56) 

Wer hier »Die Geschichte vom nicht erhängten Soldaten« erzählt? Am ehesten noch ein auktorialer Erzähler, der aus dem 19. Jahrhundert stammt und nicht wie sein Kollege aus dem 18. eine moralische Instanz sein will. Der keinen Anlass benötigt, um aufzutauchen, Gedanken zu lesen und wieder zu verschwinden. Doch behauptet ja Nellie, sie sei die erzählende Stimme. Noch diffuser gestaltet sich der Beginn des ersten Einschubs, welcher mit »Die Geschichte vom ertrunkenen Kind« betitelt ist:

»Es war der Samstag nach Fronleichnam, als Rudi Hühner in den Mühlbach fiel und am Ende doch nicht ertrank. Fronleichnam selbst war am Donnerstag davor auch ins Wasser gefallen, buchstäblich, was man erstens Mitte Juni nicht erwarten hatte können und zweitens für den knapp Vierjährigen eine Katastrophe bedeutet hatte. Seine Eltern hatten ihm tagtäglich vom bevorstehenden Umzug erzählt gehabt, von den jungen Birken, mit denen die ganze Stadt geschmückt sein werde […].« (S. 26) 

Hier ließe sich durchaus noch zu Beginn annehmen, Nellie erzähle hier gemäß Hörensagen, was in jener Nachbarsfamilie geschehen sei, insbesondere da ihr vorheriger Abschnitt mit seinen Andeutungen die Erzählung der Familientragödie vorbereitet. Mit Fortschreiten der Schilderung hingegen wird ihre Perspektive immer unwahrscheinlicher und bereits erwähnte Auktoriale deutlich erkennbar. Sie kulminiert in: 

»So hätte es sich am ehesten abgespielt.« (S. 32) 

Was in der Episode Isolde samt Flieger zu folgendem Satz variiert wird: 

»So wäre es am ehesten gewesen.« (S. 65) 

Gleiches gilt für die dritte Wiederholung »Die Geschichte vom nicht erschossenen Suprematisten«, die zwar direkt am Hof spielt und die Vernehmung Michail Levjochins zum zentralen Element hat, die jedoch alsdann in das Konjunktiv kippt und im Gegensatz zum Titel und zum ›so könnte es gewesen sein‹ in Anbetracht des weiteren Handlungsverlauf den Schluss nahelegt, dass Michail ermordet werden wird. »Laurenz Leiter erzählte später […]« (S. 102) heißt es im Text, und dass er final zu seinem Bruder gesagt habe »[…] der Krieg [mache] sie alle zu Feiglingen […].« (S. 103) 

So viel zur Struktur – klar gekennzeichnet, jene drei Ausnahmen, schon aufgrund ihres anderen Titels, im Gegensatz zu denjenigen, die mit einem Datum eine fiktive Authentizität vortäuschen.

Neben diesen Andeutungen – mögen sie nun dem Hörensagen geschuldet sein oder dem Spiel mit einer Auktorialen, die gleichfalls unzuverlässig sein möchte – kommen noch weitere klassische Formen der Andeutung hinzu, wobei zwischen der ersten Nennung und ihrer nachfolgenden Enthüllung je rund 50 Seiten liegen. Aufgrund der Ausführlichkeit der erstmaligen Andeutung stellt sich jedoch in deren Finale kein erkenntnisreiches ›Aha!‹ ein, sondern vielmehr bloß ein Schulterzucken, weil ohnedies alles klar war. Die erste besteht aus zwei kombinierten Objekten, die einander kaschierend bedürfen – ein dicker Mantel mit tiefer Tasche und eine Schrotflinte mit abgesägtem Doppellauf sowie Schaft, um im Verborgenen transportieren werden zu können und für den Schuss auf geringe Distanz nutzbar zu sein. Die zweite ist das Gemälde des ›Malers‹, dessen Enthüllung zuerst verwehrt wird, die Beschreibung jedoch suggeriert schon den korrekten Verdacht: Es stamme von ihm, gibt Michail an, woraufhin eine Tochter der Familie meint, er habe wohl einen Bombenschaden, bevor Laurenz hinzufügt, es sei »Sicher entartet« (S. 52). Prompt bekommt Laurenz einen Hustenanfall, in welchem die Bäuerin sogleich eine Strafe für vorlautes Mundwerk vermutet. Gleiches wiederholt sich auf Seite 77: Der Bauer sagt, er wünsche sich ein Hitlerbild von Michail, Laurenz lacht und bekommt prompt einen weiteren Hustenanfall. Spätestens nach weiteren dreißig Seiten hat ein jeder verstanden, worum es sich handelt, insbesondere wenn zuvor der Auftrag aus dem Haus des Reichsmarschalls Göring Holzcontainer und Käfigboxen abzuholen und zum Güterwaggon zu transportieren, ein verrutschtes Wachstuch und ein goldener Bilderrahmen genannt werden (S. 96f): 

»[…] ein […] Bild, auf dem vier aufeinandergetürmte Pferde leuchten wie hundert brennende Ölzüge.« (S. 107) 

Offensichtlich wird hier auf das Verschwinden des Bildes »Turm der blauen Pferde« (1913 entstanden) von Franz Marc Bezug genommen, welches bis heute als verschollen gilt und dessen letzter Besitzer Göring war, der es aus der Münchner Propagandaausstellung »Entartete Kunst« 1937 entfernen ließ. 

 

Deshalb bleibt man nach der Lektüre dieses Werk Hochgatterers ratlos zurück. Fragt sich höchstens, was soll es einem sein: Ein Ausschnitt mehrerer Lebensgeschichten, wie man sie in familiärer Runde schon mal erzählt? Eine unstimmige Perspektivengestaltung? Eine sprachliche Ausgestaltung ohne Überraschungen, ohne Esprit und ohne eigene Tonalität für dieses eine hier gestaltete Erzähluniversum?

Unschlüssig sehe ich mich um; oder vielmehr: Ich lese mich um:

»Ungemein poetisch«, meint Herr Rübenbauer (SWR2, 7.1.2018). Ich durchblättere die Erzählung erneut – na wenn das für ihn schon Poesie ist? Eine »ausufernd bemerkenswerte« obendrein, behauptet er. Ich wüsste nicht wo: Ganz nett, eine kleine Nachtlektüre. Gut geeignet für samstägliche Regenstunden oder überhitzte Sonntage, in denen einem der Kopf brummt, unabhängig davon, wie viel kalten Tee man getrunken hat: Darauf könnten wir uns einigen.

Ich blättere weiter zu Martin Becker (WDR3, 30.1.2018): Er hat natürlich mit der Behauptung, das Buch »behalte« »[s]eine Zärtlichkeit« eines draufzusetzen. Von mir aus. Das kann man alles noch als eine Frage des Geschmacks abtun, nicht jedoch, wenn Herr Zeyringer im »Standard« behauptet, die Struktur sei »gewieft« – aber nicht sagen will oder kann, worin sich diese schlaue Gewitzheit seines Erachtens zeige, denn ich finde vielmehr, diese Struktur zuckelt wie eine Schmalspurbahn von A nach B, und klappert auf ihrem Weg alle bekannten Stationen ab. Und da Herr Zeyringer, allen Ernstes meint, wir wären bei dem 100 Seiten Bändchen zum Nachdenken angehalten, kann ich mich bloß fragen, wie er uns Leser*innen eigentlich sieht: Offenbar nicht als besonders intelligente Wesen.

Gerne würde ich diesen Herren und ihren Weihrauchfässern mit des Kaisers neuen Kleidern kontern: Wenn der König nackt ist, muss das gesagt werden dürfen. Selbst wenn alsdann alle verschämt herumstehen. (Werden sie eh nicht, denn der Literaturbetrieb ist bedauerlicherweise kein Märchen.) Unbestritten: Hochgatterer hat beeindruckende Werke geschaffen – dieses hier gehört nicht dazu.