Grete Hartwig-Manschinger »Rendezvous in Manhattan«. Oder: Es lohnt sich, diese Autorin wiederzuentdecken

Wem bei dem Nachnamen Hartwig die Ohren klingen, der denkt wohl an Mela Hartwig, diese beeindruckende Wiener Literatin, die man seit einigen Jahren schon (wieder)kennt. Ihre Schwester Grete hingegen gilt es noch zu entdecken: 1899 wurde sie in Wien als Tochter des Freidenkers Theodor Hartwig geboren, arbeitete als Diseuse und Gesangslehrerin, publizierte kürzere literarische Arbeiten. In Zusammenarbeit mit ihrem Mann Kurt verfasste sie zahlreiche Gedichte, Lieder, Sketche und Opernlibretti. Als das Paar 1938 zu fliehen hatte, lebten sie zuerst in London, etablierten sich am »Laterndl-Theater«, der Kleinkunstbühne des Austrian Centres, einem der wichtigsten Orte für die Exilant*innen in Großbritannien, die vor dem Nazi-Regime bereits geflohen waren. 1940 reisten sie in die USA aus und lebten in New York. Im Roman »Rendezvous in Manhattan« porträtierte Grete Hartwig-Manschinger die Jahre der Rezension aus Sicht der jungen Edna Scarlatti, einer Fabriksarbeiterin mit italienisch-irischem Migrationshintergrund. Ihr Alltag wird durch den dominanten American Dream bestimmt: Wer heute noch Nagellackfläschchen im Akkord abfüllt, kann morgen schon Millionärin sein. Oder auch nicht. Und manchmal zu einem enorm hohen Preis. Insbesondere wenn man hübsch ist wie Edna.

Diese lebt mit ihrer kranken Mutter, einer wesentlich jüngeren Schwester und ihrem alkoholkranken Vater in einer beengten Wohnung. Ein Großteil ihres Einkommens wird zur Unterstützung der Familie verwendet, weil der Vater allzu häufig seinem Beruf als Kellner nicht nachgeht. Auf Anraten ihrer Kolleginnen in der Fabrik, beginnt sie, monatlich einige Dollar für sich auf die Seite zu legen, um sich eine Woche Sommerfrische zu gönnen. Kaum im Hotel, in einem der billigsten Zimmer, lernt sie durch Zufall eine etwa gleichaltrige junge Frau der Mittelschicht kennen, Tessie, die alles öde findet, was Edna doch so luxuriös erscheint, und die an allem etwas zu nörgeln hat, was Edna im Kontrast zu Fabrik und beengten Wohnverhältnissen still genießt. Ednas Schweigen macht sie zur idealen Urlaubspartnerin für Tessie, keinem Vorschlag der blasierten Frau wird widersprochen. Und so landet die Arbeiterin Edna am Familienesstisch der Garguins. An dieser Stelle wechselt die Perspektive, und wir erleben Edna aus der Sicht von Mrs. Agnes Garguin: ein wenig dümmlich, verschlossen, aber höflich, ein Schatten, den man ohne Bedenken ignorieren darf, weil er ohnedies nichts anderes als ›Ja.‹ oder ›Nein.‹ murmelt.

Wochen vergehen, Edna ist in ihr normales Leben in der Stadt zurückgekehrt. Durch Zufall sieht sie in einem Lokal den Sohn des Hauses wieder, Ray, und da er von seiner Lebenswelt ausgeht, in der alles ein Spiel ist, welches mit Leichtigkeit und einem Lachen bewältigt werden kann, interpretiert er Ednas Schweigen als geheimnisvoll, ihr Ignorieren seines Charmes reizt ihn, ist sie doch die Erste, die sich diesem Sunnyboy nicht am Silbertablett präsentiert. Endlich scheint auch der amerikanische Traum für Edna greifbar, als Ray sie am Vorabend des Zweiten Weltkriegs ehelicht, gegen den Willen seiner Familie, die sich für ihn einen weiteren Aufstieg durch Heirat erhofft hatte.

Die folgenden Monate bedeuten für Edna eine erste unbeschwerte Zeit, denn Ray ist nicht bloß charmant und konstant gut gelaunt, er ist auch einfühlsam. Da das politische Säbelrasseln immer lauter wird, meldet er sich freiwillig, um die Demokratie zu verteidigen, wie er sagt, und lässt sich zum Offizier ausbilden. Zuerst in England stationiert, heißt es vor allem eines: warten. In Kontakt mit den Briten verändert sich der Sunnyboy. Er beginnt zu lesen, Verhältnisse zu hinterfragen. Wochen reihen sich zu Monaten, bis Ray endlich die Operation Overlord mit ihrem Sturmangriff auf die deutschen Befestigungen in der Normandie die ersehnte Möglichkeit bringt, tätig zu werden. Danach enden seine Briefe.

Ednas optimistischer Blick in die Zukunft, ihr Vertrauen in Rays Rückkehr und in den amerikanischen Traum des ewigen Aufstiegs endet recht abrupt, als sie die Nachricht erhält, Ray sei gefallen. Zum ersten Mal sind Schwiegermutter und -tochter einander nicht Feind, sondern ihre Trauer eint sie im Erzählen ihrer Jahre bzw. Monate mit Ray. Hinzu kommt, dass Rays Vater nach einem Herzinfarkt stirbt und Rays Mutter Agnes wie Edna zu arbeiten hat, trotz ihres fortgeschrittenen Alters, was dazu führt, dass Agnes eines Abends vor Ednas Augen zusammenbricht. In Panik läuft Edna aus der Wohnung, um einen Arzt zu rufen, begegnet vor dem Fahrstuhl anderen, die alarmiert durch Ednas nervöse Blässe und Hektik nachfragen – darunter auch ein Arzt, der im Haus auf Visite war und sich sogleich um die bewusstlose Agnes kümmert.

Dr. Bill Connawer ist mit Sicherheit ein versierter Arzt, denkt Edna, doch von seinen beharrten Händen möchte sie nicht angegriffen werden, obgleich sie ihm dankbar ist, dass er – ohne finanzielle Forderungen – auch in den nächsten Tagen nach der Erschöpften schaut, doch eher um der Begegnungen mit der schönen Edna willen. 

Dr. Bill Connawer ist reich, weitaus älter als Edna, ein Mann, der in seiner Wohlsituiertheit die Berechtigung sieht, andere zu knechten. Edna, der er doch von Anfang an zuwider war, gibt seinem Drängen nach, da Ungerechtigkeiten in der Fabrik, ein nötiger Arbeitswechsel, erneut drohende Armut und das Gefühl, aus dem ganzen Elend niemals entfliehen zu können, im Verein mit der Trauer um Ray sie taub für ihre instinktive Ablehnung machen. Der Armut, so dünkt es ihr, könne sie einzig durch diese Ehe entkommen.

Reich ist sie nun; schön, aber unkultiviert, wie der sadistische Bill ihr täglich vorhält: zu nichts anderem gut, als gefickt zu werden und zwar auf jedwede Art, die ihm vorschwebt, so viel müsse ihr sein Geld schon wert sein. Edna realisiert bald, dass der Preis für diesen Aufstieg ein hoher war. Zu hoch, denn dieser Gatte verwehrt im Gegensatz zu Ray jede finanzielle Unterstützung für Ednas Mutter und Schwester, und Edna bereitet es bald schon diebisches Vergnügen für die Schwester Mona, einen Verlust im Bridge, eine Schneiderinnenrechnung vorzutäuschen, die Bill kopfschüttelnd über ihre Dummheit udn Verschwendung bezahlt.

Monas Leben wird parallel zur Haupthandlung konstant im Hintergrund entwickelt: Einst ein revoltierender Teenager, der unter Prostitutionsverdacht geriet, in ein Heim eingewiesen wurde, dort nach Elementar- und Fortbildungsschule als Laufmädel in den Buchhandel eintrat, wo sie in Kontakt mit der weiblichen Hochschuljugend kam und für sich den Schluss zog, dass Bildung nicht bloß »ein gewisses gesellschaftliches Übergewicht garantier[e], sondern den Weg zu den besser bezahlten Posten ebn[e].« Nicht »Dummheiten« wie Kleider, Tanz und Picknick wolle sie daher, sondern vielmehr brauche sie Ednas Geld, um ein College zu besuchen. Am Exempel ihrer älteren Schwester habe sie ja miterlebt, dass deren Weg – ›Aufstieg durch harte Arbeit und Ehemann‹ – voller Fallstricke und Risiken sei, und zahlreiche Trugschlüsse aufweise: Sei es das Faktum, dass sie nur in der Mathematik so viele Schachteln hätte kleben können, um wenigstens ein Bein auf den Boden zu bringen, seien es die sexuellen Übergriffe des Juniorchefs in der Fabrik, sei es die Gegebenheit, dass ein Ehemann im Krieg fallen oder eine Ehe zur Hölle werden kann.

Ob der Lebensentwurf Monas gelingt oder scheitert, wird uns verschwiegen, doch derjenige Ednas erfährt eine weitere Wendung, als einige Zeit nach Kriegsende plötzlich Ray am Bahnsteig steht: Der Beileidsbrief zu seinem Tod war ein Irrtum, nicht ›gefallen‹, sondern ›in Gefangenschaft‹ hätte sein Text lauten müssen. Hierdurch wird Edna nicht nur zur Bigamistin, ihr droht auch der Verlust von Rays Zuneigung, der ohnedies mit eigener Kriegsverletzung und Verbitterung über die Blindheit der Welt für alle Gräuel und den Wahnsinn des Krieges zu kämpfen hat: Nicht einmal Jahre der Trauer habe sie warten können – doch das Ende des Romans? Sei an dieser Stelle nicht verraten.

Neben Einblicken in eine vergangene Welt wird dieser Roman vor allem durch die Art und Weise der Konstruktion lesenswert: Gekonnt arrangiert die Autorin ihren Erzählinhalt höchst ökonomisch entlang der Kernereignisse, jedes Kapitel wie ein Scheinwerfer, der auf ein dynamisch fortschreitendes Handlungselement fällt, alle dazwischen sich ereignet habenden Elemente werden in knappen Einflechtungen oder Rückblenden erzählt, wodurch sich ein ungeheurer Sog entwickelt. Und wiewohl der reine Handlungsverlauf wie ein Unterhaltungsroman wirkt und dies durchaus das erste Kapitel dominiert, vertieft sich Kapitel um Kapitel die Mehrschichtigkeit: Der amerikanische Traum wird hinterfragt und als Ammenmärchen entlarvt, denn Gleichheit herrscht nirgendwo: Für Frauen führt der Weg oft genug über das Bettlaken, ihre beruflichen Möglichkeiten sind begrenzt, ihre beruflichen Chancen stehen und fallen mit ihrer Herkunftsfamilie entscheidend, Manieren und schicke Kleider sind relevanter als Talent und Geist, Gewerkschaften existieren nicht in allen Betrieben, Arbeiterinnenrechte werden mit Füßen getreten, mit sexuellen Übergriffen ist zu rechnen, die Verflochtenheit der Politik mit dem Privaten und die Notwendigkeit, Stellung zu beziehen. Oder um es mit Grete Hartwig-Manschinger und in Rays Ton zu sagen:

»Unsere Staatsmänner sind wirtschaftliche Isolationisten, wir sind seelische. Wir denken nur an unser persönliches Glück und glauben, es ist unabhängig von dem, was in der Welt vorgeht. Wir sind nicht reif für unsern eigenen technischen Fortschritt. Unsere Flugzeuge bringen uns in wenigen Stunden an einen andern Kontinent, sobald wir aber dort sind, sagen wir: das geht uns gar nichts an. Die Welt schrumpft zusammen und wir haben noch nicht gelernt, wie man mit den andern zusammenlebt, Güter brüderlich teilt, Verantwortlichkeiten gemeinsam trägt, Wissen austauscht. Wir sind so dumm und unerzogen, daß wir, während des Nachbars Haus brennt, die Decke über unsern Kopf ziehen und befriedigt sagen: es ist ja nicht mein Haus. Wenn uns schon unsere angebliche christliche Nächstenliebe nicht veranlaßt, hinauszustürzen, um löschen zu  helfen, dann sollten wir wenigstens Verstand genug haben, um zu argwöhnen, das Feuer könnte auf unser Haus übergreifen. Unser kindischer, gieriger Egoismus wird uns noch teuer zu stehen kommen.« (S. 238)

»Rendezvous in Manhattan«, erstmals 1948 in Wien erschienen und damals echolos verpufft, liefert interessante Einblicke in die Welt der Migrantinnen der zweiten Generation, spiegelt kritisch den zu lange hinausgezögerten Entschluss einzugreifen und dem Faschismus zu wehren, der außerdem nicht nur in Nazideutschland verankert wird, sondern – und zu Recht – in zahlreichen anderen Nationen jener Zeit, auch in Nordamerika, in der Sicht der Amerikaner*innen auf die Japaner*innen, selbst wenn Grete Hartwig-Manschinger den täglich erlebten Alltagsrassismus gegenüber den afro-amerikanischen Bürger*innen kaum anklingen lässt: Das war für die späten 1940er-Jahre eben doch ein zu heißes Eisen, selbst für eine mutige Frau wie Grete Hartwig-Manschinger.

 

Grete Hartwig-Manschinger: Rendezvous in Manhatten. Wien: DVB 2021.