Wer einen Autor, eine Autorin besonders schätzt, tut gut daran, ein Werk nicht an den anderen der gleichen schaffenden Person zu messen, wiewohl dies menschlich ist und dennoch geschieht, unabhängig davon, wie sehr man sich vornehmen mag, es ausschließlich werkimmanent zu betrachten.
In »Wie Staub im Wind«, das dem gleichnamigen Song von »Kansas« aus dem Jahr 1977 als Leitmotiv folgt, wird ein zeitgenössischer Romeo-und-Julia-Plot unter kubanischen Vorzeichen erzählt. Folglich spielen Machismo, Korruption und Exil gleichfalls eine Rolle. Im Hintergrund des jungen Paares, das sich in Miami findet und deren Eltern(teile) – verstreut über zwei Kontinente – einander feindlich bis distanziert ob früherer Verletzungen gegenüberstehen, wird die Geschichte einer Freundschaftsclique erzählt, die als junge Studierende im Havanna der späten 1960er-Jahre um die charismatische Figur der Clara und die kämpferische Elisa zueinanderfanden. Zur Gruppe gehören außerdem Bernardo, der sein Lebenselend im Alkohol ertränkt und der emphatische Irving mit seinem Lebensgefährten. Horacio, überaus intelligent, aber unnahbar, in sich verschlossen, ist ebenso Teil des Clans wie Claras Ehemann Darío, der in desaströsen Verhältnissen zur Welt kam, eine Existenz, für die ihn seine allerziehende Mutter mit Prügel und Hass bestrafte. Darío hätte wohl kaum eine Chance gehabt, diesem Elend zu entkommen, wäre da nicht ein Schulsystem, das allen Kindern gleiche Chancen auf Bildung einräumt, sodass einer wie Darío aus den Elendsquartieren der Stadt mit einem Bürgersohn wie Horacio nicht nur die Schulbank drückt, sondern den Nachmittag im Kreis von dessen Familie erlebt, um sich mit Horacio über die Auszeichnung als bester Schüler zu streiten.
Nicht vergessen darf hier die Rolle der Religion werden, personifiziert in Lázaro Morúa, ein Liebhaber der Mutter, der ein Anhänger der Santería ist und dem Jungen liebevoll begegnet, ihn vor den Attacken der Mutter beschützt; zumindest solange diese Beziehung währt. Gemeinsam überstehen die Freunde manche Herausforderung – sei sie politischer oder privater Natur. Am Rand ihrer Clique finden sich andere ein, unter anderem der unsympathische Maler Walter, der eine Zeit lang in der Sowjetunion lebte, zurückkehrte, den man trotz seiner fiesen Launen duldet und der nach der Begegnung mit Elisas Vater Roberto Correa zunehmend sonderbarer wird: paranoid, häufig betrunken und besessen davon, die Insel verlassen zu wollen. Die Lage spitzt sich zu – bis eines Tages die Nachricht die Clique erreicht, Walter sei vom Dach eines Hochhauses in Havanna gefallen; oder vielleicht sei er in den Tod gestürzt worden. Schon stehen wechselseitige Verdächtigungen im Raum: Die Kripo gegenüber den Freund*innen, die Clique untereinander, aber auch im Hinblick auf Geheimdienst und seine Spitzel. Die Ermittlungen, die manche aus dem Clan in Untersuchungshaft bringen, verlaufen im Sand. Dennoch ist nach diesem Ereignis nichts mehr wie zuvor. Die Freunde begegnen einander mit Vorbehalten – und das über Jahrzehnte. Und Elisa, schwanger, sicher nicht von ihrem zeugungsunfähigen Mann, verlässt Bernardo und verschwindet. Jahre vergehen, die Sonderperiode dominiert das Leben der Freund*innen, manch einer entscheidet sich für das Exil, nach und nach verstreut sich die Gruppe in alle Welt. Darío, weil er auf Kuba keine Chance hat, sich als Chirurg weiterzubilden, Irving, aufgrund der Erfahrung der Haft und der Homophobie in der Inselgesellschaft, die ihm alle beruflichen Chancen einengt, Horacio folgt, weil er ungehindert forschen will. Zurück bleiben Bernardo, der sich zu Tode saufen möchte, und Clara mit ihren beiden Söhnen, den zahllosen Erinnerungen – unter anderem an einen innigen Kuss mit Elisa und der Frage, ob sie lesbisch sei, wenn sie doch nur eine einzige Frau je begehrt habe. Als Bernardo in seiner Wohnung beinahe verbrennt, nimmt Clara ihn bei sich auf. Er zieht die Notbremse, wird trocken und findet zur Religion.
Wiewohl in alle Winde verstreut, halten die Freund*innen Kontakt, sind füreinander da, auch finanziell – abgesehen von Elisa, die ebenso verschollen bleibt wie ihre Tochter Adela. Für die Clique verschwunden, nicht aber für die Lesenden. Nach und nach wird nicht nur die Vaterschaft entschlüsselt, sondern obendrein Elisas Gründe, mit dem Weggang ins Exil ihren Namen und ihre vorherige Identität auszulöschen. Weder ihr zweiter Mann noch ihre Tochter oder ihre spätere Lebensgefährtin Miss Miller erfahren je davon, dass Loreta nicht Loreta ist – bis ein Foto auftaucht. Was all das mit Walters Tod zu tun hat, das sei an dieser Stelle der Spannung wegen nicht verraten, denn trotz aller Kritikpunkte ist dieser Roman durchaus lesenswert!
Die Schwierigkeit, diesen Plot mit seinen zahlreichen Figuren und divergierenden Orten so zu arrangieren, dass sukzessive mit jeder neu beleuchtenden Erzählfigur eine substanzielle Erneuerung in die Geschichte kommt, gelingt bei manchen Protagonist*innen, jedoch nicht bei allen. Dadurch wirkt der Stoff, ausgebreitet auf rund 500 Seiten überdehnt. Das stringente Erzählen – ohne sprachliche Besonderheiten, ohne Bilder oder Metaphern – erhält weder in einem besonders herausfordernden Inhalt noch mittels reizvoller struktureller Elemente ein Gegengewicht. Der Versuch der Duktusanpassung an die beiden unterschiedlichen Generationen dünkt einen vor allem bei den Jungen, Marco und Adela, aufgesetzt und wenig authentisch. Das Zitieren eines Leitmotivs, das nicht dezent angestoßen wird, sondern schlicht den Songtext als Zitat wiederholt wiedergibt, wirkt gleichfalls eher einfallslos. Das ›Staub im Wind‹ mit dem Thema der Religion verbunden wird, frappiert auch nicht wirklich. Eher schon dass der Autor hier erstmals Religion als Anker im turbulenten Leben darstellt – ohne die Kompetenz von Glauben als Halt in haltloser Zeit stärker im Hinblick auf politische Systeme zu hinterfragen. Religion begegnet uns in diesem Roman übrigens nicht bloß in Form der bereits erwähnten Santería, sondern als Katholizismus und – außerhalb Kubas – als Buddhismus. Die politische Systemkritik bleibt – verglichen mit anderen Werken des Autors – weitaus dezenter, macht sich überwiegend an der Korruption fest und streift höchstens noch die kubanische Paranoia. Verständlich. Aber verglichen mit den Möglichkeiten, Gedanken zur Sprache zu bringen – und was sonst soll Literatur sein, als die Kunst, jemandem beim Nachdenken zusehen zu dürfen? –, die Padura sich mit einem historischen Plot wie »Die Palme und der Stern« ermöglichte (https://www.marlen-schachinger.com/2019/10/09/feliz-cumpleaños-leonardo-padura-oder-ein-großartiger-roman-des-kubanischen-autors-uns-zur-relektüre-geschenkt/). Oder auch in »Ketzer«, »Der Mann, der Hunde liebte« – alle thematisieren das sicherere Terrain der Vergangenheit.
In »Wie Staub im Wind« spürt man jedoch die Zurückhaltung in der Gestaltung des Erzählstoffes, das Umschiffen schwieriger Strudel, und diese Notwendigkeit mindert die Kraft des Romans – schade, aber verständlich –, sodass manches Staub wird, bevor es gestaltet werden konnte, der Roman in seiner Gesamtheit eher lau wirkt. Zu wenig von allem eben. Und dennoch: Wer sich für zeitgenössische Geschichte Kubas interessiert, wen freundschaftliche Bezüge rund um ein Geheimnis reizen oder die Generation 60+ und ihre Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit, der sollte in diesem Herbst zu Paduras »Wie Staub im Wind« greifen. Denn bloß weil ich in meiner Vorfreude auf einen Nicht-Krimi dieses Autors ent-täuscht wurde, sollte einen nicht daran hindern, diesen Roman zu genießen.
Quelle:
Padura, Leonardo: Wie Staub im Wind. (Originaltitel: Como Polvo en el Viento.) Übersetzt von Peter Kultzen. Zürich: Unionsverlag 2022.