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Was es mir ›nutzte‹, George Sand in diesem Sommer zu lesen. Oder: Vom (Lebens)Mut.

Jüngst stieß ich auf ein Posting zu einem Hörfunkbeitrag über James Joyces »Ulysses«. Dieses wollte wissen, was habe sie oder er davon, jenen Roman zu lesen (Das Geschlecht spielt ja bekanntlich bei Dummheit keine Rolle.). Mein spontanes und durchaus erzürntes ›Wie-kann-man–bloß …?‹, das sich in meinem Kopfschütteln spiegelte, wollte partout eine Antwort tippen: Nein, niemand könne einem sagen, ›was man davon habe‹, lese man dieses oder jenes Buch, denn keiner wisse, was man selbst während einer Lektüre empfinde, erinnere, denke. 

Tage vergingen in Arbeit.

Mein Roman wollte verfasst werden, herausfordernder denn je zuvor, mich manchmal über Gebühr drückend, aber dennoch stetig wachsend, Absatz um Absatz. Die Korrekturen des anderen Romans sollten längst schon abgeschlossen sein, der Verlag wartet. Der Arthof rief nach herbstlicher Gartenpflege, und das Haus verlangte seine Putzlappen. Ich aber war ins Grübeln gekommen.

Nicht darüber, weswegen unseren Zeitgenoss*innen solch eine absonderliche Frage im Hinblick auf die Entscheidung ›Lesen: Ja? Nein?‹ in den Sinn kommt – das liegt ja in der Borniertheit unserer Lebensgestaltung, die bei allem nach dem Nutzen fragt, sowieso auf der Hand.

Die Harke beiseitegelegt, die Gartenhandschuhe abgestreift – Beschreibe den vielfältigen Nutzen des Jätens, wenn doch Unkraut gleichfalls grün ist! –, den Rücken, die Beine gestreckt, den Kopf erhoben – Beschreibe den vielfältigen Nutzen von Bewegung an der frischen Luft im Vergleich zu stereotypen Manövern an einem Gerät! –, die mit lehmiger Erde ummantelten Arbeitsschuhe am Stiefelknecht abgestreift – Beschreibe den langfristigen Vorteil, nicht mit erdigen Fingern nach der Türklinke fassen zu müssen! –, in Wollsocken ins Haus: Ich brauchte dringend eine Tasse Tee und ein Sahnebonbon!

Was hat man also davon, dass man einen Klassiker liest – vielleicht sogar einen, der gemeinhin als ›eher schwierig‹ oder gar ›sperrig‹ zu gelten pflegt?

Schon allein diese Etiketten! Als wäre die Herausforderung einer solchen Begegnung nicht Abenteuer, sondern Zumutung. Und das per se. Natürlich kann einem auch mal der Sinn nach leichterer Kost stehen, schneller zubereitet, vielleicht sogar einmal en passant genossen, warum nicht? Schließlich wird auch kaum jemand tagtäglich Hirschragout mit Kartoffelkroketten (nicht aus dem tiefgekühlten Plastiksack) verzehren. Oder mit niedriger Temperatur stundenlang im Tontopf gegartes Hühnchen, gefüllt mit Würfeln aus selbst gebackenem  Brot und Gartenäpfeln, ergänzt mit köstlichem Pilaw, oder? Das aber macht beide Gerichte keineswegs weniger attraktiv. Obendrein sollte einem bewusst sein, senkt man die Latte tagtäglich, wird einem bald schon alles, was nicht Ein-halbes-Jahr-neues-Leben-in-zwei-Welten ist zur Schwierigkeit.

Meine Teetasse in der Hand wandert auf den Stein-Untersetzer neben den Computer, das Programm Pages wird geöffnet, der Befehl ›neue Datei‹ wird erteilt:

»Was es mir nutzte, George Sand in diesem Sommer zu lesen«,

tippe ich, halte alsdann inne.

Vielleicht müsste ich da ein wenig ausholen, hätte zu erzählen, dass ich mit dem Feuereifer über meine bald zu beginnende Magistraarbeit im Besprechungszimmer meines jungen Betreuers an der Universität Platz nahm, um ihm – der gerade erst die akademische Berechtigung erhalten hatte, solche Abschlussarbeiten zu begleiten – mitzuteilen, ich würde gerne die erste Studentin sein, die er betreut, und ich hätte mein Thema auch schon gefunden: Die Autorinnen unter den amerikanischen Expatriates im Paris der 1920er-Jahre und wie die Freiheit, die sie ebenda fanden, ihre Gestaltungskraft beeinflusste. Er räusperte sich, nickte und meinte dann, er sei Professor für die Literatur des 19. Jahrhunderts, ob es wirklich unbedingt das 20. sein müsse, er würde mir stattdessen – dachte nach, blätterte in Papieren auf seiner Seite des Schreibtischs, sah mich an – George Sand nahelegen! 

George Sand? Was interessierte mich diese alte Schachtel mit ihrem Kraushaar! Irgendwas war da noch mit Chopin gewesen, um den hatte sie sich aufopfernd gekümmert,  zumindest kam sie so in der Hörgeschichte meiner Kinder zu diesem Komponisten vor. Ich hatte doch ein Buch von ihr angefangen, irgendwann, dasjenige, mit dem düsteren Bild am Cover, das mich schon, als man es mir schenkte, mit unangenehmen Gefühlen betrachtet hatte, und nein, noch immer nicht gelesen, irgendwas mit einem Müller – und nun sollte ich Jahre mit dieser Literatin verbringen? Statt mit Djuna Barnes und Gertrude Stein, den Heldinnen in meinem Bücherregal! Nur damit er sein 19. Jahrhundert bekäme?

Sicher nicht!

Ich lehnte ab.

Mit aller unausgesprochenen, doch nicht minder existenten Entrüstung, zu der man als Mittzwanzigerin noch fähig ist.

Er bat mich, es zu überdenken, in einigen Wochen wiederzukommen.

Was gab es da nachzudenken? Nichts. George Sand kam mir nicht infrage.

In der Zwischenzeit wurden zahllose Themen von meinen Kommiliton*innen an ihn herangetragen, galt er doch als engagierter und angenehmer, an unserem Denken interessierter Professor und solche waren auch in den 1990er-Jahren nicht die Mehrheit. Ich hörte ihnen zu, wenn sie freudig berichteten, diese und jene Fragestellung sei ihre geworden. 20. Jahrhundert – durch die Bank. Kein Grund also, mir unsere Gegenwart zu verwehren.

Er nickte.

Gertrude Stein und die bildende Kunst?

Mein zweites Studium sei doch nicht Kunstgeschichte, sondern Romanistik.

Und er fügte hinzu, es dünke ihm aus wissenschaftlichen Gründen dennoch sinnvoller, bestünde ich auf dem 20. Jahrhundert, ich würde mich Simone de Beauvoir zuwenden. 

Na gut.

Wenn er meinte, dass die Roaring Twenties schon allzu oft Thema gewesen seien … dann eben de Beauvoir und eine Aufgabenstellung, die noch niemand vor mir bearbeitet hatte. Die Beeinflussung ihres Schreibstils durch Faulkner, Dos Passos und Hemingway. Das war immerhin eine Herausforderung.

Warum aber hatte ich George Sand – ohne ihr Werk zu kennen! – derart impulsiv abgewehrt? Einzig der Titel (und eines mE misslungenen Covers) wegen. Keiner, den mein Professor, versunken in seine Lektüreerinnerungen, aufzählte, klang mir interessant. Weder »Indiana« noch »Lelia« oder »Nanon« und schon gar nicht der unselige »Müller von Angibault«.

Wie unrecht ich George Sand tat – und meinem Professor –, das sollte ich 27 Jahre später erkennen:

In diesem Sommer nahm ich mir zum ersten Mal seit meiner Studienzeit eine zweiwöchige Auszeit, um nach Triest zu fahren, meine Erschöpfung auszukurieren, und meinen Kindern hoch und heilig versprach, ich würde nicht arbeiten, stattdessen die Stadt am Morgen und am Nachmittag stundenlang flanierend erkunden und in den drückend heißen Stunden des Tages lesen. Welche Lektüre also einpacken, die mich nicht zum Arbeiten verführen würde?

Werke, die ich immer schon mal lesen wollte, zu denen mir aber die Zeit gefehlt hatte. Ich spazierte die Bücherregale entlang, zog nach vor, was noch nie genossen worden war. Groß war die Ausbeute nicht. Bei George Sand blieb ich stehen. Zwei, drei Romane standen da. Und ich ihnen gegenüber.

Schaltete den Computer an, tippte in die Suchmaschine, schnappte ihn mir und trug ihn zum Bügelbrett. Drei Dokus über – George Sand. Mal sehen, vielleicht gelänge es ja denen, mein Interesse zu wecken? Und die Klamotten hatten vor der Abreise in drei Tagen ohnedies geglättet zu werden.

Im Koffer lagen schon eine herausfordernde Nancy Huston, die ich immer schon gerne gelesen hatte, ein Lyrikband, ein Notenbuch zur Musik des Apoll, um stundenlang auf der Harfe zu spielen, die gleichfalls mit musste.

In Triest angekommen, wanderte die Harfe vor das Sofa, der Bücherstapel auf den Couchtisch, und obenauf lagen sie, die drei Romane der George Sand, denn es gehe doch nicht an, dass ich ihr weitere 27 Jahre ausweiche!

Im abgedunkelten Wohnzimmer auf dem Sofa, »Indiana« vor mir; draußen die Stadt in brütender Hitze. Und ich war noch nicht sehr weit gekommen, als ich mir sagen musste: Er hatte recht gehabt, der gute Professor, das war etwas für mich. Wieso auch immer er erkannt hatte, womit ich mich damals herumschlug, gesprochen hatte ich an der Uni sicherlich nicht darüber; viel zu scheu, zu introvertiert, trug lieber alles in und mit mir aus (und seitenweise in den Tagebüchern).

»Lelia« unterstrich nicht nur den Eindruck, der Roman ist auch grandios komponiert, ein beeindruckendes Werk, das den Versuch unternimmt, unsere Geistesgeschichte Revue passieren zu lassen, fulminant gelöst, diese Aufgabenstellung, obendrein. Und »Sie und Er« bewirkte, dass ich mich erinnerte. 

 

»Die Gleichheit aller Menschen kann man nicht aufzwingen, sie ist eine Pflanze, die sich nicht beliebig anbauen läßt, die nur auf gutem Boden und in gesunder Luft gedeiht.«

(George Sand)

 

Während ich George Sand las, las ich auch mich selbst: Woher hatte der Professor wissen können, welche Themen mich damals schon beschäftigten, welche Fragen mich umtrieben – verheiratete Mutter zweier Kleinkinder, in Scheidung lebend, erneut liiert in einer kräftezehrenden On-off-Beziehung, insgeheim jedoch seit vielen Jahren verliebt in jemand anderen, ohne je eine Werbung zu wagen, weil es viel zu viele Rollenbilder infrage gestellt hätte, mit denen ich groß wurde, es schon an Sprachlosigkeit scheiterte. George Sand, beim Erscheinen von »Lelia« gerade mal 4 Jahre älter als ich damals, wagte es, kehrte in den gesellschaftlichen Normen das Oberste nach unten, fand, es sei ab und an durchaus zweckmäßig, Männerkleidung zu tragen, und sowieso wäre es nicht einzusehen, wieso man einer Frau weniger Gehör schenke als einem Menschen, der zufällig einen Penis habe, möge er geistig auch noch so minderbemittelt sein, sie ergreife selbstbewusst das Wort, komme, was wolle. 

All das hätte die junge Frau auf der Suche, die ich war, sicherlich interessiert und angeregt; wie es auch Simone de Beauvoirs Nachdenken über »Le deuxième sexe«, das zweite Geschlecht, tat.

Gibt man die bloße Handlung von »Sie und Er« inhaltlich wieder, wirkt der Roman, als wäre er keine Besonderheit:

Laurent, ein junger Künstler aus besten gesellschaftlichen Kreisen, beginnt ein Verhältnis mit der Künstlerin Thérèse, die sich durch ihre kontinuierliche Arbeit ein wenig Wohlstand und Lebenssicherheit erwirtschaftet hat. Bald schon wird deutlich, dass er psychisch krank ist. Nicht bloß, dass er sich eifersüchtig in Wuttiraden steigert, sondern – sollte einmal alles um ihn länger als ein paar Stunden friedlich sein – rastet er aus, inszeniert ein Drama, damit die Langeweile ihn nicht verschlinge, stürzt alsdann in Melancholie bis hin zur Depression, auch aus Schuldgefühlen ob all der verbalen und physischen Attacken, die er seiner Partnerin zumutete, damit Stunden später alles von Neuem beginnt. Glücklich, wer solche toxischen Szenarien, bei denen einem bereits der Hausverstand sagt, man schnappe das Nötigste und eile fort, so schnell einen die Füße tragen, nicht aus eigenem Erleben kennt. Wer sich je in ihnen wiederfand, weiß, wie schwer es ist, sich daraus frei zu kämpfen.

Emotionale Erpressung steht bei Laurent und Thérèse auf der Tagesordnung. Mehrfach versucht Thérèse, sich aus diesem Strudel zu befreien, der seinen Höhepunkt darin erreicht, als Laurent mit einem Dolch auf sie losgeht: Möge er doch zustechen. Dann wäre es wenigstens vorbei.

Die Befreiung gelingt ihr erst durch den Tod ihres ersten Mannes in Havanna, ein Bigamist, der sie täuschte und der – als seine erste Ehe ans Tageslicht kam – den gemeinsamen Sohn entführte, um Thérèse alsdann mitzuteilen, das Kind sei während der Überfahrt nach Amerika gestorben. Durch seinen Tod erfährt sie, dass er sie auch diesbezüglich belogen hat, denn ein Freund der Familie, Dick Palmer, bringt den Jungen zu ihr: Keinem Kind ist solch emotionales Auf und Ab zuzumuten, und endlich kann Thérèse den finalen Schlussstrich ziehen, ihn auch gegen Laurent behaupten: »[…] die Mutter in ihr hatte unwiderbringlich die Geliebte getötet.« (S. 212)

Der Künstler*innen-Begriff in »Sie und Er« – der übrigens nur für ihn gilt, denn, so Laurent: »[…] eine Frau ist nur eine Frau […]« (S. 101), selbst wenn sie schaffend tätig ist – verweist auf das Gedankengut des Geniekults. Solch einem ›Genie‹ hat auch manch zwischenmenschlicher ›Wahnsinn‹ vergeben zu werden, eine Position, die sogar George Sand nicht infrage stellt: »Dein Leiden und Deine Zweifel, die Du Deine Strafe nennst, sind vielleicht die Bedingungen Deines Ruhmes. Lerne also, sie zu erdulden. Mit Deiner ganzen Kraft hast Du das reine Glück gesucht, doch nur in Deinen Träumen hast du es erreicht. Wohlan, Deine Traumwelt, mein Kind, das ist Deine Wirklichkeit, das ist Deine Begabung, das ist Dein Leben. Bist Du nicht Künstler? […] Er [Gott] hat dich verdammt zu dieser Sehnsucht, die nicht zu stillen ist […].« (S. 213)

Als dieser Roman 1859 erschien, also wenige Jahre nach Flauberts »Madame Bovary«, war er ebenso ein Skandal, weil George Sand es gewagt hatte, darin, für ihre Zeitgenoss*innen durchaus erkennbar, ihre Beziehung mit Alfred de Musset (Laurent) und dem Arzt Pietro Pagello (Dick Palmer) darzustellen.

 

»Es ist auch gut, mehr Witz zu besitzen als die andern;
doch stellt man ihn zur Schau, macht man sich Feinde.«

(»Die kleine Fadette«)

 

Was »Sie und Er« aus heutiger Sicht so lesenswert macht, ist nicht nur die psychologisch einfühlsame Darstellung einer On-off-Beziehung, das Toxische in Laurents Labilität, sondern vor allem die Komik! Laurents Anfälle von krankhaft übersteigerter Anhänglichkeit etwa, die genau eine Viertelstunde dauern; oder der trockene Kommentar zum zweiten Beziehungsversuch, der nicht länger, sondern kürzer währte als der erste: statt sieben Tagen keine 24 Stunden. All das herrlich lakonisch von George Sand erzählt.

Als 1832 ihr erster Roman – »Indiana« erschien – ist vieles von der Kunstfertigkeit der George Sand schon zu erahnen, wiewohl auch noch etwas unausgegorener, sei es im Maßhalten, sei es im Arrangement des Erzählinhalts. Doch auch in diesem frühen Roman benennt Sand bereits mit erstaunlicher Schärfe und Klarheit die Verstrickungen in Rollenbilder, die alle weitertradieren, auch wenn sie sich in ihnen nicht wohlfühlen, die Einblicke in Innenwelten. Auch hier arbeitet Sand bereits mit Ironie als Stilmittel: »[…] der Herr des Hauses, Oberst Delmare, ein alter Tapferer auf Halbsold, einst wohl ein schöner Mann, jetzt dick geworden, kahl, graubärtig, von einschüchterndem Aussehen; der Herr und Meister, wie er sein soll, vor dem alles zittert, Frau und Diener, Pferde und Hunde.« (S. 9) Er wird – das ist hier bereits deutlich zu ahnen – in weiterer Folge noch umfassend demontiert werden. Und seine junge Frau, gerade einmal 19 Jahre alt? »Als sie Delmare heiratete, wechselte sie nur den Herrn; als sie sich in Lagny niederließ, nur das Gefängnis und die Art der Einsamkeit.« (S. 48)

Weder ist solches Erzählen inhaltlich noch sprachlich vertrocknet oder uninteressant. Obendrein spricht es für Sands Beobachtungsgabe mit welcher psychologischen Feinsinnigkeit sie die Dynamik im gesundheitlichen Leiden Indianas darstellt, das unaufhaltsam fortschreitet, wiewohl die Ärzte keinerlei Ursache dafür erkennen, mal abgesehen von ihrer Schlaflosigkeit. Und das lange Jahre vor einem Bewusstsein, wie Psyche und Körper, Träume und Leben ineinandergreifen. Hofft Indiana zuerst noch auf einen »Messias«, einen »Befreier« (S. 48f), erkennt sie nach und nach, dass die einzige Person, die sie befreien kann, sie selbst ist. Das aber setzt sie alsdann gegen alle Widerstände und gesellschaftlichen Normen in die Tat um.

 

»Ich wollte soweit Mann sein, dass ich in Bereiche und Milieus eindringen konnte, die mir als Frau verschlossen waren.«

(»Geschichte meines Lebens«)

 

Und »Lelia«, 1832 und ’33 verfasst, dieser Roman mit der bereits erwähnten beeindruckend zeitgenössischen Struktur und Erzählhaltung? Er startet mit einem fragenden Jump-in: »Wer bist du?«, so lautet der erste Satz, der uns Lesende auf uns selbst zurückwirft. Wie der gesamte Roman, der um die Frage kreist, wie die Gesellschaft mit einer Frau umgeht, die über Geist verfügt, bedauerlicherweise, denn der Gesellschaft wäre es durchaus lieber, sie ließe sich als Nippes neben dem Sofa nieder. Ein Staubtuch ab und an, das genügte dann an Zuwendung, Aufmerksamkeit und Respekt. So aber bleibt die Frage – Wer bist du? – »eine blutende Wunde«, wie George Sand es in einem ihrer Briefe bezeichnete, ohne Antwort, denn Lelia, die zwar Wissen ihr eigen nennt, ist unfähig zu handeln: »Wer gibt uns die Kraft des Handelns wieder und vor allem die Kunst des Genießens und Bewahrens?« (S. 116) Es ist ein genau durchkomponierter Roman, angelehnt an die fünf Akte des Dramas, der bei seinem Erscheinen heftigen Anstoß erregte. (Männliche) Kritiker echauffierten sich darüber, er ›stinke nach Kot und Prostitution‹. »Lelia« war eben kein liebliches Geschichten, das man einfach so lesen konnte, ein schönes Geplätscher, über das sich danach mit zwei Sätzen plaudern ließ, bevor man es beiseite wischte, sondern eine Herausforderung, von der ersten bis zur letzten Zeile. Und eine grandiose Darstellung einer Frau, die jede von außen erfolgende Antwort auf die Frage, wer sie sei, ablehnt:

»An ihrem Krankenbett, angesichts des Todes, versagen die Wissenschaft, die Kirche, die Dichtung als Sprache der Liebe und die Philosophie, die von den vier Männern personifiziert werden. Das ist der Sinn der irrealen Szene. Daß Lelia überlebt, hat sie nur ihrer eigenen Kraft zu verdanken – und Gott, den es nicht mehr gibt. Der Himmel über ihr ist leer, sie klagt einen Gott an, an den sie nicht mehr glaubt, und sie macht es ihm zum Vorwurf, daß sie nicht mehr an ihn glauben kann. Gegen diesen Unglauben, diesen Verlust des Seinsvertrauens kann der positivistische Glaube ihres Jahrhunderts an die Wissenschaft nichts ausrichten. Savoir, ce n’est pas pouvoir. Wissen ist nicht Macht, sondern Ohnmacht. So ist die impuissance von Lelia, ihre ›Impotenz‹, dieses auf sie gemünzte Männerwort, ihre Liebesunfähigkeit keineswegs nur das Signum eines physischen Mangels, sondern vielmehr einer Erkaltung des Herzens, eines Unvermögens, einer Ohnmacht und Machtlosigkeit, die zentral mit ihrer condition féminine in einer patriarchalen Gesellschaft zu tun hat.« So heißt es im klugen Nachwort von Gisela Schlientz, und dem ist nichts mehr hinzuzufügen – außer, und damit schließt sich der Bogen zum Beginn: Dass mich das Erzählen dieser Autorin, das Nachdenken über ihre Erzähluniversen nicht nur berührte, anregte, es Erinnerungen anstieß, meinen entstehenden Roman nährte – und es eine Auseinandersetzung herausforderte, die weit über diejenige geht, die so manch hochgejubelter Gegenwartsroman auslöst; und die morgen schon vergessen und von der nächsten Begeisterungswelle überrollt wird. 

Was habe ich also gewonnen?

Empfindungen, Erinnerungen und Gedanken in erster Linie, verquickt mit dem Lektüreereignis heißer Sommertage in Triest; Erkenntnisse, die sich im Nachsinnen während stundenlanger Spaziergänge durch die Gassen jener Stadt, hügelauf- und abwärts, weiterspannen, um im Herbst Literatur zu werden. Vor allem aber die Lust, noch zahllose weitere Werke dieser grandiosen Literatin zu lesen, die so mutig ihre Inhalte gestaltete, dass man meinen könnte, Virginia Woolf habe an die französische Kollegin unter den Ahn*innen gedacht, als sie schrieb: »Denn ich bin überzeugt, dass wir, wenn wir noch etwa ein Jahrhundert leben […] und jede von uns fünfhundert im Jahr und ein Zimmer für sich hat, wenn die Freiheit uns zur Gewohnheit geworden ist und wir den Mut haben, genau das zu schreiben, was wir denken, wenn wir dem gemeinsamen Wohnzimmer ein wenig entfliehen und die Menschen nicht immer in ihrer Beziehung zueinander, sondern in Beziehung zur Wirklichkeit sehen und den Himmel und die Bäume, oder worum es sich auch handelt, als solche; […] wenn wir der Tatsache ins Auge sehen, denn es handelt sich um eine Tatsache, dass es keinen Arm gibt, der uns stützt, sondern wir allein unterwegs sind und unsere Beziehung die Beziehung zur wirklichen Welt ist und nicht nur zur Welt der Männer und Frauen, dann wird die Gelegenheit kommen, und die tote Dichterin, die Shakespeares Schwester war, wird ihren Körper anlegen, den sie so oft abgelegt hat.« (Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. S. 157)

George Sand hat es uns bereits vorgemacht: Es wäre an der Zeit, die nächsten Schritte zu setzen! Ich aber bin an meinen Roman zurückgekehrt, mit neuem Mut, gestärkt durch Ruhetage, und auf meinem Lektürestapel liegen bereit – fünf weitere Romane der George Sand. Ja, selbst der »Müller von Angibault« mit seinem Cover, das mich einst derart abstieß, hat es dorthin geschafft. Und auf Ihrem?

 

Quellen:

Sand, George:

  • Indiana. Aus dem Französischen von A. Seubert. Insel Taschenbuch 1983.
  • Lelia. Aus dem Französischen von Heidrun Hemje-Oltmanns. München: Dtv 2008.
  • Sie und er: Aus dem Französischen von Liselotte Ronte. Zeit Bibliothek der verschwundenen Bücher. Hamburg: Zeitverlag 2015.