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Colin Niels »Nur die Tiere«. Oder: Sehnsucht nach Liebe.

So oder so – die Titel halten, was sie versprechen. Beinahe zumindest. (Aber, liebe Herren Kritiker, es gibt keinen Grund, sich freudig zu überschlagen, wahrlich nicht. Weder ist »Nur die Tiere« die Spitze der Spannungskurve noch »fulminant«, schon gar nicht ist es ein »Plotwunder«, schlägt auch »keine kunstvollen Haken«, ist weder »brillant« noch »hohe Kunstfertigkeit«, weder »atemberaubend« noch »großartig« – sondern grundsolides Handwerk. Nicht mehr, nicht weniger. Doch wenn dies allein die Herren Kritiker schon zu solchen Begeisterungsstürmen bewegt, dann täte ihnen vielleicht einmal ein Wechsel ihres Lesebuffets gut – offenbar haben sie sich an der Seichtheit der Gegenwart den Magen verdorben.)

(Vgl.: https://lenos.ch/buecher/nur-die-tiere)

Dennoch: Fakt bleibt, dass deren überbordende Adjektivitis mitnichten dem Autor Colin Niel anzulasten ist!

Wie gesagt: grundsolides Handwerk. Man erdenke sich eine Story, beheimatet im ›Was-wäre-wenn‹: Was wäre, wenn ich nicht den Spam-Filter bloß genervt leere, sondern wirklich auf Erbangebot oder den Nähe-Wunsch reagiere: Sind wir nicht alle auf der Suche nach …? Liebe, ja. 

Man verfertige aus diesem Keim einer Story (Online-Liebes-Offert wird ernst und angenommen, Motiv: Sehnsucht nach Liebe, zusätzlich gespiegelt in allen Nebenfiguren) einen Plot: Natürlich ist die werte Amandine, die den Mann für ihr Leben sucht, ein Fake. Natürlich ist derjenige, der darauf hereinfällt und 15.000 Euro zur Rettung seiner Schönen locker macht, ein Bauer. Sucht eben eine Frau – oder ›ein zweites Büro‹, wie es im Slang der Trick-Betrüger heißt. Denn verheiratet soll er sein, unser Bauer. Bloß reden sie nichts mehr miteinander, der Bauer und seine Frau.

Selbst wenn Einsamkeit am Land ein Faktum ist, soll er doch wenigstens früher einmal so etwas wie Glück gekannt haben; zumindest dasjenige in einen reichen Hof eingeheiratet zu haben. Folglich braucht unser Protagonist – nennen wir ihn Michel – ein noch einsameres Gegenüber, Joseph ist ein guter Name. Und Michels Frau soll Alice heißen.

Schon drängt sich der rurale Raum, seine Menschen, die Einsamkeit der Bergbauernhöfe, die karge Natur, die ausweglose Enge thematisch in den Vordergrund. Passt ja auch gut. Kennen wir in- und auswendig. Legitimiert obendrein die Figurenpsychologie – sonst würde man ja sagen, das sei schon sehr an den Haaren herbei gezogen, dass ein rund 55-jähriger Mann auf chattige Liebesphrasen hereinfällt, nicht? Und das muss er, damit unsere Story nicht bricht – wir erinnern uns: Alle sind aus Sehnsucht nach Liebe bereit, irre Dinge zu tun.

Ein paar Verwicklungen wären gut – zum Beispiel braucht die fiktive Amandine ein Gesicht, nicht? Eines, dass man online findet, mit Photoshop geringfügig verändert – warum nicht ein Pornosternchen dafür nutzen? Blöd nur, dass die Auserwählte einer jungen Frau ähnlich sieht, die vor wenigen Tagen in jenes Dorf zog, das wir uns erdachten, weil sie sich in Evelyne verschoss, Hals über Kopf – was zwar Evelynes Ehemann nicht zu wissen braucht, doch zur nächsten Turbulenz führt: Denn um die Finanzen der fiktiven ›Amandine‹ ein wenig aufzufetten, muss ein elendes Biest erfunden werden, eine reiche Tussi, die ihr Geld lieh, welches diese nun sofort zurück will.

Blöd, dass die junge Nicht-Amandine aus dem Dorf, nennen wir sie Maribé, auf der Straße in Streit mit Evelyne gerät, was der lauernde, lauschende Bauer Michel hört, der doch so sehnsüchtig auf ein Zeichen der Kontaktaufnahme seiner so scheuen, aufrichtigen, keuschen ›Amandine‹ wartet. (Haben wir ein passendes Adjektiv vergessen?) Und was tut er, wenn seine viel geliebte ›Amandine‹ bedroht wird, selbst wenn ihm die zuvor ein blaues Auge verpasste, weil sie nicht und nicht von ihm geküsst werden wollte?

Natürlich, morden. Also hat Evelyne erwürgt zu werden. Und wo soll man sie entsorgen, die Leiche, wenn nicht am Hof des noch viel einsameren Joseph, wo kein Mensch je hinkommt – außer Alice, die Sozialarbeiterin, die mit dem wortkargen Joseph ein Techtelmechtel hat? Übrigens, allen Zufällen, die wir uns erdachten zum Trotz: Joseph ist eine beeindruckende Figur, in seiner Dynamik, seiner Gefangenheit in der Stille, in seiner Schwierigkeit, mit Menschen zu interagieren! Grandios, wie die Leiche, die er im Heu versteckt, seine Einsamkeit lindert, grandios und erschreckend zugleich. Und weitaus besser als der Plot.

Diesen multiperspektivisch zu erzählen, das ist eine Entscheidung, die naheliegt – jede Figur soll aus ihrem Blickwinkel sprechen, und das bedeutet auch, jeder Figur nur so viele Worte zu gestatten, wie sie selbst über die Ereignisse wissen kann und – vor allem: – was für sie im Moment des Sprechens von Belang ist. Das gelingt! Grundsolides Handwerk eben.

Überraschend ist dabei einzig der Twist am Ende des Romans: Michel reist nicht nach Afrika, um Rache an jenem Betrüger zu nehmen, der ihn um 15.000 Euro erleichterte, nein, er will etwas für sein Geld: Er will, dass seine ›Amandine‹, von der er mittlerweile weiß, dass sie nichts als ein Phantom ist, weiterhin für ihn existiert: »Mein Liebster. Ich bin da.« Solche Liebesbotschaften will er bekommen. Diese Entscheidung des Autors, die Leser*innen dadurch auf sich selbst zurückzuwerfen, die spricht für sich!

Und ich, ich sollte jetzt meine Spamfilter mal wieder leeren …

 

 

Quelle:

Niel, Colin: Nur die Tiere. (Seules les betes. Aus dem Französischen von Anne Thomas) Basel: Lenos Verlag 2021.