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Jeanette Winterson: Frankisstein - eine Liebesgeschichte. Oder: Wie man ungemein komisch und tiefgründig über KI schreiben kann

 

Zwei Zeitebenen dominieren die Handlung: Während wir in Mary Shelleys Gegenwart in die Jahre rund um die Entstehung des Frankenstein-Romans eintauchen, die Ideenfindung und die Figurenentwicklung miterleben, ebenso wie die Albträume, evoziert durch gewagte Gedanken, oder die privaten Tragödien, wie der Tod der Kinder, des Ehemannes, läuft eine zweite Zeitebene – unsere Gegenwart oder sehr nahe Zukunft – parallel. Bald schon wird deutlich, dass jede Figur aus dem Handlungsstrang rund um die Autorin Mary Shelley ein gespiegeltes Pendant in unserer Gegenwart hat. So wird aus Mary Shelley der Transmann Ry, Frankenstein wird zum forschenden Arzt Victor Stein, Liebhaber von Ry – vielleicht ist er dies aber auch nur, um ein weiteres Körperteil zu ergattern für seinen Versuch, Leben zu erschaffen, wer weiß? Dupliziert werden jedoch nicht bloß die Figuren, gespiegelt und teilweise zitiert wird die bekannte Romanhandlung – und so wie in Mary Shelleys »Frankenstein« geht auch Victor Steins Schöpfungsakt schief, zieht Konsequenzen nach sich.

Ein Roman über menschliche und künstliche Intelligenz, über biologische und sexuelle Identitäten, ein Roman, dessen Strukturprinzipien genial sind und der es versteht, zahlreiches anzustoßen, ohne es je platt zu walzen, weil er es jedem und jeder selbst überlässt, Elemente zu bemerken und eigene Schlüsse zu ziehen.

»Frankisstein« ist dabei sicherlich nicht, was der Buchhandel so gerne ›leichte Kost‹ nennt, weil ›fad und abgelutscht‹ nicht besonders werbewirksam klingen würde. Ganz im Gegenteil. Er spaltet die Meinungen der Leser*innen. Eine fühlt sich durch die Darstellung der Erotikmessen gestresst, einer sind die Sexbots zu viel, und ein Dritter versteht den (unvergleichlichen) Witz dieses Romans nicht, während der Vierte am inneren Toben über die ›Zumutung‹ würgt, dass eine Figur eben transsexuell ist – und warum hat dies ausgerechnet die gespiegelte Figur der Dichterin Mary Shelley? Und ein Fünfter genießt »Frankisstein« in vollen Zügen, weil dieser Roman witzig und klug, fiktiv und real ist. »Der Mensch verträgt nicht sehr viel Realität.« (S. 71)

Ja, leider.

Wer aber einen intelligenten Roman zu KI lesen möchte, der greife nach diesem – und vergesse während der Lektüre das Lachen über grandiose Einfälle nicht, erfreue sich an doppelten Böden ebenso wie schmunzelnd über feine Seitenhiebe, und wer Mary Shelleys »Frankenstein« gelesen hat, der oder die wird Wintersons »Frankisstein« doppelt genießen! 

 

Jeanette Winterson: Frankisstein – eine Liebesgeschichte.

Zürich: Kein & Aber 2019.

Taschenbuchausgabe in Kein & Aber Pocket 2021.