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Hermann Hesse »Berthold«. Oder: Auf dem Weg zu »Narziß und Goldmund«

Die Handlung ist flink zusammengefasst: Ein besonders kluger Junge aus armen Verhältnissen wird auf Wunsch des Vaters für den Beruf des Priesters vorgesehen. Als Kind fällt er jedoch nicht nur wegen seiner Vorliebe für Logik und Disput auf, sondern auch dadurch, dass er Affekte nur schwer kontrollieren kann. So gerät eine Schneeballschlacht außer Kontrolle: In ein Wurfgeschoss wurde ein Stein integriert, erbost darüber rächt sich Berthold mit aller Kraft und glaubt danach, jenen Schulkameraden in seiner Wut erschlagen zu haben. Verwirrt über das Blut im Schnee läuft er davon, verbirgt sich im Wald und kehrt erst nachts zurück. Als man ihm mitteilt, der Kamerad sei zwar verletzt, aber keineswegs lebensgefährlich, schwindet seine Reue.

Jahre vergehen, Berthold ist mittlerweile Student der Theologie und verliebt in ein Mädchen, welches er nicht anzusprechen wagt. Als sich sein bester Freund, der beliebte und hübsche Johannes, hinter Bertholds Rücken mit ihr trifft, um für sich auszukundschaften, ob diese Bürgerstochter nicht vielleicht doch zu einem Treffen mit Berthold bereit wäre, weckt seine vorherige Geheimniskrämerei Bertholds Argwohn. Er folgt dem Freund, beobachtet das Gespräch in jenem Garten von der Mauer aus und kocht vor Wut über den vermeintlichen Verrat. Kaum ist das Mädchen aus dem Garten verschwunden, kommt auch Johannes wenig später aus dem Gartentor, wo Berthold schon auf ihn wartet und ihn erschlägt. Um nicht zur Verantwortung gezogen zu werden, verwischt Berthold die Spuren und verschwindet aus der Stadt, schließt sich den Soldaten an: Der Dreißigjährige Krieg beginnt.

An dieser Stelle bricht Hesse das Erzählen unvermittelt ab, der Roman bleibt Fragment. Seine Thematik aber – die ungleiche Freundschaft zweier junger Männer vor dem Hintergrund einer Klosterschule und der Religion als Lebensweg, die Frage der Lebensgestaltung, die Zerrissenheit zwischen einem Leben für die Wissenschaft, für den Geist, auch im spirituellen Sinn, und einem Leben, welches die Freuden der Sinne kennt und schätzt – blieb. Mehrfach gestaltete Hesse diese Thematik; und stets ist sie für ihn mit schuldhaften Verstrickungen verquickt. Diese werden erst in »Narziß und Goldmund« in gewisser Weise dadurch aufgehoben, dass sie als Teil beider Lebensmodi gesehen werden:

»Narziß und Goldmund« erzählt bekanntlich gleichfalls die Geschichte eines jungen Menschen, der eine Klosterschule besucht und dessen Verwandten für ihn das Priesteramt, das Kloster als Weg vorgesehen haben, ohne je zu reflektieren, ob Goldmund selbst so leben möchte; ein Weg befohlen, einzig und allein der Mutter wegen, welche die Familie verließ, da ihr Mann der Kunst feindselig gegenüberstand, die sie jedoch zum (Über)Leben in dieser Welt braucht, um nicht an rigider Starre und alltäglichem Einerlei zu ersticken.

Im Gegensatz zu anderen Hesse-Figuren wie Berthold hat Goldmund jedoch das Glück, im jungen Klosterbruder Narziß einen Menschen zu finden, der diese Verhältnisse durchschaut und der des Vaters Verurteilung jedweder anderen Lebensform mit eigener Sichtweise widerlegt, sodass sich Goldmund nicht nur mit seiner Liebe zur Kunst, sondern auch zur Mutter, zur Frau und zu seiner eigenen Sexualität aussöhnen kann.

Stellt man die beiden Protagonisten – Berthold und Goldmund – einander gegenüber, wird rasch der gedankliche Weg sichtbar, den Hesse in den rund zwanzig Jahren, die zwischen den beiden Entwürfen liegen, beschritten hat. Auch in »Narziß und Goldmund« tötet Goldmund, doch nicht in Eifersucht und Rage, sondern aus Notwehr, sodass dieser Held, der dem Lesenden zur Identifikation angeboten wird, im Gegensatz zu Berthold in seiner Fallhöhe nicht angetastet ist. Er kann – insbesondere durch innere Aussöhnung mit dem ›weiblichen Element‹ – aus Vergangenem lernen und die Zerrissenheit durch Wertschätzung seines eigenen Lebenswegs ad acta legen.

Die Zerrissenheit als Lebensthema Hesses gestaltete er übrigens bereits 1904 in »Peter Camenzind«, jenes Werk, das seinen literarischen Durchbruch markiert. Dort tritt sie aufgrund des Gegensatzpaars Geist und Natur auf. In »Narziß und Goldmund« kommen weitere Aspekte hinzu, die Hesse als ›männlich‹ (Geist, Bewußtsein, Vernunft, das Helle, Gott, Religion, Askese und ihre Übertreibung) versus ›weiblich‹ (Mütterliche, Emotionale, Triebhafte, Dunkle, die Natur, das Grausame, Anziehende, Sündhafte) definiert. Für heutige Leser*innen mögen diese Adjektive ›weiblich‹/›männlich‹ sowie ihre Einschreibungen eine Herausforderung darstellen, doch gilt es, dabei die Zeit und die Gesellschaft mitzudenken, in der Hesse lebte.

Die Zerrissenheit als Lebensthema Hesses setzt bei all seinen Figuren ein, mögen sie nun Berthold, Peter oder Goldmund heißen, sobald sie ihre Kindheit hinter sich lassen, und ihr ›erstes Erwachen‹ verhindert, dass sie jemals wieder in das Kindheitsparadies zurückkehren können. Hesse nennt diese Stufe der Jugend- und Erwachsenenjahre diejenige des Konflikts: Vor ihm gibt es kein Ausweichen, und er prägt das Leben bis zum Tod, der als dritte Stufe beschrieben und von Hesse ›das Reich des Geistes‹ genannt wird. Erst in der ›Urmutter‹, die in »Demian« auch ›Abraxas‹ bzw. ›All‹ heißt, und die sich im Sterben in »Narziß und Goldmund« vollzieht, können die Gegensätze, welche alle Zerrissenheit im menschlichen Leben bewirken, überwunden werden. Ein Überspringen ist unmöglich, ebenso ein Verharren. So Hesses Denkwelt, die er auch in seinem bekannten Gedicht »Stufen« darstellt, insbesondere die zweite Strophe sei hier in Erinnerung gerufen, sie nimmt der düsteren Schwere dieser Lebenssicht ihr Gewicht:

»Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.«

Wenig Wunder daher auch, dass dieses Gedicht mit »[…] nimm Abschied und gesunde!« endet.

Bei »Berthold« erleben wir im ersten Erzählteil den Beginn der zweiten Stufe, das Erwachen aus der Kindheit, die jäh zunehmende Zerrissenheit dominiert den zweiten Teil, der dritte Abschnitt führt in die Katastrophe, bevor der Roman jäh endet: Ein Zurück ist unmöglich, nicht einmal die Geistwelt steht ihm nach dieser Tat noch offen, einzig diejenige des Krieges. Die Kindheitstat, in Unwissenheit begangen, wird so derjenigen gegenübergestellt, die aus Berthold – aufgrund seiner Erfahrung jener Kindheitsepisode – einen kaltblütigen Mörder macht.  »[…] [N]imm Abschied und gesunde!«, das wäre für den Autor solch einer Figur wohl eine Herausforderung, und so bleibt Berthold nur das letzte Wort dieses Fragments: verschwinden. Gerade darin liegt aber auch die Stärke dieser Arbeit, das jähe Ende trägt entschieden zum Nachhall im Lesenden bei. Womöglich sah dies auch Hesse so und entschied sich daher, es dennoch – über dreißig Jahre nach dem Verfassen (1907/08) – als Fragment zu publizieren; zuerst 1944/45 in der »Neuen Schweizer Rundschau«, alsdann, 1945, auch als Einzelausgabe.

Andere Erzählungen, die er gegen Ende des ersten Jahrzehnts verfasste, nahm er damals bereits in einen Sammelband auf. Generell waren die Jahre 1907-1910 für Hesse keine einfachen, was sich vielleicht auch in »Gertrud« zeigt, diesem Roman, mit dem Hesse selbst etwas unzufrieden war – u. a. des Echos wegen: »Neben kritiklosem Lob äußert sich stark auch jene Revanche der Presse, die einen Autor so lange als Genie ausgeschrien hat, bis sie müde wird und ihn plötzlich für einen Trottel erklärt […].« (Zeller, S. 59) 

Übrigens wird er selbst sogar über das so ungemein positive Echo spötteln, welches »Narziß und Goldmund« erfuhr: »Der ›Goldmund‹ entzückt die Leute. Er ist zwar um nichts besser als der ›Steppenwolf‹, der sein Thema noch klarer umreißt und der kompositorisch gebaut ist wie eine Sonate, aber beim Goldmund kann der gute deutsche Leser Pfeife rauchen und ans Mittelalter denken, und das Leben so schön und so wehmütig finden, und braucht nicht an sich und sein Leben, seine Geschäfte, seine Kriege, seine ›Kultur‹ und dergleichen zu denken. So hat er wieder einmal ein Buch nach seinem Herzen gefunden. Nun, es ist ja einerlei, es kommt ja doch bloß auf die paar wenigen an …« (Zeller, S. 104)

Während »Berthold« kaum jemand kennt, ist »Narziß und Goldmund« – mit Abstand! – das erfolgreichste Buch Hermann Hesses: übersetzt in 30 Sprachen und auf Deutsch wurden seit dem Erscheinen der Erzählung 1930 über zwei Millionen Exemplare verkauft.

 

Quellen:

Hesse, Hermann: Berthold. O. O.: Suhrkamp 1985.

 

Fehrholz, Kathrin: Die Suche nach der "Urmutter" - Der Dualismus von Geist und Natur im Werk Hermann Hesses. Vgl.: https://www.grin.com/document/76085

 

Zeller, Bernhard: Hermann Hesse. rororo-Bildmonographien. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1984.