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Thomas Mann »Buddenbrooks«. Oder: Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod.

Wer Thomas Manns »Buddenbrooks. Verfall einer Familie« im Laufe eines Lebens öfters liest, kann feststellen, dass einem dieses Werk aufgrund der Figurendichte des Generationenromans in jedem Jahrzehnt Neues zu erzählen weiß: In meinen Zwanzigern war er mir der Roman des Versagers Christian, der sich gezwungen weiß, eine kaufmännische Laufbahn einzuschlagen, wiewohl er ein begabter Schauspieler und guter Comedian wäre und dessen Leben daran scheitert, dass er etwas sein soll, das er nicht ist. In den Dreißigern beeindruckte mich Tony, die Tochter, deren Ehen jedes Mal aufs Neue in die Brüche gehen und die – allem von ihr betonten ›Kennen der Welt‹ zum Trotz – in einem kindlichen Gemüt stecken bleibt und damit Mal um Mal auf die Nase fällt; übrigens eine ›Krankheit‹ mehrerer Mannscher Frauenfiguren. In meinen Vierzigern war es mir der Roman des Konsuls Buddenbrook, des Vaters der oben genannten Geschwister, der das Bemühen um ein gleiches Wahlrecht nicht als Zeichen der Zeit versteht und den Aufstand als »ein bißchen Spektakel« (S. 153) der jungen Leute abtut. Auch der Medizinstudent Morten rückte in den Vordergrund, der sich Tony gegenüber gegen eine Hierarchie, vorgegeben durch Geburt und Familie ausspricht (S. 114), sich dennoch zurückzieht und die Revolte nicht wagt: Es bleibt letztlich bei leeren Worten.

Bei dieser Relektüre des Romans nun legte sich mein Aufmerksamkeitsfokus auf Thomas, Tom genannt, den ältesten Sohn der Familie, für den das Leben von Jahr zu Jahr mehr innere Kraft benötigt, die er – bereits mit knapp Vierzig – kaum mehr in der Lage ist, aufzubringen: den Schein zu wahren, wird zur unerträglichen Last.

 

Inhalt – grob geraspelt

 

Doch beginnen wir am Anfang, zumindest in einer groben Zusammenfassung, denn der Inhalt dieses Generationenromans dürfte gemeinhin bekannt sein:

In den ersten Abschnitten erleben wir die Einweihungsfeier eines neuen Hauses, das im Grunde genommen keines ist, da die Familie in einen Prachtbau eines bankrotten Berufskollegen zieht, der – allen Warnungen zum Trotz – einem windigen Compagnon vertraute und daher abwirtschaftete. Damit beginnen sogleich auch die schlechten Vorzeichen, die diesen sechshundert Seiten starken Roman eines Untergangs durchziehen. Johann Buddenbrook, der Großvater, sein Sohn, der Konsul, Jean genannt, und seine Frau, die drei Kinder Tom, Tony und Christian sind das zentrale Figurenensemble, das sich später um Gerda, Toms Frau, und seinen Sohn Hanno ergänzen wird.

Im Gegensatz zu Johann halten sich Jean (und später Tom) in geschäftlichen Angelegenheiten akribisch an die Devise ihrer Ahnen, die in der Familienchronik fixiert und gerne zitiert wird:  »Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können.« (S. 46)

Jean tendiert – im Alter zusehends! – auch zu einem »schwärmerische[m] Christentum« (S. 548). Dennoch – oder: Deswegen?, denn jede Investition wird mit Vorsicht getätigt, außer ein Missionar, ein Kirchenmann klopft an die Tür – sinkt das Familienvermögen stetig. Obendrein hat ein Sohn Johann Buddenbrooks aus erster Ehe ausbezahlt zu werden, der neue Familiensitz samt prestigeträchtigem Interieur muss beglichen werden. Das kostspielige Alltagsleben der großen Familie, die Unfähigkeit des Konsuls, die Dienstboten der vorhergehenden Generation zu entlassen – sie gehören doch irgendwie beinahe zur Familie, ebenso wie die verarmten Verwandten –, all das schmälert den Besitz; ebenso wie Christians Eskapaden und Tonys hochmütige Lebenseinstellung – am liebsten wäre sie adelig, doch da dies nicht in ihrer Macht liegt, will sie zumindest mit ihnen befreundet sein und im adeligen Lebensstil die ›Dehors‹ waren, wie die Konsulin es nennt. Vor allem die neureichen Hagenströms sind ihr lebenslang ein Dorn im Auge. Im Pensionat schließt sie sich deswegen nicht bloß Armgard, Tochter landadeliger Gutsbesitzer, an, sondern auch der Violinvirtuosin Gerda, deren Spiel zwar begnadet ist, doch wird es nie andere als den engen Familienkreis erfreuen, da für Frauen nichts vorgesehen ist außer die Ehe, eine möglichst vorteilhafte Partie, die das Familienvermögen trotz vorher auszugebender Mitgift durch Beziehungen und Netzwerke zu mehren versteht, wie Tony sehr wohl bewusst ist. Zu solch einer Verheiratung drängt der Vater nach Prüfung der Geschäftsbücher des Kandidaten, selbst wenn dieser Grünlich heißt und unsagbare Albernheiten von sich zu geben weiß, wie »Diese Klatschrosen dort drüben putzen ganz ungemein …« Übrigens zum Gaudium Christians (und des Lesenden), der diesen Geck – kaum dass Grünlich sich verabschiedet hat – großartig in seinem darstellenden Spiel zu porträtieren versteht.

 

Keine vorteilhaften Partien

 

Was Tony instinktiv empfindet, eine heftige Ablehnung, entgeht dem Vater, der sich nur allzu gerne von den frisierten Geschäftsbüchern täuschen lässt und nicht durchschaut, dass dem Betrüger das Wasser bereits bis zum Hals steht, er nach wenigen Ehejahren Konkurs anmelden muss. Der Vater, der sich der Schuld des übereilten Handelns zeiht, holt Tony samt ihrer kleinen Tochter Erika in die Familienresidenz zurück. Die Mitgift aber ist verloren. Um die Scharte auszuwetzen, will Tony einige Jahre später ein weiteres Mal heiraten. Ihre Wahl fällt auf den Münchner Permaneder, doch sie, die von einem konstanten Streben ›Vorwärts‹ ausgeht, ohne dies je zu hinterfragen, verkennt diesen Mann. Dass er sich mit ihrer Mitgift als Privatier zur Ruhe setzt, erzürnt sie. Die nächste Summe, die dem Familienvermögen abgezweigt zu werden hat; während er einzig noch einige Wohnungen in seinem Haus vermieten will, da ihm die Ruhe einen höheren Wert hat als alles hektische Wirtschaften. Als er sich, angetrunken, obendrein an einer Dienstmagd vergreift, sie abknutscht, und Tony des lauten Gepolters wegen hinzukommt, benennt er sie auf eine Art, die Tony sich selbst ihrer Familie gegenüber auszusprechen weigert. Auch nach der Scheidung wird ›das Wort‹ über fünfzehn Seiten als Leerstelle offen gehalten, bis es uns als »Saulud dreckats« (S. 330) genannt wird. Toms Reaktion auf Permaneders Übergriff lautet, er sei entschuldbar, so ein »kleine[r] unziemliche[r] Seitensprung«, »ein kleine[r] Übergriff«, den müsse man des Alkohols wegen doch verstehen, alles unter »mildernde[n] Umstände[n]« obendrein, schließlich habe ein Freund Namenstag gefeiert, doch wenn Tony auf Scheidung bestehe, sie, die sich im ›Ausland‹ Bayerns nie beheimaten konnte, lieber ins Elternhaus zurückkehre, mische er sich nicht ein (S. 319f). Und keiner denkt auch nur mit einem Wort an die Köchin, an der sich Permaneder verging …

Übrigens wird Tonys Tochter Erika kaum mehr Glück mit ihrer Lebenswahl haben: Erikas Ehemann, ein Rechtsanwalt, wird in Haft genommen für ein Gebaren, das nicht wirklich korrekt war, das dennoch in seiner Profession als Usus galt. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis verschwindet er auf Nimmerwiedersehen nach England.

Auch Clara, die jüngste Tochter der Buddenbrooks, trägt nicht zum Mehren des Familienvermögens bei: Sie heiratet einen Pastor aus Riga, erkrankt wenig später lebensgefährlich und teilt als ihren letzten Wunsch der Mutter mit, ihr Erbe möge ihrem Ehemann ausgezahlt werden: Nur so könne sie in Frieden ruhen. Da die Konsulin im Alter mehr als etwas bigott geworden ist, gerne diesen und jenen Pilger, Pastor oder Missionar verköstigt und großzügig unterstützt, Jerusalem Abende mit strickenden Jungfern und Bibellesungen samt geistigen Liedern abhält, wird sie diese letzte Bitte ihrer jüngsten Tochter erfüllen, selbst gegen den Widerstand Toms, der mittlerweile die Geschäfte der Familie alleine führt. Denn Christian, kaum aus dem Ausland zurück, wo er das britische und das holländische Geschäftsgebaren erlernen sollte, zeichnet sich dadurch aus, höchstens für ein Stündchen im Kontor zu erscheinen, dafür umso häufiger in seinem Club, im Theater oder bei seiner Geliebten, einer (Lebens)Künstlerin namens Aline Puvogel. Wo auch immer sich dieser Dandy aufhalten mag, er unterhält alle aufs Beste mit seinen Geschichten und Darbietungen, bloß seinen Bruder Tom nicht, der ihn final aus der Firma wirft und ausbezahlt. Erneut schrumpft das Familienvermögen.

 

Verfall der Körper

 

Je älter Christian wird, desto markanter werden nicht bloß seine Gesichtszüge, die Magerkeit seines Körpers, sondern auch seine neurotisch übersteigerten hypochondrischen Anwandlungen nehmen zu. Erst nach dem Tod der Mutter kann Christian Aline heiraten, deren jüngstes Kind Gisela seine uneheliche Tochter ist, wie Christian glaubt. Wenig später wird Aline ihn wegen seiner zerrütteten Nerven in eine Anstalt einweisen lassen, in der er zeitlebens bleibt, da alle seine Versuche zu beweisen, dass er nicht wahnsinnig ist, scheitern.

All diese Fehlentscheidungen, Schicksalsschläge und Einbrüche tragen zum stetig näherkommenden Untergang der Familie bei, den Tom nicht aufhalten kann, auch wenn er all seine Kraft einsetzt. Es ist nicht bloß ein finanzieller Untergang, sondern vor allem auch einer der Lebensgeister (Krankheiten, schwelende Wunden, eiternde Zähne …) und der persönlichen Lebensziele; Tonys übersteigerter Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung und ›ihrem Beitrag‹ zum Familienglück sind ebenso zum Scheitern verurteilt wie Christians Streben nach Freiheit im engen Korsett der Normen. Und Tom … Tom kaprizierte sich darauf, nach Außen hin einer sein zu wollen, der er nicht ist: Stets ›morgenfrisch‹, jovial und wortgewandt, ewig eifrig und dienstfertig (S. 351). Dabei ist er mit 37 Jahren bereits derart ausgebrannt, dass der Arzt ihn entschieden zur Erholung ans Meer schickt.

 

Tom, ein Schauspieler im Alltag und sein Stück heißt Leben

 

Tom verwechselt ›leben‹ mit ›erledigen‹, er will endlich ›einmal alles fertig haben‹, um sich nicht mehr kümmern zu müssen (S. 352). Insbesondere die Fertigstellung eines neuen Wohnhauses, das man ›sich schuldig‹ sei (S. 353), belastet ihn derart, dass er an das türkische Sprichwort denkt: »Wenn das Haus fertig ist, so kommt der Tod.« (S. 361) Vor allem aber kann er nicht mehr an die »Gefügigkeit des Lebens« zu seinen Gunsten glauben (S. 361), dabei war er sich früher sicher, dass Glück und Erfolg in ihm seien, er müsse sie nur halten. Dieses Lebensgefühl hat er mit einem ersten beruflichen Scheitern verloren, selbst wenn es dabei um keine großen Summen ging. Noch beißt er die Zähne zusammen, doch den Schein zu wahren, das frisst von Jahr zu Jahr mehr an Kraft. Auf den Gedanken, dass seine fortwährende Anspannung, mit der er den Erfolg zu halten versucht, sein Scheitern bedingt, kommt er nicht: »Sowie hier drinnen etwas nachzulassen beginnt, sich abzuspannen, müde zu werden, alsbald wird alles frei um uns her, widerstrebt, rebelliert, entzieht sich unserem Einfluß … Dann kommt eines zum andern, Schlappe folgt auf Schlappe, und man ist fertig« (S. 361), lautet seine Lebenseinstellung, mit der er sich erschöpft und gegen die er dennoch nichts zu tun vermag, außer sich in Bagatellen zu verzetteln, den Bart noch exakter zu frisieren, das Hemd drei Mal täglich zu wechseln.

Nur einmal scheint eine Veränderung greifbar: An einem langen Nachmittag und in nachfolgender Nacht, im Gartenpavillon allein mit sich, da er Sorge hat, seine bedeutend jüngere Frau an den Nebenbuhler René Maria von Thronta zu verlieren: Was würde denn das Städtchen dazu sagen, vermutlich tratscht man schon … Thronta ist eindeutig als Kontrast zu Tom entworfen, wiewohl diese Figur am Rand des Romans bleibt. Ein Secondleutnant bei einem Infanteriebatallone, das in der Stadt garsoniert, doch in Wahrheit ein begnadeter Musiker wie Gerda selbst, im Alter ihr näher, ihrer Welt enger verbunden, als Tom es je sein wird. Nicht selten sagte Gerda ihm ins Gesicht, von Musik verstehe Tom nichts, ihm sei sie eine nette Unterhaltung, zur Untermalung eines Plauderns oder einer Abendstimmung, von Tonkunst habe er, Tom, keinen Schimmer.

Sitzt in seiner Eifersucht, seinen Verlustängsten im Gartenpavillon, ein Buch in der Hand, »halb gesucht, halb zufällig« (S. 550, das er »vor Jahr und Tag beim Buchhändler zu einem Gelegenheitspreise achtlos erstanden hatte: ein ziemlich umfangreiches, auf dünnem und gelblichen Papier schlecht gedrucktes und schlecht geheftetes Werk, der zweite Teil nur eines berühmten metaphysischen Systems …« (S. 550); und Tom entdeckt darin eine Welt: seine, diese »best[e] aller denkbaren Welten, von der mit spielendem Hohne bewiesen ward, daß sie die schlechteste aller denkbaren sei.« (S. 550) Und während der Lektüre fällt die Maske in bitteren Tränen, die Tom in Gesellschaft trägt; und wir erinnern uns an die Kutschenfahrt, die wir aus Hannos Sicht erlebten: (S. 527f): Mit welcher Mühsal sich der Vater die Maske des Elans, des jovialen Geschäftsmanns und bedeutenden Bürgers aufsetzt, er ist ein Schauspieler im Alltag und sein Stück heißt Leben – was weitaus tragischer anmutet als Christians Sich-in-Szene-Setzen vor jedwedem Publikum, um von seiner Angst, eines Tages nicht mehr schlucken zu können, zu schwafeln, die verkürzten Nerven links zu erwähnen oder den Gelenkrheumatismus, der ihn quält.

 

Eine beginnende Erkenntnis und ihre Auswirkung: Verharren

 

Eine Erkenntnis bahnt sich in Tom an. Doch anderntags wird das Buch in einer Schublade des Gartentischs verborgen, zwei Wochen später der Dienstmagd das Wegräumen aufgetragen (S. 555), um sich erneut der Verbissenheit zuzuwenden; und der Religion. Beruflich geht es nicht weiter, gesellschaftlich kann er nichts Höheres mehr erreichen, denn die nächste Stufe wäre der Bürgermeisterposten, doch der ist ihm als Nicht-Akademiker verwehrt: Es gibt nichts mehr für ihn zu erobern (S. 514), und nichts außer seine akribische Morgentoilette vermag ihn noch zu fesseln (S. 514f). Seine Unbefangenheit hat er verloren, sein Inneres ist geknotet und die »grausame Brutalität des Geschäftslebens«, die er in all den Jahren im Verhalten anderer beobachten konnte, lähmt ihn (S. 394). Doch anderntags beginnt Tom erneut, die ›Dehors‹ zu wahren, die Maske des jovialen Geschäftsmannes, der die Welt in Händen hält, zu tragen. 

Einzig Clara, die zuerst ausschließlich das Gebet und später den Pastor in seinem Wirken unterstützen will, bleibt durch ihren frühen Tod von diesem Dilemma zerbrechender Lebenspläne verschont. Oder wie Tom in jener einen klarsichtigen Nacht nach der Buchlektüre denkt:

»Durch die Gitterfenster seiner Individualität starrt der Mensch hoffnungslos auf die Ringmauern der äußeren Umstände bis der Tod kommt und ihn zu Heimkehr und Freiheit ruft …« (S. 552) 

Ihn wird der Tod dennoch überraschen; in Folge eines eiternden Zahnes bricht er auf offener Straße zusammen und verstirbt wenig später (S. 572).

Toms einziges Kind Hanno, dem die Musik der Mutter näher ist als alle ›Realitäten des Lebens‹, in die der Vater ihn drängen wollte – sei doch aktiver, männlicher, entschlossener, so wird nie ein Kaufmann aus dir, übernimmst du eh dann die Firma … –, erspart Toms Testament ein solches Leben: Die Firma Buddenbrook soll mit Toms Tod verschwinden (S. 585). Und das Haus? Wird verkauft.

 

Nach der Firma ist vor dem Ende

 

Gerda und Hanno ziehen in eine Vorstadtvilla. Hanno, eng befreundet mit dem jungen Kai, Graf Mölln, der ihm in allem gegensätzlich ist, temperamentvoll und aktiv, erkrankt als Jugendlicher an Typhus. Doch wird weder Erkrankung noch Tod erzählt, sondern durch einen eingeschobenen Exkurs ausgespart, der durchaus an ein medizinisches Lexikon erinnert und einen typischen Krankheitsverlauf bei Typhus wiedergibt (S. 632–634). Dieser endet mit dem Satz: »[…] nein, es ist klar, dann wird er sterben. –« (S. 634)

Spätestens nun erinnert man sich, dass Hanno als Kind in der Familienchronik unter seinen Namen einen doppelten Strich quer über die Seite zog. Zur Rede gestellt, erklärt er, er habe gedacht, dass nach ihm nichts mehr komme (S. 439). Von Hanno bleibt einzig die Flüchtigkeit einer Komposition, die er nie niedergeschrieben hat. Und die Erzählung, die Gerda und Tony austauschen, dass der junge Graf Mölln, »beinahe mit Gewalt« (S. 637), darauf beharrte, in das Krankenzimmer eingelassen zu werden, wo er dem Sterbenden »unaufhörlich beide Hände küsste« (S. 637).

Der letzte Absatz des Romans wendet sich noch einmal der Thematik der Religion in Form der Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits zu:

Tony, deren kindliches Gemüt oftmals betont wurde, sagt an jener Stelle: »Das Leben, wißt ihr, zerbricht so manches in uns, es läßt so manchen Glauben zuschanden werden … Ein Wiedersehen … Wenn es so wäre …« (S. 637)

Worauf ihre ehemalige ›Lehrerin‹ Sesemi Weichenbrodt, die Leiterin eines Pensionats für höhere Töchter, die durchaus zu Plattitüden neigt, insistiert: »Es ist so!« Selbst wenn ihre Lehrerinnenvernunft sie dies manchmal infragestellen ließe, sie beharre auf dieser Überzeugung (S. 637)

 

Philosophie versus Religion

 

Spätestens an dieser Stelle erinnern wir uns an das Ende der Lektüre des zweiten Bandes eines metaphysischen Systems und des Nachsinnens Toms, das anderntags so abrupt endet: »Gehetzt von fünfhundert nichtswürdigen alltäglichen Bagatellen, die in Ordnung zu halten und zu erledigen sein Kopf sich plagte, war er zu willensschwach, um eine vernünftige und ergiebige Einteilung seiner Zeit zu erreichen. […] So aber geschah es, daß Thomas Buddenbrook, der die Hände verlangend nach hohen und letzten Wahrheiten ausgestreckt hatte, matt zurücksank zu den Begriffen und Bildern, in deren gläubigem Gebrauch man seine Kindheit geübt hatte. Er ging umher und erinnerte sich des einigen und persönlichen Gottes, des Vaters der Menschenkinder, der einen persönlichen Teil seines Selbst auf die Erde entsandt hatte, damit er für uns leide und blute, der am Jüngsten Tage Gericht halten würde und zu dessen Füßen die Gerechten im Laufe der dann ihren Anfang nehmenden Ewigkeit für die Kümmernisse dieses Jammertales entschädigt werden würde … dieser ganzen, ein wenig unklaren und ein wenig absurden Gesichte, die aber kein Verständnis, sondern nur Gehorsam beanspruchte und die in feststehenden und kindlichen Worten zur Hand sein würde, wenn die letzten Ängste kamen … Wirklich?

Ach, auch hierin gelangte er nicht zum Frieden.« (S. 555)

Beide Stellen – die Passage nach der Lektüre sowie das Finale des Romans – korrespondieren miteinander. Das Ende rückt nochmals das von Tom gelesene Werk, dessen Titel ungenannt bleibt, in den Blick, dieses »berühmt[e] metaphysisch[e] System«; eine (vermeintliche) Leerstelle, denn es kann sich dabei einzig um Schopenhauer handeln.

 

Lektüreerlebnis Schopenhauer und seine Spuren in den »Buddenbrooks«

 

Schopenhauers zweiter Band zu »Die Welt als Wille und Vorstellung« erschien mehr als 20 Jahre nach dem ersten Band, den er damals nur in höchst geringer Auflage drucken ließ, da er nicht wollte, dass sein Werk inflationär betrachtet werde. Damit, dass es mehr oder weniger gar kein Echo evozieren könnte, hatte er dennoch nicht gerechnet, weswegen er mit dem Wunsch, sich endlich verständlich zu machen, jenen zweiten Band verfasste. Erst nun fand seine Gedankenwelt größere Beachtung, doch fokussierte man im 19. Jahrhundert überwiegend bestimmte Teilaspekte, weshalb Schopenhauer zu jener Zeit als pessimistischer Philosoph eingeschätzt wurde.

Mit Schopenhauers Gedankengut war Thomas Mann vertraut, er setzte sich auch in einem Essay damit auseinander (»Über Arthur Schopenhauer«). Eindeutige Hinweise finden sich in den »Buddenbrooks« in der Kritik an Gottfried-Wilhelm Leibniz (beste aller Welten), in der Buchwahl Toms und den damit verbundenen Gedanken (vor allem »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich« wird gespiegelt) oder in den nachfolgenden Reflexionen Toms (Siehe die zuvor zitierte Passage: »Durch die Gitterfenster seiner Individualität […]«, S. 552). Auch die Masken, Toms Verhalten, das Leben mit einer Theaterbühne zu verwechseln und zu versuchen, als Schauspieler im Alltag der anderen zu überleben, die Stufenleiter (Was einer ist, was einer hat, was einer vorstellt) evozieren Erinnerungen an Schopenhauers Gedankenwelt.

Vor allem  die Figur Toms wird davon dominiert; oder um es mit Thomas Mann selbst zu sagen:

»Das ist die Spur Schopenhauers, tief eingedrückt, haltbar für das Leben. Es wäre auch schopenhauerisch gewesen, wenn ich hinzugefügt hätte: ›Wer sich für den Tod interessiert, der sucht in ihm das Leben‹ [Vgl.: Im »Zauberberg« findet sich diese Spur Schopenhauers!]; und ich habe es, wenn auch weniger epigrammatisch, gesagt: als ganz junger Dichter, als es galt, den Helden meines Jugendromans, Thomas Buddenbrook, zu Tode zu bringen, und als ich es ihm gönnte, jenes große Kapitel ›Über den Tod‹ zu lesen, unter dessen frischem Eindruck ich eben selbst, der dreiundzwanzig- oder vierundzwanzigjährige Autor, stand. Es war ein großes Glück, und in meinen Erinnerungen habe ich gelegentlich davon erzählt, daß ich ein Erlebnis wie dieses nicht in mich zu verschließen brauchte, daß eine schöne Möglichkeit, davon zu zeugen, dafür zu danken, sofort sich darbot, dichterische Unterkunft unmittelbar dafür bereit war.« (Vgl.: »Über Arthur Schopenhauer«)

Die Gedanken jener Nacht – »War nicht jeder Mensch ein Mißgriff und Fehltritt? Geriet er nicht in eine peinvolle Haft, sowie er geboren ward? Gefängnis! Gefängnis! Schranken und Bande überall! Durch die Gitterfenster seiner Individualität starrt der Mensch hoffnungslos auf die Ringmauern der äußeren Umstände, bis der Tod kommt und ihn zu Heimkehr und Freiheit ruft . . .« (S. 552) – führen zu Reflexionen über die Begrenztheit des Ichs – »Ach, was man ist, kann und hat, scheint arm, grau, unzulänglich und langweilig; was man aber nicht ist, nicht kann und nicht hat, das eben ist es, worauf man mit jenem sehnsüchtigen Neide blickt, der zur Liebe wird, weil er sich fürchtet, zum Haß zu werden. Ich trage den Keim, den Ansatz, die Möglichkeit zu allen Befähigungen und Betätigungen der Welt in mir … Wo könnte ich sein, wenn ich nicht hier wäre! Wer, was wie könnte ich sein, wenn ich nicht ich wäre, wenn diese meine persönliche Erscheinung mich nicht abschlösse und mein Bewußtsein von dem aller trennte, die nicht ich sind!« (S. 552) – und final zu Gedanken über den Tod: »Wo ich sein werde, wenn ich tot bin?«, fragt sich Tom und gibt sich sogleich selbst die Antwort: »Aber es ist so leuchtend klar, so überwältigend einfach! In allen denen werde ich sein, die je und je Ich gesagt haben, sagen und sagen werden …« – steht in Zusammenhang mit dem Romanende und mit dem Szenenende, in dem sich Tom, als Erlösung vor seinen eigenen Gedanken, in die Religion flüchtet, mit »Geniertheit für seine Extravaganzen von gestern« (S. 554).

Toms Tod, einige Tage, nachdem er auf offener Straße nicht mehr die ›Dehors‹ wahren konnte, sondern im Rinnstein zusammenbrach, interpretiert Thomas Mann in seinem Schopenhauer Essay als »Erlösung aus den Fesseln seiner müden Individualität, die Befreiung von einer Lebensrolle, die er symbolisch genommen und mit Tapferkeit und Klugheit repräsentiert, die aber seinem Geist, seinem Weltverlangen niemals genuggetan hatte und ihm ein Hindernis gewesen war, etwas anderes und Besseres zu sein«.   

 

»Der Untergang des Hauses Usher« oder die amerikanische Literatur in Thomas Manns Werk

 

Ein weiteres Buch, das Thomas Mann intertextuell nutzt, ist Edgar Allan Poes Kurzgeschichte »Der Untergang des Hauses Usher« (1839 erschienen im »Burton’s Gentleman’s Magazine«): In den »Buddenbrooks« liest Kai, der junge Graf Mölln, diese Erzählung im Bankfach, die Thematik lässt ihm keine Ruhe, sie spiegelt sich auch in seinen als freche Witze getarnten Kommentaren zu einem Lehrer, der sich nicht durchsetzen kann.

In Poes Kurzgeschichte wird der namenlose Ich-Erzähler von seinem Jugendfreund Roderick Usher herbeigerufen, denn das Anwesen der Familie Usher, das an einem See liegt sei ein beunruhigender Ort, nun, da seine Zwillingsschwester verstorben sei und im Keller aufgebart liege, um ebenda auch begraben zu werden, fühle er sich krank. Als das Ich ankommt, zieht sich bereits ein Riss durch das Gemäuer. Am See ist von Dämonen die Rede, welche sich Menschen holen, die zu lange auf die Wasseroberfläche blicken. Roderick, letzter Spross eines degenerierten Adelsgeschlechts leidet und kränkelt, im Wechsel mit Phasen höchst effektiver künstlerischer Produktivität, die manisch anmuten. Das Ich soll ihm seine Krankheitsstunden vertreiben, ihm vorlesen – dafür wird eine Rittergeschichte ausgewählt, die aufheitern soll, doch das Gegenteil ist der Fall. Das Ächzen des Hauses nimmt zu, und plötzlich steht die Schwester im Raum, blutüberströmt. Sie stürzt auf Roderick zu, der am Schock stirbt. Der Ich-Erzähler stürmt aus dem Haus – sich umwendend sieht er, dass der Riss mittlerweile nicht mehr bloß ein Spalt im Mauerwerk ist, sondern mittlerweile ein klaffendes Loch freigibt. Wenig später fällt das Haus in sich zusammen. Zentrales Thema dieser Erzählung ist also der Verfall einer Persönlichkeit, der sich bereits in Überempfindlichkeiten dieser Künstlernatur ankündigt, der Untergang einer Familie und die Unmöglichkeit des Ich-Erzählers, seinen Freund zu retten. Gespiegelt in den »Buddenbrooks« wird das Ich, dem es nicht gelingt, den Freund zu retten, in der Figur Kais, der in der Schulstunde versucht, Hanno darüber aufzumuntern, dass er in Latein, in Mathe erneut versagen wird; und wie im »Schüler Gerber« findet sich auch hier ein Lehrer als »Gott«, der Hanno, beginnender Virtuose am Klavier (oder zumindest möchte er sich so gesehen wissen) als »Vandale, […] Barbar, […] amusisches Geschöpf« (S. 614) beschimpft.

Was der Vollständigkeit halber noch zu erwähnen wäre, sich jedoch in anderen Rezensionen ausführlich findet: Die Nutzung der regionalen Dialekte zur Figurencharakteristik, das Werk als Schlüsselroman und den Skandal, den Thomas Mann damit heraufbeschwor, die Verwendung der Farben Blau (Weite, Meer, Freiheit) und Gelb (Untergang, Ende), die den Roman ebenso durchziehen wie die leitmotivischen Sätze, die zahlreichen Figuren eingeschrieben sind, mit denen sie sich auch in unserem Gedächtnis verankern und die der Ironisierung dienen. Damit sind wir schon beim nächsten Stichwort, der Ironie, denn die »Buddenbrooks« sind trotz der Erzählung eines Untergangs ein höchst vergnügliches Werk, dessen Lektüre ein Genuss ist!

 

Quelle:

Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt a. M.: Herder–Buchgemeinde 1968.

 

Schwob, Ralf: Thomas Mann und die amerikanische Literatur mit besonderer Berücksichtigung des Werks von Walt Whitman

Magisterarbeit, 2001

 https://www.grin.com/document/87216

 

https://www.arthur-schopenhauer-studienkreis.de/Thomas-Mann/thomas-mann.html