Ein Dichter, den ich persönlich sehr schätze, ist Julian Schutting – ob seiner kollegialen Art, seines unprätentiösen Wesens, seines Charismas und seiner umfassenden Bildung, vor allem aber wegen seiner Sprache. Schutting wurde am 25. Oktober 1937 in Amstetten, Niederösterreich, als Jutta Maria Franziska Schutting geboren. Auf den Besuch der Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt, wo er den fachlichen Schwerpunkt auf die Fotografie setzte, folgten an der Universität Wien Studien der Geschichte und Germanistik, die er mit dem Doktorat abschloss. Von 1965 bis 1987 unterrichtete er am Wiener Technologischen Gewerbemuseum (TGM). 1989 wurde eine Geschlechtsangleichung vollzogen, um – wie es in einer damals veröffentlichten Erklärung seines Verlages hieß – »Übereinstimmung mit meinem lebenslangen Selbstgefühl« zu erreichen.
Julian Schutting, der seit 1987 als freier Schriftsteller in Wien lebt, ist nicht nur für die Feinheit seiner sprachlichen Gestaltung in Lyrik und Prosa bekannt. Er verfasste auch sprachphilosophische Abhandlungen, die durch feinsinnigen Humor besonders lesenswert sind. Lesenden, insbesondere wenn sie auch Schreibende sind, seien an dieser Stelle vor allem Schuttings Sprachspaltereien in »Der Winter im Anzug« empfohlen, bei denen man das eine oder andere »Aha!« erleben mag – als sprachversierte Literat*in hoffentlich möglichst wenige. (Dies sei nicht nur den Autor*innen, sondern vor allem den literarischen Arbeiten sowie den Leser*innen gewünscht.)
All jenen Literat*innen aber, die ihre ersten Auftritte auf Bühnen absolvieren und sich vor ihrer Lesung – aus welchen Gründen auch immer – dazu genötigt sehen, öffentlich anzumerken, sie wüssten nicht zu sagen, ob das Verfasste – ›der Text‹, so nennen sie es gerne kühl – ein Gedicht sei, ›vermutlich schon‹, zumindest ›irgend so etwas wie‹, doch ›vielleicht auch nicht‹, all jenen Literat*innen sei Schuttings Interview-Zeile zur Reflexion empfohlen:
»Ich habe es mir zur Vorschrift gemacht, ein jedes Gedicht habe auch eine Rechtfertigung zu sein, wodurch es ein Gedicht sei. Nämlich durch sein Formales, durch Variationen eines Einfalls in ihn umkreisenden Zeilen.«
Kopflastig, so Schutting, sei manches aus den Anfangsjahren gewesen (»Die Narrenfreiheit von heute habe ich damals natürlich nicht gehabt.«), und auf eine erste Zeile, die einem im günstigsten Fall zufliege, folge – nein, nicht Knochenarbeit:
»Das Vergnügen ist doch: wie ein Architekt vor dem in Rohform Hingeschriebenen zu verfahren. Oder wie ein Lokführer auf einem Verschubbahnhof Zeilen- und Wortgruppenverschiebungen durchzuprobieren. Gedichte sind vor allem Gemachtes, Erklügeltes, selbst wenn ihnen Empfundenes oder Gefühltes zugrunde liegt.«
Schreibarbeit wechselt sich für Schutting, der bekanntlich ein passionierter Spaziergänger ist, mit langen Fußmärschen ab; nicht nur, aber auch durch Wien. Oder rundum, den Wienerwald durchstreifend; gerne auf den Kahlenberg. Selbst wenn aus ›vier Stunden gehen, vier Stunden schreiben‹ mittlerweile drei zu drei geworden sind, gestaltet sich Schuttings Arbeitstag nach wie vor auf diese Weise: Auf die Morgenarbeit folgt der erste Spaziergang, bei dem vieles durchdacht, manches notiert wird.
Gehen – zügig –, und schauen, doch ohne sich »an jeden Schmarrn zu verlieren«, wie Schutting es in einem Interview nennt. Danach aber ungeduldig zurück an den Schreibplatz. Beides, Fußmärschen sowie Bergwanderungen, kehren als Konstanten in seinem Werk wieder, finden sich oft im Zusammenspiel mit Naturbetrachtungen.
Auffallend ist – neben höchst sparsam und dennoch in direkten Reden ab und an eingesetzten Austriazismen – die Rolle der Religion und der Musik (insbesondere die Oper): Beide wären eine eigene literaturwissenschaftliche Untersuchung wert, da sie nicht bloß Kulisse sind, sondern häufig auch als Erzählraum, oft in Kontrast zu Erwartetem, eingesetzt werden. Obendrein lädt die Musik im Werk zum (Mit)Hören und Sich-Auseinandersetzen ein. Wohl auch weil da einer davon spricht, dem sie bedeutsam ist und keine Untermalung:
»Tonleiter
solange man selbst in labiler Verfassung, ist man diesen statischen Gebilden nicht zuzumuten – deren In-sich-Ruhen darf sich zu gut sein, Unrast zu beruhigen […]«,
so heißt es in einer Literaturminiatur »Zu Josef Matthias Hauer«.
Wer einen Roman Schuttings lesen möchte, deswegen nach »Zu jeder Tageszeit« greift, da der Verlag ihn so untertitelte, der wird jedoch wohl enttäuscht werden, erwartet er oder sie sich klassisches Erzählen, einem Spannungsbogen folgend, von A nach B. Oder – und dies ist hoffentlich mindestens genauso wahrscheinlich: – er oder sie wird sich an den lyrisch kreisenden Elementen erfreuen, welche diese Erzählung durchziehen, deren Titel ich im Inneren stets ›und zu Nachtzeiten auch‹ hinzufügen möchte. Nicht bloß, weil eine Mehrheit der Sequenzen im oder um das ›Gute-Nacht!‹ gruppiert sind. Diese Erzählung zweier Menschen, die Feuermauer an Feuermauer wohnen und die langsam, weil sie sich bereits vom nachbarschaftlichen Begegnen entfernt haben, über das Freundschaftliche der amourösen Möglichkeiten nähern, zurückschrecken, einen nächsten Versuch unternehmen, mag manchem in der ersten Lektüre zu langatmig im Annäherungsprozess verharren – bis der Blick auf die Zeitachse fällt: Ist der erste Eintrag auf den 5. Dezember 2002 datiert, endet das Buch mit einem Eintrag für den 30. November 2002. Dazwischen liegt die Zeit. – Und zwar nicht bloß das Jahr 2002, sondern alle Tage bis 2005 – da eine Trennung unausweichlich scheint, weil die jüngst erlebten Zurückweisungen verletzten und das Ich »bloß aus ihrem Leben dahin sein möchte!« (S. 290), doch ist mit der dritten Nacht »die Widerstandskraft jäh gebrochen« – und alles beginnt erneut:
»Morgen bei Frau Dr. K eingeladen, zum zweiten Mal seit dem 19. Juni. seltsame Vorfreude seit Tagen, und seit morgiges Wiedersehen feststeht, dann und wann einen kleinen Gruß an die Windschutzscheibe ihres Autos zu stecken. […] werde morgen im Umgang mit ihr freier, also unbefangener sein, nicht der einzige Gast!« (ZjT, S. 291)
Den Leser*innen das Poetische zeigen; jenes, das in der Welt um uns ist, aber auch jenes der Sprache an und für sich, das ist Julian Schuttings Verständis von Schreiben, welches vorzugsweise den eigenen Denkspuren folgt, sie in kleinen Szenen, eindringlichen Miniaturen aneinanderreiht – manchmal drückend düster, und kaum hat man dies gedacht, wendet man die Seite wandelt sich der Ton:
»träume von Randalierern im Stiegenhaus. gehe leise nachschauen, um dich nicht zu wecken. werde zusammengeschlagen, geknebelt. und während sie mich wegschleppen, um mich umzubringen: neben dir mich wähnend, werdest du arglos im Tiefschlaf liegen, wenn sie bei dir eindringen. und wirst du dann glauben, der Umgebrachte hätte sich feigflüchtig davongemacht? (spüre deine Hand in meinem Gesicht, höre dich fragen: sag, träumst du schlecht?)« (GT, S. 11)
Diese Art über sich selbst zu schreiben, weil einem das Erdenken von Figuren fremd ist, es einem sogar lächerlich erscheint, wie man in einem Hörfunk-Interview sagte, steht in auffallendem Gegensatz zum autobiografischen Schreiben anderer Zeitgenoss*innen, denn Schutting wahrt stets die Würde eines Dus.
Die sprachliche Komplexität seiner Prosa mag manchem sogleich auffallen; und ich hoffe (wider besseres Wissen über die Mehrheit zeitgenössischer Leser*innen), dass dennoch zahlreiche diese Sprachräume begehen, mögen sie ihnen auch auf den ersten Seiten noch ein wenig fremd, vielleicht unnahbar erscheinen, bevor sich ihr Ohr an den anderen Rhythmus der Sätze gewöhnt. Vielleicht sind für diese zaudernden Geister die »Übereinstimmungen« ein guter Einstieg:
»Dein kleiner Herr Pfarrer hat heute in seiner Predigt leidenschaftlich für die Pflege der lateinischen Messe plädiert: schließlich sei ja Latein die Sprache Jesu Christi gewesen!
Als Mensch gewordener Gottessohn hat Er sich doch wohl der Allwissenheit begeben, inklusive der Fähigkeit, im Geist des vom Geist Gottes erst nach Seinen Lebzeiten gewirkten Pfingstwunders zu sprechen in allen Zungen!« (Ü, S. 37)
Final bleibt mir – zu Schuttings Geburtstag – uns allen zu wünschen, dass zahllose Leser*innen der Humor Schuttings erreichen mag, der durchaus in allen denkbaren Nuancen changieren kann und auch mal sehr leise Töne anschlägt. Selbst vor Gedichten macht er nicht Halt – wozu auch? –, und so sei an dieser Stelle ein Abschnitt aus dem Gedichtband »Flugblätter« zitiert (Dieser enthält obendrein eines meiner Lieblingsgedichte – »Verlieren«). Nun aber:
»Leseprobe«
das Geheimnis des …,
das Geheimnis, warum …
und wie groß erst
das Geheimnis der Textstelle,
die du dem Augenarzt vorlesen sollst
[…].
(F, S. 50)
Quellen:
Schutting, Julian: Flugblätter. Salzburg: Otto Müller Verlag 1990. (F)
Schutting, Julian: Gezählte Tage. Salzburg: Residenz 2002. (GT)
Schutting, Julian: Steckenpferde. Wien: Rhombus Verlag 1977.
Schutting: Übereinstimmungen. Salzburg: Residenz 2006. (Ü)
Schutting, Julian: Winter im Anzug. Wien: Styria 1993.
Schutting, Julian: Zu jeder Tageszeit. Salzburg: Jung und Jung 2007. (ZjT)
Zeillinger, Gerhard: Julian Schutting: "Drei Stunden gehen, drei Stunden schreiben" .https://www.derstandard.at/story/2000138755100/julian-schutting-drei-stunden-gehen-drei-stunden-schreiben
Gasser, Edith-Ulla: Julian Schutting zum 80. Geburtstag. https://oe1.orf.at/artikel/638541/Julian-Schutting-zum-80-Geburtstag